Schaurig-spannendes Mittelmaß

Carlos Ruiz Zafón beschließt mit seinem Roman „Das Labyrinth der Lichter“ seine vierbändige Romanreihe „Der Friedhof der vergessenen Bücher“

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein wenig ergeht es dem spanischen Erfolgsschriftsteller Carlos Ruiz Zafón, dessen Romane in Spanien und im europäischen Ausland – vor allem aber in Deutschland – regelmäßig auf den vorderen Plätzen der Bestsellerlisten rangieren, wie es seinem etwas mehr als zehn Jahre älteren Kollegen Javier Marías ergangen ist: Wurden die in den 1990er-Jahren in deutscher Übersetzung erschienenen Romane Mein Herz so weiß (1996) und Morgen in der Schlacht denk an mich (1998) sowohl vom Publikum als auch von den (meisten) Rezensenten als Meisterwerke der zeitgenössischen spanischen Belletristik, als intellektuell anspruchsvolle und erzählerisch brillante Romane gefeiert, so fällten die deutschen Feuilletons über die um und nach der Jahrtausendwende publizierten Texte meist vernichtende Urteile. Vielen, auch vielen seiner treuesten Anhänger, waren die neuen Romane – berechtigterweise – zu selbstverliebt und demonstrativ hermetisch. Aufgrund der Handlungsarmut und blassen Sprache sowie der zahlreichen Selbstzitate und Querverweise wirkten die Texte narratologisch monoton und ermüdend und trugen schließlich einen intellektuellen, philosophischen Anspruch vor sich her, der ganz offensichtlich auf die Erwartungshaltung einer eingeschworenen Leser-Gemeinde ausgerichtet war – die sich aber nicht mehr zusammenfand. An die erzählerische Präzision und das Reflexionsniveau der vorangegangenen Werke konnte Marías mit seiner Roman-Trilogie Dein Gesicht morgen (dt. 2002–2007) nicht mehr anknüpfen.

Natürlich, das sei gleich vorab eingeräumt, handelt es sich bei Ruiz Zafón um ein ganz anderes schriftstellerisches Kaliber als Marías. Daher sind auch die Einwände gegen Ruiz Zafóns Romanreihe, wie sie seit dem Erscheinen des zweiten Bandes Das Spiel des Engels (2008) erhoben wurden, ganz anders geartet, wenn auch die übertriebene, keineswegs kaschierte werkbiografische Selbstbezüglichkeit der beiden Autoren ein gewisses Vergleichsmoment darstellt. Von anbiedernder, auf Massentauglichkeit ausgerichteter Geschichtstrivialisierung und effekthascherischer Schauerromantik mit pseudo-intellektuellem Anstrich war bei Ruiz Zafón die Rede. Mancher Leser und Rezensent fragt sich wohl spätestens nach der Lektüre des nun in deutscher Übersetzung erschienenen vierten Bandes mit dem Titel Das Labyrinth der Lichter, ob seine Erinnerung an eine berauschende Lektüre wohl täuschen und er nicht vielmehr in Der Schatten des Windes rückblickend schon die Anzeichen und Vorzeichen eines kommerziellen, literarisch minderwertigen Machwerkes erkannt haben mag. Auffällig ist, dass viele Besprechungen des vierten Bandes sich zurückhalten, etwas über die Leseerfahrung des ersten Bandes mitzuteilen. Das Bekenntnis, zu denen zu gehören, die gerne an die Lektüre von Der Schatten des Windes zurückdenken, hindert allerdings nicht daran, den letzten Band der Reihe durchaus kritisch zu beurteilen und seine Schwachstellen zu benennen.

Zunächst einmal bedient sich Ruiz Zafón in seinem neuen Roman ganz anderer genretypischer Motive und Techniken des Thrillers, des Krimis und der Schauerliteratur, die leider nicht immer glücklich und überzeugend angewendet werden. War Der Schatten des Windes noch mehr dem zeitkritischen Geschichts-und Gegenwartsroman auf der Grundlage eines Familiengemäldes rund um die Barceloner Buchhändler-Familie Sempere verpflichtet, dessen Handlungsstränge hauptsächlich von der Franco-Zeit und geheimnisvollen vergessenen, seltenen oder verbotenen Büchern geprägt waren, so driftet der vorliegende Roman schon nach wenigen Seiten ins Thrillerhafte ab. Er mutiert (bewusst) zum Spionage-, Schauer- und Mystery-Schinken und versucht, durch Rückblicke, Zeitsprünge und (kleinere) Cliffhanger ein äußerstes Maß an Spannung zu erzeugen. Dass dabei historischer Gehalt und Reflexionspotenzial abhanden gehen können, liegt in der Natur der Sache und ist offensichtlich. Die Frage ist nur, ob man diesen letzten Band der Reihe mit dem ersten vergleichen und überhaupt mit einer überzogenen Erwartungshaltung beurteilen muss, die zwangsläufig enttäuscht wird.

