Literaturgeschichte gekoppelt mit Zeitgeschichte

Helmuth Kiesel legt ein facettenreiches Panorama der Literatur der Weimarer Republik vor

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der C.H. Beck Verlag hat seine auf zwölf Bände angelegte „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart“ fortgesetzt – mit Band X, der den überschaubaren Zeitraum von 1918 bis 1933, also die Weimarer Republik, beleuchtet. Die 14 Jahre zwischen dem 9. November 1918, der revolutionären Begründung der ersten deutschen Republik, und dem 30. Januar 1933, der nationalistischen Machtergreifung, waren nicht nur bewegte Jahre der politischen und sozialen Veränderungen, sondern auch eine Zeit des kulturellen Umbruchs. Trotz der Kürze dieser Epoche war es eine Glanzzeit der deutschen Literatur. So entstand eine Fülle literarischer Werke, die heute immer noch zur Weltliteratur gerechnet werden müssen.

Helmuth Kiesel, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Heidelberg, analysiert die unterschiedlichen literarischen Strömungen, die sich in dieser Zeit überlagern und ineinander übergehen. Seine Darstellung hat er in drei große Abschnitte unterteilt, wobei er zunächst die politischen und sozialen Dimensionen der Literatur jener Zeit beleuchtet. Gesellschaftsgeschichtliche und literatursoziologische Aspekte bestimmen diesen ersten Durchgang. Hier werden unter anderem die Prozesse der Urbanisierung und Industrialisierung, der demographische Wandel und die Veränderung der Klassenstruktur betrachtet. Häufig werden die 1920er-Jahre als Zeit der „klassischen Moderne“ bezeichnet; diese Definition hält Kiesel jedoch für fragwürdig. In der Literaturgeschichte ist umstritten, was als klassische Moderne zu bezeichnen ist. Wohl eher die Zeit nach 1900, sodass die Phänomene der Weimarer Republik dann einer Krise der „klassischen Moderne“ entsprechen würden. In dem Kapitel „Geistige Koordinaten“ setzt sich Kiesel mit der kulturellen Orientierung und dem Richtungsstreit „Metropole oder Provinz?“ („Asphaltliteratur“ oder „Dichtung der Landschaft“?) auseinander.

Der zweite (umfangreichste) Teil „Literatur als Spiegel und Gestaltungsfaktor der Epoche“ reflektiert das Verhältnis von Geschichte oder Gesellschaft und Literatur. Die Zeitspanne von  1918 bis 1933 waren Krisenjahre – geprägt von Inflation, politischen Morden, Unruhen und Putschen (bis hin zum Hitler-Putsch). Viele dieser Ereignisse fanden ihren literarischen Niederschlag in Gedichten, Erzählwerken und kritischen Dramen. Hier unterscheidet Kiesel unterschiedliche Phasen: von den frühen literarischen Reflexionen des Ersten Weltkrieges über die Jahre des Übergangs 1923 bis 25, die Literatur der Arbeitswelt bis hin zu den Jahren der Radikalisierung. Für viele Literaten der damaligen Zeit stellte sich daraufhin die Frage „Bleiben oder gehen?“

Der dritte Abschnitt widmet sich abschließend der Entwicklung der literarischen Gattungen, wobei die 1920er-Jahre in dieser Hinsicht ein überaus komplexes, facettenreiches und dynamisches Bild zeigen. So war die Produktion an deutschsprachiger Lyrik in den Jahren 1918/19 bis 1932/33 unüberschaubar groß – von den Schlussakkorden alter Meister (Rainer Maria Rilke und Stefan George) bis zu den beiden neuen „Großmeistern“ Bertolt Brecht und Gottfried Benn. In der Dramatik reichte die Bandbreite von nachexpressionistischen Gestaltungsweisen über historische Spiegelungen (Hugo von Hofmannsthal) bis zu Brechts epischem Theater. Die Romanproduktion erreichte in diesen Jahren eine neue thematische und formale Vielfalt. Es entwickelte sich neue zeitspezifische Genres wie Großstadt-, Angestellten-, Hotel-, oder Frauenroman. Speziell auf die Werke von Franz Kafka, Thomas Mann, Alfred Döblin, Hans Henny Jahnn, Robert Musil, Hermann Broch und Joseph Roth geht er näher ein.

Die Darstellung – mit einer sehr aktuellen Bibliografie, die bis ins Jahr 2015 reicht – ist als Handbuch und Nachschlagewerk geeignet und sowohl für Germanisten als auch für Hobbyliteraten eine Fundgrube und dankbare Hilfe, um sich im Literatur-Labyrinth der 1920er-Jahre zurechtzufinden. Sie rückt die literarische Entwicklung in der Weimarer Republik in ihrer Gesamtheit ins Blickfeld. Obwohl Kiesel in seiner Einleitung bereits betont, dass „in einer noch so umfangreichen Literaturgeschichte nur ein kleiner Teil aufgerufen werden“ kann, ist er bestrebt, neben Schriftstellern von hohem literarischem Rang auch Unterschätzte und Unbekannte zu würdigen. Damit gibt er willkommene Lektüreempfehlungen.

Die thematischen und stilistischen Zusammenhänge werden sehr ausführlich dargestellt, wobei die Beschreibungen sehr ausgewogen und einheitlich sind – sicher ein Verdienst dessen, dass die 1.304 Seiten von einem Autor verfasst wurden. Zukünftig wird man vom „Kiesel“ reden, wenn von einer Analyse der Literatur der Weimarer Republik die Rede ist. Summa Summarum: „Ein kenntnisreiches und unerschöpfliches Werk“. Literaturfreunde warten nun mit Spannung auf den Abschluss der Reihe mit dem noch fehlenden Band XI, der sich mit der Literatur in der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen wird.

Titelbild

Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
1304 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783406707995

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