Wie viel Leben passt in einen Lastwagen?

Carlos Peter Reinelts Debüt „Willkommen und Abschied“ erzählt von Flucht aus einer ungewohnten Perspektive

Von Pauline ReisRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pauline Reis

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man muss Goethe nicht kennen, um Reinelt zu verstehen – aber der Titel, den der junge Österreicher für sein Debüt gewählt hat, spielt latent auf ein gleichnamiges Gedicht des deutschen Dichters an. Johann Wolfgang von Goethe schildert darin den Ritt eines Jünglings zu seiner Geliebten, das nächtlich-euphorische Treffen mit ihr, sowie den schmerzhaften Abschied der beiden Liebenden. Auch bei Reinelt gibt es ein Liebespaar – Soraya und Al-Amad –, das jedoch durch die Ermordung des Mannes getrennt wird. Die Stimmungen verändern sich im Verlauf von Reinelts Text ähnlich wie in Goethes Gedicht; der Abschiedsschmerz verbindet die beiden Werke. Doch Reinelt schafft darüber hinaus einen wirkungsvollen Kontrast: Statt zu Pferd sind seine Flüchtlinge in einem Lastwagen unterwegs, statt der Geliebten umfängt sie Ungewissheit, und Abschied haben sie längst genommen: von Freunden und Familie – von ihrem alten Leben.

Das Thema Flucht ist in den vergangenen Jahren allgegenwärtig geworden, überall begegnen einem Diskussionen diesbezüglich: in den Medien, der Politik, in Schulen, Universitäten oder am Stammtisch kleiner Kneipen. Doch die Flüchtlingsthematik hat schon vor Jahren Einzug in die Literatur gefunden. Oftmals leihen Autoren, die Flucht selbst erlebt haben, ihre Stimmen Flüchtlingsfiguren. Die Autorin Shumona Sinha wurde 1973 in Kalkutta geboren und lebt seit 2001 in Paris. Ihr Roman Erschlagt die Armen! (Assommons les pauvres!) erschien 2011 in Deutschland. Der Plot erregte in Frankreich so großes Aufsehen, dass die Autorin ihren Dolmetscherjob bei der französischen Asylbehörde verlor: Eine junge, dunkelhäutige Frau – Migrantin aus Indien und Behördenkritikerin – verletzt einen Migranten in der Metro mit einer Weinflasche am Kopf, wofür sie sich bei der Polizei rechtfertigen muss.

Auch Abbas Khider ist ein Autor, der sein Heimatland verlassen hat. Er wurde 1973 in Bagdad geboren und als junger Mann aufgrund von regimekritischen Aktivitäten vom Saddam-Regime verhaftet; 1996 floh er aus dem Irak. 2016 erschien sein Roman Ohrfeige. Der Autor beschreibt in der Rahmenhandlung den irakischen Flüchtling und Protagonisten bei seinem Freund auf dem Sofa sitzend und rauchend. In seinem Tagtraum, der Binnengeschichte, führt er ein angeregtes ‚Gespräch‘ mit der geknebelten und gefesselten Sozialarbeiterin Frau Schulz, die die gesamte deutsche Bürokratie verkörpert. In die ‚Unterhaltung‘ verwoben ist die chronologische Schilderung seiner Ankunft und seines Lebens in Deutschland, sowie seiner  Vergangenheit in und seiner Flucht aus seiner Heimat.

Während das Thema also bereits mehrfach von Autoren mit Flucht-Hintergrund aufgegriffen wurde, schreibt Reinelt hier als Nicht-Flüchtling aus der Perspektive eines Geflüchteten. Carlos Peter Reinelt wurde 1994 in Lustenau (Vorarlberg) geboren; seine Mutter ist Kolumbianerin, sein Vater aus Tirol. Sein Protagonist ist ein junger Syrer, der mit etwa 60 anderen Menschen in einen LKW gepfercht ist; Ziel: Österreich, auch wenn Schweden besser wäre „wegen der Politik und so“. Unter den Flüchtlingen befindet sich ein Kind, das „sicher schon seit 2 Stunden“ schreit, eine Alte, die lautstark ihren „Klagegesang“ vorträgt, und ein Iraker, der sich „sicher schon drei Mal in die Hose geschissen“ hat. Die Fahrt ist von Lärm und Gestank geprägt, dazu kommen Hitze, Durst und das Bedürfnis, sich zu erleichtern. Nur wo? Die Menschen stehen dicht gedrängt, Luft ist Mangelware, einer hyperventiliert, Panik bricht aus. Wohin soll man gehen, wenn nirgendwo Platz ist? Wenn man nicht einmal durchkommt, um dem Hyperventilierenden zu helfen? Wohin?

