Neues aus der Comicforschung

Matthias Harbeck, Linda-Rabea Heyden und Marie Schröer geben den Tagungsband „Comics an der Grenze“ heraus

Von Stefan TuczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Tuczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Christian A. Bachmann Verlag hat sich in den letzten Jahren besonders durch die Herausgabe von Forschungsliteratur zum Thema Comic hervorgetan. Die bisherigen Publikationen traten bis jetzt dadurch hervor, dass sie in ihrer Methodik oder in ihrem Forschungskorpus nicht dem jeweils Gängigen entsprachen, was besonders der jungen Disziplin der Comicforschung zugutekam. Auch der vorliegende Tagungsband Comics an der Grenze, herausgegeben von Matthias Harbeck, Linda-Rabea Heyden und Marie Schröer, ordnet sich in das bisherige Konzept des Verlags wunderbar ein.

Der Band enthält 18 Beiträge, die auf dem Kolloquium „Grenzen ziehen, Grenzen überschreiten – Drawing Boundaries, Crossing Borders“ vom 25. bis zum 28. September 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin vorgestellt wurden. Der Name des Kolloquiums und des Tagungsbandes legt die thematische Ausrichtung fest: In allen Beiträgen geht es um Grenzüberschreitungen. Wie diese Grenzen überschritten werden und vor allem, was diese Grenzen sein sollen, werden je nach fachlicher Ausrichtung der Beiträge festgelegt, denn der Band ist interdisziplinär ausgerichtet. Diese Ausrichtung bedingt, dass von ihr immer wieder neue Impulse ausgehen, die den Bedeutungshorizont der Grenzüberschreitungen sinnvoll erweitern und so neue Blickweisen ermöglichen. Dass man die Comicforschung nicht nur unter streng literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten betreibt, ist der große Vorteil der Aufsätze. Dennoch mutet es etwas seltsam an, wenn die Herausgeber im Vorwort schreiben, dass Grenzüberschreitungen in der Wissenschaft wieder aktuell seien. Wenn man nun doch den literaturwissenschaftlichen Blick auf die Comicforschung richtet, dann waren diese Grenzüberschreitungen nie wirklich verschwunden, sondern spätestens seit Juri M. Lotmans Die Struktur literarischer Texte ein fester Bestandteil des literaturwissenschaftlichen Forschungsapparates. Das ist aber weder den Beitragenden noch den Herausgebern wirklich anzulasten, die Comicforschung ist als Disziplin einfach noch zu jung, als das sie schon ein festes Repertoire an Forschungswerkzeugen besitzen würde. Umso wichtiger ist es, dass man mehre Blickwinkel und Forschungsfragen und -werkzeuge ausprobiert, damit die Comicforschung eigenständige Erzählmodelle und -werkzeuge ihr eigen nennen darf. Die Ausrichtung dieses Bandes ist auf jeden Fall ein erster großer und wichtiger Schritt hierfür.

