Des Rätsels Lösung?

Oleg Jurjew entwirft in seinem Roman „Unbekannte Briefe“ mögliche Wahrheiten über das Leben dreier Schriftsteller

Von Silvia FritzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silvia Fritze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Drei Briefe, eine Intention: Sie alle sind dazu geschaffen, Licht ins Dunkel zu bringen, nämlich angeblich historische Wissenslücken mit fiktiven Inhalten zu füllen. Der Autor Oleg Jurjew steht mit seinem Briefroman Unbekannte Briefe in der Tradition vorangegangener Herausgeber-Fiktionen, die wir schon beispielsweise von Cervantes kennen. Er suggeriert dem Leser in einem Vorwort vor jedem der Briefe, dass es sich dabei um „reale“ Briefe handele und erzählt unter anderem, wie diese den Weg zu ihm gefunden haben. Inhaltlich geht es in ihnen um politische Ansichten und Gegebenheiten, Freundschaft und Literatur. Selbst wenn der Adressat schon längst verstorben ist, bleibt das Mitteilungsbedürfnis des Verfassers bestehen.

L.I. Dobytschin, ein ausgestoßener russischer Literat des 20. Jahrhunderts schreibt nach seinem spurlosen Verschwinden an seinen guten Freund Kornei Iwanowitsch Tschukowski einen Brief, in dem er erzählt, wie es ihm seit seiner Flucht ergangen ist. Man erfährt Vieles von seinem privaten Leben, seine Arbeit und seine neue Heimat. Die reale Person Dobytschin verschwand nach einer Auseinandersetzung mit einem Autorenverband der Sowjetunion spurlos. Es wird vermutet, dass er eliminiert wurde.

Der zweite Brief handelt von einem erfundenen kleinen Literaten namens Pryschow, der einen Beschwerdebrief über die Darstellung seiner Person in Die Dämonen beklagt. Dostojewski soll sich nämlich beim Entwurf seines Protagonisten am Leben Pryschows orientiert haben, was dem Betroffenen überhaupt nicht gefällt. Neid spielt dabei eine große Rolle, da sich das Leben Pryschows und Dostojewskis nach anfänglich gleichen Voraussetzungen in verschiedene Richtungen entwickelt hat.

Und Jakob Michael Reinhold Lenz schreibt während seiner letzten Atemzüge an seinen Gönner Karamsin, aber zwischendurch auch mal an und über Johann Wolfgang Goethe und seinen Vater. Dieser letzte Brief ist eine Art Rückblick auf sein bisheriges Leben, in dem er all seine Erlebnisse und Gefühle verarbeitet und versucht, sich für sein Schaffen zu rechtfertigen. Wie sich später herausstellt, soll der Brief die letzten Momente im Leben des jungen Autors darstellen.

Beim ersten Lesen scheinen diese Briefe unnötig verworren und ausschweifend zu sein, doch am Ende schließt sich der Kreis. Dem Autor gelingt es sogar, die scheinbare historische Authentizität aufrechtzuerhalten und dem Leser das Gefühl zu vermitteln, diese Briefe seien tatsächlich echt. Mit beiläufigen Bemerkungen über das politische und literarische Geschehen sowie einem erklärenden Vorwort vor jedem Brief spannt er einen Bogen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Somit ist es auch dem unvorbereiteten Leser möglich, der Thematik zu folgen. Oleg Jurjew hat sich ironischerweise selbst auch eine Rolle in seinen Briefen gegeben, beispielsweise als Dobytschin sein eigenes unveröffentlichtes Werk findet, das nun von einem gewissen Oleg Jurjew veröffentlicht wurde.

Unbekannte Briefe basiert auf einer großartigen Idee, die leider jedoch nur mittelmäßig umgesetzt ist. Der Lesefluss ist stellenweise eher stockend und wird durch absatzlange Sätze behindert. Lediglich im letzten Brief von Lenz ist dies verständlich, da man merkt, dass dieser dem Wahnsinn immer mehr verfällt und deshalb keinen Gedanken mehr zu Ende führen kann. Doch in den vorangehenden Briefen ist es eher mühsam. Trotzdem lacht man über die aberwitzigen unterstrichenen Textstellen aus Die Dämonen, wie beispielsweise seine „listige, eingekniffene Miene“ oder die „volkstümlichen Phrasen mit Schnörkeln“, die Pryschow um seiner selbst willen zu rechtfertigen versucht. Mal mehr, mal weniger überzeugend.

Oder man kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, wenn L.I. Dobytschin am 19. Juni 1994 bereits das einundzwanzigste Postskriptum einfügt, weil er eine weitere Geschichte zu erzählen hat. Auch nach vierzig Jahren gibt es noch eine Menge zu berichten. Diese kleinen Lichtblicke bietet der ansonsten eher schleppende Roman immer wieder, um den Leser bei Laune zu halten. Erst gegen Ende werden die Lichtblicke weniger, wenn Lenz zwischen seinen Adressaten hin und her springt und man als Leser endgültig den Faden verliert.

Der erste auf Deutsch verfasste Roman des russisch-deutschen Autors Oleg Jurjew ist streckenweise erheiternd und anregend, dann aber wieder langatmig und eintönig, doch das ist immerhin ausgeglichen. Wahrscheinlich muss man dieses Werk mehrmals lesen, denn jede noch so unwichtig erscheinende Anekdote enthüllt erst im Gesamtbild seine Wichtigkeit. Wer sich intensiv mit diesen historischen Lücken auseinandersetzen möchte, könnte in diesem Buch eine mögliche Lösung des Rätsels finden.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Oleg Jurjew: Unbekannte Briefe. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2017.
193 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957322333

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