Als Leser muss man bei 24 Seiten nicht lange warten, bis erkennbar wird, dass es keinen Ort der physischen Erleichterung geben wird – genauso wenig einen metaphysischen. Reinelt erzeugt eine beklemmende Atmosphäre, was ihm unter anderem durch die Perspektive des Ich-Erzählers gelingt: Der Leser ist hautnah dabei; riecht, schmeckt und fühlt förmlich mit. Die Gefühls- und Gedankenwelt des Syrers wird dem Leser zudem durch die Änderung des Schriftbildes näher gebracht: Bei Wut oder Entsetzen vergrößert sich die Schrift oder sie wird – als der Protagonist einzuschlafen droht – so klein, dass sie beinahe unleserlich wird.

Die ungewöhnliche Rahmung des Textfeldes verstärkt die klaustrophobische Wirkung zusätzlich: Die Zeilen sind – den Flüchtlingen gleich –  in einen Kasten gepresst. Interessant ist, dass der Textkasten an die Ladefläche eines Transporters erinnert. Er wird auf jeder Seite von dem Titel Willkommen und Abschied (von Goethes Gedicht) in altdeutschen Lettern umrandet. Dadurch entsteht der Eindruck, weder die Buchstaben noch die Menschen im LKW hätten einen Ausweg. Hinzu kommt, dass sich das Textfeld im Verlauf des kurzen, eindringlichen Textes  zunehmend verdunkelt: ist es zu Beginn noch weiß – und die Buchstaben gut leserlich – dominieren später verschiedene Grauschattierungen, bis es am Ende komplett schwarz ist.

Sieht so der Tod aus? Bedeutet das schwarze Feld, dass es kein Jenseits gibt? Macht sich an dieser Stelle Reinelts Philosophie- und Psychologiestudium bemerkbar? Oder ist es nur Reinelts Art, mit dem aktuellen Tagesgeschehen umzugehen? Letzteres liegt nahe, wenn man das Ereignis im Kopf hat, das dem jungen Autor als Inspiration für sein Werk gedient hat: die Schlagzeile 2015, dass 71 Menschen in einem Lastwagen in Parndorf (Österreich) erstickt sind.

Zunächst merkt man dem Schreibstil den Schrecken der Thematik nicht an. Im Gegenteil, der junge Österreicher legt dem Syrer oft statt melancholisch angehauchten Worten derbe Flüche in den Mund: „Ich halt´s nicht mehr aus. Aber noch viel schlimmer wie das Kind ist die Alte. Ihren Klagegesang erträgt doch kein Mensch. Würd ich ein bisschen näher bei ihr stehen, ich schwör, ich würd ihr eine reinhauen.“ Generell schreibt der Autor überwiegend umgangssprachlich – teilweise sogar vulgär – und scheint eine Vorliebe für das Wort „Fuck“ zu haben. Die Schriftsprache ist Deutsch, an manchen Stellen tauchen österreichische Wendungen wie „unsere Leut“ oder „Ich stinke wie die Sau“ auf, die auf Reinelts Herkunft schließen lassen und etwas unglaubwürdig wirken, wenn ein junger Syrer sie gedanklich äußert.

