Julia Amslinger über die Anfänge von „Poetik und Hermeneutik“

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die in den frühen 60er Jahren gegründete Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ hat maßgeblichen Anteil an der intellectual history der Bundesrepublik. Das vorliegende Buch ist die erste wissenschaftsgeschichtliche Monographie zu dieser bemerkenswerten ‚Akademie‘.

Hans Robert Jauß, Hans Blumenberg und Clemens Heselhaus – allesamt ordentliche Professoren für Romanistik, Philosophie und Germanistik in Gießen – luden im Sommer 1963, achtzehn Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur einen Kreis von zwanzig Personen zu einem Kolloquium der besonderen Art an ihre Universität: dem ersten Treffen der Gruppe „Poetik und Hermeneutik“.

Das vorliegende Buch beschreibt entlang der Nachlässe von Hans Blumenberg, Hans Robert Jauß und anderer Teilnehmer die Anfangsphase der Forschungsgruppe. Der Traum einer forschenden Gemeinschaft wurde unter Ausschöpfung intellektueller, finanzieller, theoretischer, bürokratischer und medientechnischer Mittel in die Tat umgesetzt und gestaltete sich dann in der Realität gänzlich anders als geplant.

So ist das vorliegende Buch die Chronik eines bestimmten Beginns, mit dem auf vielen unterschiedlichen Ebenen große Hoffnungen auf eine Neuausrichtung der Geisteswissenschaften in der frühen Bundesrepublik verknüpft waren. Es ist eine sehr spezielle Geschichte der sechziger Jahre, die ihren Fokus nicht auf das ereignisreiche Jahr 1968 legt, sondern das Jahrzehnt von einem randständigen Beobachtungspunkt erfasst. Trotzdem ist auch diese Geschichte voll von dem, was sich ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben hat: Aufbrüche der verschiedensten Art durchziehen das Dezennium, und Ikonen der Kalten-Kriegs-Kultur wie der VW Käfer, Tonbandgeräte und bemannte Raketen sind diesem Bericht als Requisiten zur Seite gestellt. Hier jedoch schaffen klappernde Schreibmaschinen, monotone Sprachaufzeichnungen auf Diktatkassetten, das Klingeln des Postboten und das erhitzte Gespräch einen akustischen Rahmen, der nicht auf den Begriff der libertären oder sogar revolutionären Swinging Sixties zu bringen ist. Die zunehmende Modernisierung und die damit einhergehende Bürokratisierung der Gelehrtenwelt klingen leiser, mithin gewöhnlicher als die Protestkultur.

Das Buch macht keine Geheimgeschichte explizit, nimmt aber eine intellektuelle Konstellation in den Blick, die das Wort ‚Öffentlichkeit‘ nur im Sinne ihrer papierenen Veröffentlichungen verstand. Es ist eine Geschichte von Freundschaft und Komplizenschaft, von deutschen Universitäten, ihren Ordinarien und Forschungsverbünden: eine Geschichte der Anfangszeit der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeitern der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universitäten Marburg, Mainz oder Duisburg-Essen. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Julia Amslinger: Eine neue Form von Akademie. „Poetik und Hermeneutik“ – die Anfänge.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2017.
386 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770553846

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