Kniefall gen Macca

Philip Norman würdigt auf gut 1.000 Seiten Leben und Werk des erfolgreichsten Beatles

Von Wieland SchwanebeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wieland Schwanebeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Vanilla Sky (2001), einem Film des ehemaligen Musikjournalisten Cameron Crowe, erklärt ein bequem gewordener, in Ehren ergrauter Vertreter des Mittelstands, in seiner Jugend sei John Lennon sein Lieblings-Beatle gewesen, mittlerweile bevorzuge er aber McCartney. Die lakonische Entgegnung seines Patienten, er sei eigentlich schon immer eher für George gewesen, ist ein hübsches Touché (im Sinne von: Schau her, wie originell und unangepasst ich erst bin!), aber sie bekräftigt nur umso mehr, wie sehr Paul McCartney im Unterschied zu seinen Band-Genossen als die ,bequemste‘ und langweiligste Option gilt – der Beatle für alldiejenigen, die ihre Musik am liebsten melodiös-einlullend und diskret im Hintergrund hören, ohne dass mit ihnen (im Geist des Weißen Albums) noch irgendwie „revo-luhschn“ zu machen wäre.

Paul McCartney mag es gewohnt sein, derlei pauschale Aburteilungen seiner mehr als ein halbes Jahrhundert, 24 Solo-Alben und zahllose Nummer-1-Hits einschließenden Karriere, in deren Verlauf ihm nicht nur mehr als ein Dutzend Grammys, sondern auch der Oscar sowie die Ehrenmitgliedschaft in der Rock’n’Roll Hall of Fame verliehen wurden, wegzulächeln – er besaß auch Selbstironie genug, den Titelsong für oben genannten Film beizusteuern, in dem er verbal derart abgewatscht wird. Das Stigma des oberflächlichen Schnulzenheinis mit dem Fleischlos-Fimmel ist dennoch an ihm haften geblieben. Mindestens zwei scheinbar widersprüchliche Annahmen über seine schwer zu fassende Persönlichkeit stehen sich da unversöhnlich gegenüber: Einerseits der ihm nachgesagte Impuls, es allen recht machen zu wollen und daher wirklich jedem musikalischen Trend hinterherzuhecheln (weswegen McCartney in der Post-Beatles-Ära die ein oder andere musikalische Leiche im Keller angehäuft hat: mal trägt sie Glam-Rock-Fummel, mal Disco-Gewand, mal eine folkloristische Kutte), andererseits sein trotziges „Ihr könnt mich mal!“, das ihn gegen alle gutgemeinten Ratschläge das Ende der Beatles heraufbeschwören, fragwürdige Filmprojekte in die Tat umsetzen und schließlich eine C-Prominente mit dubioser Vergangenheit heiraten ließ. Gerade letzteres sei, wie Philip Norman an einer Stelle seiner fast 1.000 Seiten umfassenden McCartney-Biografie anmerkt, auch „kaum verwunderlich bei einem Mann, der auf dem Höhepunkt der Punkrevolution entgegen allen Empfehlungen [die Dudelsack-Ballade] ,Mull of Kintyre‘ veröffentlicht und einen Megahit damit gelandet hatte“.

Norman annonciert sein biografisches Opus Magnum ausdrücklich als ein Werk persönlicher Abbitte, hat der Autor doch nicht nur in seinen journalistischen Sturm-und-Drang-Jahren ein gegen McCartney gerichtetes Schmähgedicht veröffentlicht, sondern bereits in seinen beiden vorherigen biografischen Annäherungen an die Beatles (Shout!, 1981, sowie John Lennon: The Life, 2008) dem allseits bekannten Mythos das Wort geredet, McCartney sei zwar der produktivste Vielschreiber unter den Beatles gewesen, aber eben auch nicht mehr als ein von Backfischen angehimmelter, allgemein überschätzter Schmalspurtexter und aalglatter Geschäftsmann, der ohne die Experimentierfreude und den Tiefgang seines Ko-Autors Lennon niemals mehr an das musikalische und textliche Niveau seiner Beatles-Zeit habe anschließen können. Seinem persönlichen Auftrag, mit McCartney nun doch noch seinen Frieden schließen zu wollen, verdankt sich das imposante Buch, das mit Sicherheit auf Jahre hinweg das Standardwerk zu McCartney bleiben dürfte. Dazu trägt auch bei, dass Norman zwar ohne ausdrücklichen Auftrag des Ex-Beatles, aber immerhin mit dessen stiller Duldung arbeiten durfte, was ihm bei langjährigen Mitarbeitern und Ex-Freundinnen McCartneys Tür und Tor öffnete. Seine Interviewpartner wissen McCartneys Leben und Werk zu würdigen, aber sie halten auch nicht mit Kritik hinterm Berg. So entsteht ein insgesamt ausgewogenes Porträt, das zwar nichts umwerfend Neues ans Tageslicht befördert, aber immerhin den einen oder anderen Beatles-Mythos revidiert. Äußerst lebendig gelingen dem Autor die Schilderungen der frühesten Band-Jahre; besonders die Wochenend-Konzerte und Tournee-Eskapaden der noch nicht einmal volljährigen „Quarrymen“ und „Silver Beatles“ dürften wohl noch nirgends derart detailliert und anschaulich nachzulesen gewesen sein. Gleiches gilt für die Rolle musikalischer Weggefährten oder die privaten und geschäftlichen Verbandelungen McCartneys mit der in Großbritannien sehr prominenten Familie Asher, in die er beinahe eingeheiratet hätte.

