Philosophie zwischen leeren Bierflaschen und Angelruten

Kerstin Preiwuß wirft in ihrem zweiten Roman „Nach Onkalo“ mit Leichtigkeit die großen Sinnfragen auf

Von Pia SchöngarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pia Schöngarth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mutter ist tot. Jetzt hat Matuschek niemanden mehr, der ihm das Essen und die Wäsche macht. Matuscheks Alltag und damit sein fester Zeitplan geraten aus den Fugen. Zum Glück sind da der Russe und der alte Witt, die ihm helfen. Als der Russe ihm auch noch eine vollbusige Cousine vorstellt, scheint Matuscheks Glück nah – denn sie kann die Brötchen vom Vortag wieder knusprig zaubern. Doch wie schon Mutter, so kommen und gehen alle Menschen um Matuschek und seine Geschichte wird zu der eines Aussteigers – Außenseiter war er ja schon immer –, der die großen Fragen nach Sinn und Wesen unserer Existenz stellt.

Die Geschichte spielt in Lubmin, nahe der Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern. Hier wurde zu Zeiten der DDR ein Atomkraftwerk betrieben, das sich nun im Abriss befindet. Auch die Dörfer darum scheinen zu Grunde zu gehen. Demographischer Wandel, Stellenabbau, Arbeitslosigkeit. Vor diesem trostlosen Ostcharme bilden sich Figuren wie Witt heraus: ein ehemaliger Mitarbeiter bei eben jenem Atomkraftwerk, der nun aufgrund des drohenden Weltuntergangs einen Schutzbunker im Keller hat und seine Verschwörungstheorien verbreitet. Oder Lewandowski mit seinem Berliner Akzent, der sich mit Ebay-Geschäften durchschlägt und auch sonst eher der Schlägertyp ist. Dank ihm muss Matuschek nicht mehr horrende Rechnungen für Telefonsex zahlen, denn Lewandowski zeigt ihm das Internet. Es sind allesamt Menschen, die sich als Verlierer der Gesellschaft sehen, es sind die kleinen Leute und Matuschek ein „kleiner Mann“ par excellence.

Matuschek, unser Protagonist, ist so alt wie der Durchschnitt und ihm bleiben bis zum durchschnittlichen Tod noch 36 Jahre. Sein ältestes Organ ist die Leber und das jüngste sein Schwanz, denn den braucht hier niemand. Die Konstanten in seinem Leben sind seine Tauben, die er regelmäßig pflegen und fliegen lassen muss, und sein Schichtdienst in einer Wetterstation des lokalen Flugplatzes, der so gut wie stillgelegt ist. Die Digitalisierung führt schließlich dazu, dass er seine Arbeit verliert. Die Tauben allerdings, die kommen immer wieder zu ihm zurück, die sind ganz seins – anders als die Menschen um ihn herum.

Man kann nicht anders als diese schrulligen Charaktere lieb gewinnen. Das ist insofern interessant, als Matuschek eine nicht gerade sympathische Figur ist. Er ist ein Antiheld, der kein Mitleid will. Und das bringt ihn uns vielleicht näher. Auch gerade über die Männerfreundschaften muss man schmunzeln, wenn es nicht vieler Worte, sondern nur eines einfachen Nickens bedarf. Frauen sind hier immer Thema. Das wirkt schon stellenweise zu stereotyp, wäre da nicht eine interessante Szene: Was das wohl sein mag, wenn einem der Penis auf der Herrentoilette bei Betrachtung des Nebenmannes erigiert. Matuschek durchlebt, beginnend mit dem Tod seiner alten Mutter, eine Entwicklung, eine Emanzipation, eine verspätete Pubertät – und begibt sich auf die Suche nach dem Glück.

Die Brüche, insbesondere die starke Zweiteilung des Romans, machen den Text spannend: Matuschek will eigentlich nur seine Ruhe, er sitzt die Dinge ab. Am liebsten auf seinem Boot mit einer Bierflasche neben sich und der Angel in der Hand. Wenn man nur lange genug wartet, dann klärt sich alles. Und er will auch gar nicht zu viel wissen. Doch ausgerechnet ihn ergreifen die großen existenziellen Fragen der Philosophie, die er mit viel Pragmatismus und aus scheinbar kindlichem Blickwinkel, stets mit einem entpersonalisierten „man“ betrachtet: „Ob das lohnt? Erst hat man keine Zähne, dann fallen sie einem aus.“ und „Aus sich rausgucken kann keiner, also weiß auch keiner, wie es in ihm aussieht.“ oder „Das Leben wird man nicht einfach los, das hängt an dir, als wärst du ein Magnet und der Dreck verteilt sich gleichmäßig um dich herum“. Gespannt liest man die letzten Kapitel deutlich schneller.

Doch auch insgesamt hält der Roman viele Überraschungen bereit und macht aus dem scheinbar Langweiligen das möglichst Spannende, ohne dabei ins Spektakuläre oder Extreme abzurutschen. Auch die zusätzliche Kapitelunterteilung mit vielen Absätzen macht die Lektüre sehr angenehm. Was es mit dem Titel auf sich hat, bleibt bis zur vorletzten Seite unklar. Es handelt sich dabei um ein finnisches Endlager – dass das Matuscheks Weg ist, will man nicht hoffen, aber vielleicht ist es auch eine passende Beschreibung für den natürlichen Kreislauf.

Es ist erstaunlich, was dieses schmale Buch literaturwissenschaftlich und im intertextuellen Vergleich hergibt. Durch vielfältige Motivverstrickungen erzählt es die Geschichte einer Midlife-Crisis, eines stillen Diogenes, des kleinen Mannes, der sich fragt, was nun. Genauso vielfältig ist das Themenspektrum und trotzdem ist da der Eindruck von Profanität und Leichtigkeit. Kerstin Preiwuß, die selbst aus Mecklenburg stammt, ist eigentlich Lyrikerin, was sich in ihrer pointierten, klaren und prägnanten Sprache zeigt. In knappen Sätzen, schonungslos und das Banale nicht scheuend, erschafft sie eine nüchterne Geschichte.

Das Ende enttäuscht, es hinterlässt einen Eindruck der Nichtigkeit und Resignation. Enttäuscht werden allerdings bloß falsch angesetzte Lese-Erwartungen, mit denen der Roman bewusst zu brechen scheint und so konsequent in seinem Dunstkreis der Tristesse verweilt. Es ist ein Roman, der nicht spektakulär sein möchte, der eine stille Geschichte erzählt, in der Matuscheks Fragen in der Provinz verhallen. Ein leichtes, ein stilles Buch. Es ist ein Roman, der keine neuen Fragen stellt und erst recht keine Antworten gibt. Aber es ist ein herzlicher, ein subtiler, dessen Lektüre unbedingt lohnt, auch wenn das Leben trotzdem weitergeht, „ob man sich nun Gedanken drüber macht oder nicht“.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Kerstin Preiwuß: Nach Onkalo. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2017.
230 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783827013149

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