Der Sammelband ist in fünf große Abteilungen aufgeteilt: In der ersten Abteilung „Geschichte – Politik – Geografie“ werden also geschichtliche, politische oder geographische Grenzüberschreitungen untersucht. So erforscht Michael F. Scholz in seinem Aufsatz die historische Situation, in der die US-Comics erstmals auf den deutschen Markt kamen und Angela Guttner beschäftigt sich mit der Frage, welche Funktionen die Grenzen in Comics haben, die den Israel-Palästina-Konflikt schwerpunktmäßig beleuchten. Im zweiten Teil des Bandes widmen sich die Aufsätze der „Intermedialität“ in Comics. Lukas R.A. Wilde geht der Frage nach, in welchem Verhältnis Comics und Piktogramme stehen, wenn Piktogramme in Comics die Sprache ersetzen. Die dritte Abteilung „Körper und Gender“ beschäftigt sich mit Sexualität und Geschlechterverhältnissen. Katharina Küstner untersucht in ihrem Aufsatz junge Comickünstler und deren Verhältnis zu Sexualität in ihren eigenen Fan-Comics. Dieser Aufsatz mag der einzige im gesamten Sammelband sein, der doch etwas kritischer betrachtet werden muss: Auch wenn ihr Küstners Aufsatztitel impliziert, dass sie mehre junge Künstler nach dem Problem der eigenen Sexualität in den selbsterstellten Fan-Produkten befragt hat, so steht doch nur ein Proband im Fokus der Betrachtungen. Das Problem des Aufsatzes ist weniger die Methodik, als vielmehr die Tatsache, dass Küstner bekannte Klischees rekapituliert und reproduziert: Sie geht davon aus, dass die japanischen Mangas stets Sexualität verhandeln und sich vor allem die jugendlichen Leser darüber identifizieren und durch eigene Comicvariationen (sogenannte Dōjinshis) nochmals die eigene Sexualität  reflektieren. Abgesehen davon, dass Shojo-Mangas, die sich vorrangig an junge Mädchen richten, weit weniger sexualisiert sind als die für Jungen ausgerichteten Shōnen-Mangas und vor allem Liebesgeschichten erzählen, berücksichtigt Küstner weder die Tradition von Mangas, deren Fan-Rezeption noch die verschiedenen Genres. Sie sieht in erster Linie in der Rezeption von Mangas eine Erscheinung von spezifischen Jugendgruppen und übersieht dabei vollkommen die literarische Tradition, die Mangas sehr wohl besitzen und die mittlerweile auch hier in Deutschland angekommen ist. Es ist daher bekannt, dass Mangas zwar sexualisiert sind, diese aber nur in einem bestimmten Teilbereich des Manga-Universums eine Rolle spielt. Auch in den Fan-Art-Produktionen gibt es zwar dieses Genre, in welchem bestimmte Figuren aus verschiedenen Serien sexuelle Kontakte eingehen, dies aber nur ein kleiner Bestanteil der Fan-Szene ist. Küstner geht ferner davon aus, dass neben Fan-Arts auch Cosplay eine Verhandlung mit der Sexualität darstellt, was aber sehr stark angezweifelt werden muss und die Cosplay-Szene mehr als nur prototypenhaft wiedergibt. Dem Aufsatz von Küstner fehlt es in erster Linie an Trennungsschärfe, da hier viel zu viele Phänomene nur unzureichend voneinander getrennt werden. Das darauffolgende Kapitel „Erinnerung – Traum – Realität“ beschäftigt sich eben mit diesen Überschreitungen von erzählter Realität und Traum, so wie es Merle Koch  in ihrem Aufsatz macht. Der letzte Schwerpunkt des Bandes ist „Ausstellungen und Workshops“, dieser fällt jedoch etwas aus dem Rahmen im Vergleich mit den anderen Themenschwerpunkten, da es hier weniger um Grenzüberschreitungen geht, sondern mehr um produktionsästhetische Fragestellungen. Dieser Themenschwerpunkt hat aber dennoch seine Existenzberechtigung, wenn man bedenkt, dass es sich ja eigentlich um eine Fachtagung der Comicforschung gehandelt hat und diese Phänomene am Rande mitbehandelt werden.

Die Aufsätze, bis auf die eine genannte Ausnahme, sind alle recht gut gelungen und schon deshalb einen Blick wert, weil sie sich nicht mit den gängigen KünstlerInnen beschäftigen, sondern auch Comiczeichner wie Miguelanxo Prado oder Charles Bums in den Fokus der Betrachtungen ziehen. Denn das ist schon auffällig: Auch wenn die Comicforschung eine recht junge Disziplin ist, hat sie sich dennoch einen Kanon gebildet. Die „üblichen Verdächtigen“ wie Art Spiegelman oder Alan Moore werden zugunsten anderer wichtiger Vertreter der Comicszene zurückgenommen, womit der Kanon noch einmal überdacht wird. Sehr erfreulich an dem Sammelband ist, dass jede Abteilung ein separates Vorwort erhalten hat, sodass der interessierte Leser sofort erfährt, was die folgenden Aufsätze mit dem großen Themenschwerpunkt der Grenzüberschreitung zu tun haben. Darüber hinaus hat jeder Aufsatz nochmals ein zweisprachiges Abstract erhalten, sodass man auch hier sofort über den Inhalt im Bilde ist.

Der sorgsam publizierte Sammelband Comics an der Grenze zeigt mal wieder, dass der Bachmann Verlag ein gutes Gespür für das Thema Comicforschung besitzt. Bleibt zu hoffen, dass dieser Sammelband nicht der letzte seiner Art im Verlagsprogramm bleiben wird.

Titelbild

Matthias Harbeck / Linda-Rabea Heyden / Marie Schröer (Hg.): Comics an der Grenze. Sub/Versionen von Form und Inhalt.
9. Wissenschaftstagung der Gesellschaft für Comicforschug.
Christian A. Bachmann Verlag, Berlin 2017.
348 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783941030688

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