Auch hinsichtlich Aufbau und Schwerpunktsetzung versucht das Buch eigene Wege zu gehen. Strukturiert sind die fünf Hauptteile nicht um die erwartbaren Zäsuren wie den Zusammenschluss und das Ende der beiden jeweils gut ein Jahrzehnt währenden Bandprojekte McCartneys (der Beatles und der Wings), sondern entlang biografischer Zäsuren wie dem Zusammenkommen mit Ehefrau Linda, der Ermordung John Lennons sowie Lindas Krebstod im Jahr 1998. Norman präsentiert McCartney einerseits als fabelhaft begabten Liedermacher, dem die Ohrwürmer regelrecht im Schlaf zufallen (so geschehen im Fall von „Yesterday“), aber zugleich als einen unermüdlich arbeitenden Musikliebhaber ohne Berührungsängste vor musikalischen Genres, der zwar seit den 1990er-Jahren für seine einfältigen Crossover-Werke im „Pop goes Klassik“-Segment von der Fachpresse eher belächelt wurde, zugleich aber derjenige war, der den Beatles musikalisch die Türen jenseits von „Yeah, yeah, yeah!“ aufstieß, sie an Free Jazz und John Cage heranführte und erst mit dem Weißen Album 1968, als die Beatles unter dem Eindruck von John Lennons immer surrealer anmutenden Klangcollagen aus den Charts zu taumeln drohten, allmählich als der Reaktionär in der Gruppe gebrandmarkt wurde.

Mit seiner von zahlreichen Mitspielern, Roadies und Jugendfreunden authentifizierten Darstellung gelangt Norman zu einer frischen Perspektive auf die Gruppendynamik der erfolgreichsten Band aller Zeiten, ohne dabei irgendwie die Lebensleistung von McCartneys Mitspielern zu schmälern. Die vom Autor zitierte Einschätzung Tony Sheridans, McCartney hätte es zweifellos auch ohne Lennon zum Weltruhm geschafft, „aber John niemals ohne Paul“, ist auf den ersten Blick ein wenig provokant, aber nirgends erweckt der Verfasser den Eindruck, er wolle auf Gedeih und Verderb das Kräfteverhältnis in Richtung McCartney verschieben. Gewürdigt werden auch die anderen – war sich Albert Goldman etwa in seinem galligen Buch John Lennon: Ein Leben (1988) noch sicher, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967) sei „von Anfang an seine [McCartneys] Platte“ gewesen, vergisst Norman nicht, auch John Lennons avantgardistische Impulse und George Harrisons Indien-Einsprengsel als wichtige Beiträge zu diesem Meisterwerk zu würdigen. Sein Narrativ ist eines der Versöhnung, entsprechend berührend lesen sich auch die Passagen rund um McCartneys angespanntes Verhältnis zu John Lennon, das kurz vor dem Tod des letzteren – und jenseits des Drucks, miteinander ums Rampenlicht und die Aufteilung von Tantiemen streiten zu müssen – wieder ein wenig von der Unbeschwertheit ihrer Liverpooler Jugend gewann. Erhellend, wenn auch nicht gerade von Neuigkeitswert sind auch Normans Ausführungen zum immer wieder aufquellenden Streit um die korrekte Reihenfolge in der Lennon/McCartney-Autorenzeile – alle Versuche McCartneys, diese zumindest für die von ihm allein verfassten Songs umzukehren, mit denen er heute immer noch auf Tournee geht, wurden ihm stets als Egomanie ausgelegt.

