Welche staatliche Reaktion auf terroristische Erpressung ist richtig?

In „Ein Tag im Herbst. Die RAF, der Staat und der Fall Schleyer“ lässt Anne Ameri-Siemens ein dramatisches Kapitel deutscher Zeitgeschichte aufleben

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 16. Oktober 1977 fällte das Bundesverfassungsgericht, angerufen durch Hanns-Eberhardt Schleyer, den Sohn des zuvor entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, ein mit beklemmender Spannung erwartetes Urteil. Im Eilverfahren entschied es, die Bundesregierung müsse nicht auf den von der Rote Armee Fraktion (RAF) geforderten Austausch ihrer inhaftierten Gesinnungsgenossen gegen Schleyer eingehen; sie sei frei in der Wahl ihrer Mittel, auf den Erpressungsversuch zu reagieren. Für viele war das als wenig mutig empfundene Urteil enttäuschend, allen voran für die Familie Schleyers. Es wurde als politisches Urteil, weniger als juristisches Urteil aufgefasst. Zwei Tage später wurde Hanns Martin Schleyer von der RAF ermordet, nachdem am gleichen Tag ein weiterer Freipressungsversuch durch die überaus riskante, aber erfolgreiche Stürmung der entführten Lufthansa-Maschine Landshut in Mogadischu vereitelt worden war.

Die vom RAF-Terror geprägten Ereignisse um den 16. Oktober 1977 – die Entführung und Ermordung Schleyers, die Entführung und Befreiung der Landshut-Geiseln sowie die Selbstmorde der in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe – gingen als „Deutscher Herbst“ in die Geschichte der Bundesrepublik ein.

In ihrem Buch Ein Tag im Herbst. Die RAF, der Staat und der Fall Schleyer versammelt die Journalistin Anne Ameri-Siemens Zeitzeugen, die in die Ereignisse involviert und von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an jenem „Tag im Herbst“ in der einen oder anderen Weise betroffen waren. In fünf Kapiteln, die nicht chronologisch, sondern nach Themenbereichen gegliedert sind, ordnet Ameri-Siemens die durch Interviews entstandenen retrospektiven Stellungnahmen und Einschätzungen durch kurze, verbindende Textpassagen an, wodurch ein gleichsam filmhaftes Arrangement entsteht.

Darunter befinden sich Aussagen etwa von Hans-Jochen Vogel, der mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt den Standpunkt der Bundesregierung als Mitglied des eingesetzten Krisenstabs mitvertrat, Burkhard Hirsch, der seinerzeit Innenminister von Nordrhein-Westfalen war, oder Hanns-Eberhardt Schleyer, der das Bundesverfassungsgericht angerufen hatte.

Zur Vielfältigkeit der Perspektiven tragen aber nicht nur Politiker und der Sohn Schleyers bei, sondern unter anderen der Stammheimer Gefängnisbedienstete Peter Jesse, der Journalist Heribert Prantl, Monika Hohlmeier als Tochter des ebenfalls im Krisenstab vertretenen Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß oder Jan Philipp Reemtsma, der – selbst Entführungsopfer – die Sichtweise einer mit dem Tode bedrohten Geisel einbringt. Reemtsma ist den Ereignissen aber auch insofern verbunden, als er in dem von ihm gegründeten Hamburger Institut für Sozialforschung ehemalige RAF-Mitglieder mit dem Ziel der Versöhnung und Resozialisierung beschäftigte.

Die Einschätzungen der insgesamt 15 Zeitzeugen kreisen letztlich alle um die Frage, ob die harte Haltung der Bundesregierung richtig war, Hanns Martin Schleyer nicht gegen die in Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder auszutauschen und damit den Tod Schleyers in Kauf zu nehmen, nur um durch den Eindruck der Nichterpressbarkeit künftige Entführungen unattraktiv zu machen. Hierbei vertritt naturgemäß Hanns-Eberhardt Schleyer die Auffassung, dass der Staat nicht durch Härte stark sei, sondern durch human geprägtes Handeln: Die damalige Bundesregierung hätte alles unternehmen müssen, bis hin zum Austausch der RAF-Gefangenen, um seinen Vater zu retten.

Auch wenn das Buch von Ameri-Siemens faktisch nichts liefert, was man nicht auch beispielsweise in Stefan Austs Standardwerk Der Baader-Meinhof-Komplex nachlesen könnte, ist die Lektüre unbedingt lohnenswert. Es macht ein Stück Zeitgeschichte lebendig, weil es auf ebenso zugängliche wie beklemmende Weise die Atmosphäre wachruft, die von dem kopflosen Versuch eines Staates geprägt wird, sich gegen terroristische Gewalt zu wehren, die aus der Radikalisierung der Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre entstanden war und eine fatale Dynamik entwickelte. Zugleich macht es deutlich, dass es im Spannungsfeld von harter Haltung, intensiver polizeilicher Fahndung, geschickter Verhandlung und kaltblütigem Taktieren durchaus Optionen eines alternativen Vorgehens gegeben hätte.

Insofern weist das Buch über die Ereignisse des Deutschen Herbsts hinaus, denn es wirft die grundsätzliche und jederzeit aktuelle Frage auf, wie mit Terror – gleich ob mit politisch oder religiös motiviertem – umzugehen ist und ob eine harte Haltung, zum Beispiel durch den Ruf nach immer weiteren, härteren Gesetzen, nicht letztlich auch kaschiert, dass dem Status quo ante – Gespür für Gemengenlagen und Entstehungsbedingungen; frühe, deeskalierende Maßnahmen – zu wenig Beachtung geschenkt worden ist. In der Rückschau ist Gerhard Baum, damals kurz nach den Ereignissen des Deutschen Herbsts Innenminister unter Bundeskanzler Helmut Schmidt, überzeugt: „Mit mehr Besonnenheit – und mehr Verantwortungsbewusstsein – hätte man die Gewalt und den Terror der extremistischen Linken wahrscheinlich verhindern können.“

Gleichzeitig stellt Ameri-Siemens mit ihrem Buch die moralische Frage, ob der Staat in einer solchen Situation ein Menschenleben opfern darf, um andere – potenzielle – Opfer zu verhindern. Hier zu einer eindeutigen Antwort zu gelangen, ist nicht das Ziel des Buchs, auch wenn Anne Ameri-Siemens offensichtlich der Option „harte Haltung“ zuneigt, da sie im Vorwort die kühne These vertritt, in „der historischen Nachbetrachtung war 1977 das Jahr, in dem der Staat den Linksterrorismus besiegt hat.“ Schließlich entfaltete die RAF ihre terroristischen Aktivitäten noch weit über das Jahr 1977 hinaus bis in die 1990er-Jahre hinein. Richtig ist dennoch, dass es nie wieder einen derartigen Erpressungsversuch gegeben hat.

Komplettiert wird das gelungene Buch durch Kurzbiografien der 15 Zeitzeugen sowie einen knappen, jedoch informativen Überblick zur Geschichte der RAF. Dieser, obgleich am Ende des Buchs platziert, kann durchaus auch zuerst gelesen werden, damit die beschriebenen Ereignisse besser in ihren zeitlichen und politischen Kontext einzuordnen sind.

Titelbild

Anne Ameri-Siemens: Ein Tag im Herbst. Die RAF, der Staat und der Fall Schleyer.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017.
320 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871348341

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