Hier wohnt Tomas Espedal

Der Norweger Tomas Espedal treibt in „Biographie, Tagebuch, Briefe“ das autobiografische Erzählen radikal auf die Spitze

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Gesicht wie eine Lebenslandschaft. Das Porträtbild, das uns auf dem Cover von Tomas Espedals Buch entgegenblickt, zeigt in Nahaufnahme einen Mann mit zusammengekniffenen Augen, grauem Bart und zerzaustem Kurzhaar über der gefurchten hohen Stirn. Ein schönes, vom Leben und vom Wetter gegerbtes Gesicht – wie vielleicht von einem „Strauchdieb“, den seine Geliebte im Schreibenden einmal erkannt hat: von einem, „der zu viel allein gewandert ist und immer auf seinen eigenen Wegen“. Zu diesem Gesicht gehört der Kopf eines Boxers, der es, wie ihm der Vater einmal vorhielt, „zu nichts Vernünftigem“ gebracht habe – außer zum erfolglosen Schreiben, worauf er, der Vater, stolz sei.

Spätestens seit seinem (dem Vater gewidmeten) Romanessay Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen (2006, dt. 2011) ist Espedal auch im deutschen Sprachraum zum Geheimtipp avanciert. Zwei weitere Bücher sind inzwischen erschienen, denen auf Deutsch nun ein Band folgt, der gleich drei frühere Werke vereint. Sie wurden im norwegischen Original zwischen 1999 und 2005 publiziert. Die dreiteilige Überschrift – entsprechend der drei Originaltitel – signalisiert ihren sehr persönlichen Charakter, der durch die Untertitel noch akzentuiert wird: Biografie (Vergessenheit) – Tagebuch (Epitaphe) – Briefe (Ein Versuch).

Ihnen sind zwei elementare Ereignisse einbeschrieben: Innerhalb von kurzer Zeit verlor Espedal zuerst seine Mutter, dann seine Lebensgefährtin. Mit einem Mal hatte ihn der Tod eingeholt und ließ ihn allein mit zwei Töchtern zurück. Die traumatische Erfahrung von Tod und Leben lässt den Autor verstummen. Er, das erzählende Ich, fühlt sich lebendig tot, während seine tote Geliebte in seiner Erinnerung lebendig bleibt. Aus dieser unheilvollen Verkettung helfen ihm das Schreiben und die familiäre Verantwortung. Der neue Alltag gerät zur Routine. Der Erzähler wechselt von einem Zimmer ins andere, am Morgen hinüber zum Arbeitstisch, abends zurück, um sich für die Nacht zurecht zu machen und das karge Schlafzimmer zu betreten: „An der Tür hängt ein Schild, meine ältere Tochter hat es gemacht. Jedes Mal, wenn ich das kleine Holzschild sehe, habe ich Tränen in den Augen: Hier wohnt Tomas Espedal.“

Hier das Schlafzimmer, drüben im Atelierhaus das Arbeitszimmer, dazwischen Wohnzimmer und Küche. Jedes der Zimmer spielt eine Rolle. In sein erstes eigenes Zimmer war der damals 15-jährige geradezu „verliebt“, wie er sich später erinnert. Seither hat er daran festgehalten, dass ihm Zimmer wichtig sind – allen voran das Arbeitszimmer mit seiner Schreibmaschine. Hier übt er seine Arbeit aus. „Schreiben ist eine Gabe. Schreiben ist ein Handwerk“, hat ihm die verstorbene Mutter mit auf den Weg gegeben. Es schützt vor Hochmut. So verrichtet er sein Handwerk mal lustvoll, mal stockend, wörtlich getreu einem Motto des Dichters Klaus Høeck:

ich öffnete die tür der erin
nerung um endlich anzufa
ngen zu vergessen

Dieses kleine Exempel zeigt nebenbei bemerkt, mit welch feinem Gespür der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel dieses intime Buch ins Deutsche übertragen hat.

Es geht Espedal darin ums Trauern und Erinnern, ums Leben und vor allem auch ums Schreiben. Der erlittene Verlust zwingt ihn unwillkürlich auch zur Auseinandersetzung mit seiner Arbeit. „Schon vor langem habe ich aufgehört, Bücher zu schreiben. Ich schreibe, das ist alles“, notiert er einmal. Dabei möchte er sich das Schreiben schwer machen: „Schreiben heißt, die Sprache komplizierter machen, die Welt schwieriger machen.“

Schreibend wirft er einen Blick zurück, versucht den Erinnerungsfilm in die andere Richtung abspulen zu lassen, um die Tote wiederzubeleben. Der Blick zurück erzeugt einen Gegenblick nach vorn, in dem er aus dem Auge des damaligen Kindes erkennt, wie er später „hinter dem Fenster saß und trank und mir auf diese Weise genusssüchtig und langsam das Leben nahm“. Als Kind hätte er „angefangen zu schreien“.