Trotz des voluminösen Umfangs von fast 1.000 Seiten und den zahlreichen Figuren, die hier auftreten und ganz unterschiedlich perspektiviert werden, verliert der Leser eigentlich nie den Überblick, was allerdings an einem etwas faulen Trick des Autors liegt. Man muss auch keinen der vorangegangenen Romane gelesen haben, um die Handlung zu verstehen. Die Figuren der früheren Texte, die wie die Familie Sempere, Fermín Romero de Torres oder David Martin im letzten Band wieder auftauchen, werden für den Leser schlüssig vorgestellt und in ihrer Bedeutung für die Handlung erkennbar. Diese beschränkt sich im Wesentlichen auf die neue Protagonistin Alicia Gris, die von ihrem dämonisch geschilderten Mentor, Auftraggeber und Geheimdienstchef Leandro Montalvo im Winter 1959 mit einem letzten Fall betraut wird und danach in die ‚Freiheit‘ entlassen werden soll: Zusammen mit dem altgedienten Polizisten Vargas soll sie das Verschwinden von Francos Bildungsminister Don Mauricio Valls aufklären. Den Verstrickungen des Ministers in die Geschichte der Sempere-Familie und ihrer Freunde in Barcelona, wohin es Alicia während der Ermittlungen verschlägt, folgt man im ersten Drittel des Buches noch mit angeregter Neugierde und Spannung, bis man erkennt, dass hier von der Sprache bis zum eigentlich missratenen Plot alles zu glatt und einstudiert ist, die Charaktere und Motive zu schablonenhaft und abgekupfert sind. So grau und einfallslos wie der sprechende Name der Protagonistin, Gris, ist eben auch bisweilen die Handlungsstruktur. Tatsächlich nämlich behält der Leser über die weit verzweigten Verbindungen und angedeuteten historischen Zusammenhänge der Romanfiguren nur deshalb den Überblick, weil der Autor offensichtlich noch vor der Mitte des Romans nicht mehr so recht wusste, wie er die aufgenommenen Fäden wieder zusammenführen sollte und daher aus der Klamottenkiste der Kriminalliteratur auf das einfachste aller Mittel zurückgegriffen hat: Ruiz Zafón lässt seine geheimen Ermittler die minutiösen Aufzeichnungen der Vorgänge eines selbst in die Geschichte verstrickten Anwalts finden.

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte wird noch davor das Manuskript des Kinderbuches Ariadna und er Scharlachprinz des fiktiven Autors Víktor Mataix, das Alicia Gris in der Bibliothek des verschwundenen Ministers findet. Bei der titelgebenden Ariadna handelt es sich, wie sich später herausstellt, um eine der Töchter des Schriftstellers, die zusammen mit ihrer Schwester Sonia den Eltern weggenommen wurden, was wiederum die Verbindung zum Minister Valls darstellt. Der Name des Buches und der Tochter ist aber auch der Name der kretischen Königstocher, die nach der griechischen Mythologie Theseus mit ihrer Faden-Idee aus dem von ihrem Vater Minos erbauten Labyrinth heraushalf. Der Autor Mataix, der im Übrigen auch eine achtbändige Romanreihe mit dem Titel Das Labyrinth der Lichter verfasst haben soll, und sein Werk führen – wie Ariadna den Theseus – Alicia aus einem labyrinthisch erscheinenden Netz aus Allianzen, Feindschaften, Verbrechen und Verstrickungen der im Roman auftretenden oder auch nur genannten Personen, die immer wieder die Zeit des Bürgerkrieges mit der Zeit der Franco-Diktatur verbinden. Nur selten aber verweisen die vom Thrillerhaften und Mysteriösen dominierten Handlungsstränge und Figuren auf eine historisch-reflexive und allgemeingültige Metaebene, die über die Individualgeschichten der Protagonisten hinausgeht. Den Anspruch, ein kritisches und reflektiertes spanisches Geschichts- und Gegenwartspanorama zu entwerfen wie in den Romanen des viel zu früh verstorbenen Rafael Chirbes oder Antonio Muñoz Molina, kann man Ruiz Zafón aber beileibe nicht unterstellen.