Gegen Ende von Willkommen und Abschied schleichen sich arabische Schriftzeichen in seinen Text. Diese wirken angemessener, wenngleich sie für die meisten Leser unverständlich sind. Auffällig ist neben den arabischen Wörtern die lapidare Schilderung schlimmer Ereignisse wie die Ermordung seines Freundes: „Als ich heimgekommen bin und gehört hab, Al-Amad sei auf dem Weg zum Basar erdrosselt worden, hab ich gewusst: ich muss jetzt weg.“. Anstatt die Trauer über den Tod seines Freundes zu erwähnen, nimmt der Protagonist diesen als Anlass zur Flucht. Wenige Zeilen darauf leitet Reinelt zu einer „witzigen Geschichte“ mit einem Esel über. Was auf den ersten Blick pietät- und taktlos wirken mag, erscheint auf den zweiten natürlich: Eingesperrt in einen stickigen LKW, hat vermutlich niemand ausschließlich klar zusammenhängende Gedanken.

Abgesehen von der Gestaltung und dem Stil sticht ebenfalls die Erzählstrategie des Autors ins Auge: Die Rahmenhandlung im Lastwagen wird vermehrt von Rückblicken durchbrochen, auch wenn oder vielleicht gerade weil sie den Erzählfluss ins Stocken bringen. Mag dies anfangs etwas verwirrend wirken, stellt sie dem aktuellen Leid im LKW eine andere – wenn auch wenig ausgebaute – Dimension gegenüber. Die Rückblicke illustrieren Erinnerungen des Protagonisten an sein Heimatland Syrien, sowie seine Familie und seine Freunde. Da die Tochter eines Gutsbesitzers, Soraya, als so aufreizend empfunden wird, steckt ihr Vater sie schon mit vierzehn in eine „volle Burka“, doch laut Al-Amad kann man „echte Schönheit nicht verschleiern“.

Al-Amad ist der beste Freund des Erzählers. Ihm gelingt es, das Mädchen zu verführen und schließlich sogar zu heiraten. Seine Erdrosselung auf offener Straße lässt eine trauernde Witwe zurück, die der Protagonist nach Österreich nachholen möchte – genauso wie seine Mutter und seinen Bruder Yasin. Im Gegensatz zu ihm sind beide gläubig und hoffen trotz der Attentate des IS auf Gottes Hilfe. Ihr Glaube lässt sie bleiben, wohingegen der weniger gläubige Erzähler flieht und inmitten von Fremden fernab von Familie und Heimatland stirbt. Seine Einsicht „Hätte ich verrecken wollen, wäre ich daheim geblieben!“, hilft ihm genauso wenig wie die Tatsache, dass er die Mittelmeerüberquerung geschafft hat, oder dass Allah, wie er zuvor beschreibt „ein Auge auf ihn geworfen“ hat. Dennoch scheint er im Angesicht des Todes plötzlich gläubig zu werden: „Alla hilft mir hier raus! Allahu, du bist der Größte!“

Wird der Protagonist in den letzten lesbaren Zeilen bekehrt? Ist der Glaube die ultimative Bewältigung des Todes? Der Autor schweigt; verschweigt leider die Ausführung interessanter Themen, die nur kurz ins Textfeld geworfen werden und am Ende gar geschwärzt: Glaube, Terror, Freundschaft, Liebe, Tod, Verschleierung, Schlepperpreise, Flucht (-stationen). Der Leser muss sich mit Denkanstößen begnügen; er bleibt am Ende fragend zurück. Aber was darf er von 24 Seiten erwarten? Was dem Text an inhaltlicher Ausführung fehlt, gleicht er durch Eigenwille in Layout und Stil aus.

Dass der Autor Österreicher und nicht Syrer ist, stört genauso wenig wie die wenigen österreichischen Wendungen, da der Text vor allem aufgrund der beklemmenden Wirkung überzeugt, die er mit Hilfe von grafischen Besonderheiten auf den Leser überträgt. Doch auch ohne diese bliebe Reinelts Werk immer noch ein kurzer Text, der eine beschwerliche Reise ohne Ankunft schildert. Ein kurzer Text, der zum Nachdenken anregt und Fragen aufwirft. Ein kurzer Text, der die Flüchtlingsthematik aus einer ungewohnten Perspektive beleuchtet. Ein kurzer Text, aber ein guter.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Carlos Peter Reinelt: Willkommen und Abschied.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
24 Seiten, 9,40 EUR.
ISBN-13: 9783835319745

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