Auf kleinstem Raum kreist Espedal die eigenen Erfahrungen ein und hält sie fest, mal in längeren geschlossenen Texten, oft in kurzen Absätzen, die daneben viel Leerraum auf der Seite lassen. Espedal ist ein radikal autobiografischer Autor, der die strikte Trennung zwischen Realität und Fiktion aufhebt. In einem kurzen Text, Roman betitelt, beschreibt er, wie er zu zweit mit seiner Geliebten Hand in Hand geht – und neben ihr geht eine zweite Person. „Ich bin nicht ich und sie ist eine andere. Jede Beziehung beinhaltet mehr Menschen als die beiden, die einander bei der Hand halten“ – denn: „wir sind wie die Figuren in einem Roman“.

In seinen Büchern legt er sein Leben offen, zugleich dimmt er das Licht so weit herunter, dass im literarischen Dämmerlicht nur Umrisse und von schimmerndem Restlicht illuminierte Feinheiten erkennbar werden. Sie vermitteln eine Ahnung von all dem Erlebten, soweit es sich in den Erfahrungen der Leserinnen und Leser spiegelt. Es bleibt aber nur andeutungsweise zu erkennen, wie turbulent es in der Beziehung zwischen den beiden Lebensgefährten zeitweise wohl zugegangen ist.

Voyeurismus kann dieses Werk nicht bedienen. Hierin unterscheidet er sich von Karl-Ove Knausgårds gewaltigen Autobiografie-Projekt Mein Kampf. Die verzweifelte Suche nach einem Beweggrund, einem Sinn der eigenen Existenz nährt bei Espedal das Schweigen. Auch er trägt einen Kampf aus, doch:

Das ist ein Kampf
ohne Gegner
ohne andere Gegner
als mich selbst
und diese Freiheit
die ich nicht mehr will.
Ich kann schreiben was ich will.

Für Knausgård wie für Espedal gilt wohl, was letzterer notiert: „Wir schreiben, um uns selbst zu entblößen, doch je mehr wir über uns sagen, desto besser verstecken wir uns, hinter Bekenntnissen und Wörtern.“

Andeutungsweise ist in diesen Skizzen, Notizen und Briefen bereits vom Buch Gehen die Rede. Allerdings fällt auch auf, wie sehr sich der Autor dagegen sträubt, dass Gehen und Schreiben zueinander gehören. Im Gegenteil: „Gehen entfernt dich vom Schreiben, du verlässt die Sprache. Man verläuft sich.“ Entsprechend ermüdet ihn das Reisen, und wenn er in Bergen dennoch auf den 15.58er-Zug nach Oslo wartet, weiß er, dass er sich selbst nicht nachfolgen würde. Es ginge zu schnell.

Von Espedals Prosa geht – wie von seinem Gesicht – eine Kraft und Eindringlichkeit aus, die nicht leicht festzumachen ist. Es ist ein beständiges emotionales Auf und Ab von Freiheit und Verwundbarkeit, Aufruhr und Anspruchslosigkeit. Von Trauer und Angst und „Angst vor der Angst“. Letztere aber weckt auch: „Sie macht mich schärfer, verwundbarer, sie tut mir weh“.

Die drei Abteilungen, die im Original als eigenständige Bücher im Zeitraum von mehreren Jahren entstanden sind, folgen in dieser Ausgabe vielleicht etwas zu atemlos und schnell aufeinander. Zu einem Band zusammengebunden machen sie die langen Zeiträume vergessen, in denen Espedals Schreiben um den Tod der Mutter und den seiner Lebensgefährtin kreiste; sein Schreiben wie zugleich sein Nicht-Schreiben, denn Espedals Handwerk besteht auch aus den Zwischenräumen des Dasitzens und sich Geduldens, bis ein Wort sich meldet, ein Satz entsteht: „Der Schluss: Eis und Frost und Weiß. Unbeschrieben. Ich kauere mich unter einen Fels. Jetzt heißt es nur noch zu warten.“

Titelbild

Tomas Espedal: Biografie, Tagebuch, Briefe.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
352 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573674

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