Zwar vermeidet es Ruiz Zafón, literarischen Geschichtsrevanchismus zu betreiben und zeichnet die Hauptfiguren Leandro Montalvo, vor allem aber Alicia Gris durchaus ambivalent, insofern letztere unter dubiosen Vorzeichen und in geheimer Mission für das Franco-Regime arbeitet, gleichzeitig aber auch oft genug mit subversivem Gehabe gegenüber der staatlichen Autorität auftritt. Auch die Verbindungen der Figuren untereinander, ihre zerbrochenen Freundschaften und ideologischen Wendungen werden durchaus zeitlich plausibel so rekapituliert, dass ihr Ursprung in Zeiten des Bürgerkriegs deutlich wird, in denen noch keiner der gegnerischen Fraktionen von Republikanern und Frankisten wissen konnte, wer nun am Ende als Sieger dastehen würde. Doch werden am Schluss die richtig ‚Bösen‘, die Geheimdienstoberen, eiskalten Geheimpolizisten, angeheuerten Killer und Minister des Franco-Regimes – so viel kann verraten werden – bestraft von einer als Rache-Engel auftretenden Alicia. Bei all ihren Ermittlungen ist der Himmel über Barcelona allzu oft ein „bleierner tränender Himmel“, der überdeutlich die Schwere der Franco-Diktatur symbolisieren soll.

Die wie literarische Wiedergänger wirkenden Charaktere wie Alicia Gris, die mit ihren autistischen Zügen des Außenseiter-Genies überdeutlich an die unkonventionelle Ermittlerin Lisbeth Salander aus Stieg Larssons Millenium-Trilogie gemahnt, und die geheimnisvoll und bedeutungsschwanger aufgeblähten Motive der vergessenen und verbotenen Bücher à la Der Name der Rose sowie die bemühte Mystifizierung der geheimnisvollen Parallelstadt eines Bücher-Barcelona könnten den Roman zu einem wirklichen Ärgernis machen. Auch die völlig ins Leere laufende Selbstreflexivität des Textes, der selbst als Werk des fiktiven Mataix auftaucht, oder die völlig unschlüssigen Kapitelüberschriften, die Titel lateinischer geistlicher Hymnen beziehungsweise der Messliturgie zitiert, protzen mit einem Andeutungsgehabe, das bei Weitem nicht umgesetzt oder eingelöst wird.

Es scheint, als habe sich Ruiz Zafón aller erdenklichen Mittel, Motive und Techniken bedient, die den Abschluss seiner Romanreihe auch einen kommerziellen Erfolg garantieren würden. Vom Text-Bild-Verfahren und dem Abdruck historischer Barcelona-Fotografien im Text über Thriller- und Krimi-Elemente bis hin zur teilweise angestrengt poetisierenden Sprache, fährt der Autor alles auf, was Kritik geradezu provozieren muss. Anderen Texten, die mit ähnlichen Verfahren arbeiten, wurde dafür aber auch schon das Prädikat des Postmodernen verliehen. Soweit muss man hier aber gar nicht gehen. Es würde genügen, Ruiz Zafóns Roman nicht einem Anspruch zu unterstellen, der vielleicht mehr mit dem Bildungs- und Erwartungshorizont mancher Rezensenten als mit seiner Absicht selbst zu tun hat. Da man den Text, wenn man die genannten Strukturen und Schwächen durschaut hat, eigentlich ganz gut und vor allem schnell als zwar nicht hervorragend gemachten, aber eben doch spannend geschriebenen Unterhaltungsroman lesen kann, sollte man sein Niveau und seinen vermeintlichen Anspruch nicht künstlich in die Höhe treiben, um sich danach über die fehlende Literarizität zu beschweren.

Titelbild

Carlos Ruiz Zafón: Das Labyrinth der Lichter. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Schwaar.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
942 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783100022837

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