Man liest solche exakten Darstellungen großer musikgeschichtlicher Ereignisse mit Gewinn, zumal sie zu den wenigen Passagen im Buch zählen, in denen Norman (der auch umfangreiche Publikationen zu Elton John oder den Rolling Stones vorgelegt hat) musikalische Expertise beweist – in den Kapiteln zu McCartneys Solo-Schaffen verliert sich diese zusehends. Mag sein, dass nicht jedes McCartney-Album aus der Zeit nach 1980 (nachdem sich McCartney auch seiner weit weniger demokratisch geführten Band Wings entledigt hatte) ein Meilenstein ist, aber man wird dem Komponisten McCartney kaum gerecht, wenn man Platten wie Tug of War (1982) oder Chaos and Creation in the Backyard (2005) lediglich en passant in wenigen Zeilen abhandelt oder sie allenfalls kurz auf den autobiografischen Gehalt ihrer Texte abklopft (und dann prompt Lieder miteinander verwechselt, etwa „Heather“ und „Your Loving Flame“). McCartney ließ sich gerade in seinen Solojahren immer wieder zu musikalischen Fehltritten hinreißen, als er um Anschluss an den Zeitgeist bemüht war, trat aber immer wieder auch den Beweis an, dass er das Liederschreiben nicht verlernt hatte: „Put It There“, „Winedark Open Sea“, „Heaven on a Sunday“ oder „Riding to Vanity Fair“, die Belege sind zahllos, aber Norman interessiert sich nicht für sie. In dieser Hinsicht unterscheidet sich sein Buch auch nicht allzu sehr von Howard Sounes Paul McCartney: Ein Porträt (2010), das Norman in seiner vollmundig formulierten Einleitung glatt nivelliert. Ihm zufolge existiert bis dato keine Biografie, die auch McCartneys Schaffen jenseits der Beatles-Ära würdige, als aus dem „Paul“ der „Macca“ wurde – eine glatte Lüge, entfallen doch auch bei Sounes rund 50 Prozent des immerhin fast 800 Seiten umfassenden Texts auf die Zeit nach der Auflösung der Fab Four. Wie Sounes schließt auch Norman mit einer ambivalenten Schilderung eines aktuellen McCartney-Konzerts (es bleibt das Geheimnis des Autors, warum er so viel Wert auf die Feststellung legt, sechs Lieder vor dem Ende des Nostalgie-Fests die Halle verlassen zu haben), aber immerhin lässt er sich, anders als Sounes, niemals auf die reine Gift-und-Galle-Rhetorik der Revolverblätter herab, um den erfolgreichsten Liedermacher des 20. Jahrhunderts als kleinen Egozentriker zu entlarven, der nie alles aus seinem Talent herausgeholt habe und nur stur jedem Trend hinterhergelaufen sei.

Wie bei Sounes geraten allerdings auch bei Norman auf der Zielgeraden ein wenig die Proportionen aus dem Blickfeld, lassen sich beide Autoren doch von der öffentlich ausgetragenen Schlammschlacht zwischen McCartney und seiner zweiten Ehefrau Heather Mills aufs Glatteis des Schlüsselloch-Journalismus führen. Hier wie da werden McCartneys amourösem und kostspieligen Fehltritt rund 100 Seiten eingeräumt und ausführlich die längst publik gemachten Gerichtsprotokolle zitiert – der gesamte Scheidungsprozess nimmt sage und schreibe 40 Seiten ein.

Dass das Buch trotz derlei Unausgewogenheiten lesenswert ist, verdankt sich nicht nur der hervorragenden Übersetzung von Conny Lösch, die Normans Sound gut trifft und auch für seine im Deutschen nicht leicht wiederzugebende Methode, immer wieder Stellen aus McCartney-Liedtexten in seine Prosa einzuflechten, durchweg elegante Lösungen findet, sondern auch Normans Auge für skurrile Details, beispielsweise wenn er Zeitzeugen zu Wort kommen lässt. McCartneys Ex-Freundin Iris Caldwell erinnert sich, der Beatles-Bassist habe sich mit Vorliebe von ihrer Mutter seine üppig behaarten Beine kämmen lassen; und wem Howard Sounesʼ Schilderung, wie McCartney während seines neuntägigen Gefängnisaufenthalts in Japan 1980 mittags immer eine Schale Reis zu essen bekam, noch nicht detailliert genug war, der kann jetzt den gesamten Speiseplan nachlesen. Die nächste McCartney-Biografie, die unweigerlich irgendwann folgen wird, wird da schon die Farbe des Geschirrs oder Details zur Gewürzmischung recherchieren müssen, um noch etwas rauszuholen.

Titelbild

Philip Norman: Paul McCartney.
Mit 57 Abbildungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Conny Lösch.
Piper Verlag, München 2017.
973 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783492058254

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