Welche Form nach 1989?

Über eine ausgezeichnete Studie von Stephan Pabst zum Nachleben der Ost-Moderne

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lesenswerte Habilitationsschriften erkennt man auf den ersten Seiten daran, dass sie auf Jargon und Imponiervokabeln verzichten, stattdessen eine längst fällige Frage stellen. Der in Jena lehrende Literaturwissenschaftler Stephan Pabst fragt, welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Systemwechsel von 1989ff. und dem Wandel literarischer Formen im Werk von Autoren, die aus der DDR stammen.

Analysen im Gebiet „Wende und Literatur“ beziehen sich für gewöhnlich auf Texte, die die politische Zäsur zum Thema haben und/oder von Vergangenheitsbewältigung, Verlustängsten, Befindlichkeiten der Ostdeutschen nach ’89 handeln. Doch sowohl den rein thematischen als auch den sozialpathologisierenden Zugriffen fehlt ein Auge für die formalen Eigenschaften postsozialistischer Literatur, wendet Pabst in der Einleitung plausibel ein. Genauso problematisch sind Stimmen, die nicht ohne Trotz eine Fortsetzung der DDR-Literatur nach dem Ende der DDR behaupten. Damit tut man den intentional verteidigten Werken keinen Gefallen. So „spricht das ästhetische Beharrungsvermögen einer Christa Wolf […] nicht zwangsläufig für ihre Texte“, heißt es hier in schöner Süffisanz. Zu betonen, dass neben Kontinuitäten im Werk gelernter DDR-Autoren auch ihre Brüche zu beachten sind, war an der Zeit.

Und: Gut gewählt sind die ostdeutschen Büchner-Preisträger, an deren Œuvre die Gattungsverschiebungen nach dem politischen Einschnitt rekonstruiert werden. Heiner Müller, Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl und Durs Grünbein haben gemein, dass die Machtferne ihrer literarischen Arbeit in Zeiten der Diktatur außer Zweifel steht ‒ anders als bei (der frühen) Christa Wolf oder gar Hermann Kant ‒, ihr Ansehen aber nicht primär auf Dissidentenkapital beruht. Eine günstige Voraussetzung, um die vier relativ frei von politischen Zu- oder Abneigungen zu beobachten. Zudem rückt mit dem Autorenquartett aus Drama, Roman und Lyrik mehr als nur eine Textsorte in den Blick, was man von einer gattungspoetologisch ausgerichteten Arbeit auch erwarten darf.

Firmiert das Schreiben der vier nach der DDR als „Post-Ost-Moderne“, so steckt darin offensichtlich eine Aufwertung der Literatur im Realsozialismus, gerichtet gegen jene flächendeckenden Vormoderne- und allgemein Defizienzbehauptungen des bundesdeutschen Feuilletons, die nach der Wende Literatur in der DDR mit einer Literatur der DDR verwechseln wollten und sie so für die heteronomen Rahmenbedingungen haftbar machten. Doch abgesehen davon, dass Pabst den Adelstitel „Moderne“ ohnehin nur einer Crème ostdeutscher Autoren verleiht, entgeht seine Arbeit durchgehend der Kumpaneifalle. Respekt vorm Gegenstand, ausgewiesen durch intime Textkenntnis, hindert nicht, punktuell kritische Wertungen vorzunehmen, eher präzisiert jene diese. Zu welchen Ergebnissen kommt, wer dem apologetischen oder herablassenden Umgang mit DDR-sozialisierten Autoren interessierte Halbdistanz vorzieht?

Das Kapitel zu Müller geht von dessen geläufiger Position aus: Mit dem Realsozialismus ende auch das Drama, da der siegreiche Kapitalismus dem Dramatiker keine verwertbaren Konflikte mehr biete. Doch statt an der Selbstbeschreibung des Autors zu kleben, unterstreicht die Analyse, dass Müllers Rede vom neuen Schwerpunkt Lyrik mit Vorsicht zu genießen ist. Näher besehen, machen die Interviews nach 1989 den Hauptteil seines Werks aus.

Auch die Hinwendung zur Subjektivität, die mit dem Schwenk zu Lyrik und Interview einhergegangen sein soll, ist hinterfragbar. Pabst registriert eine Kontinuität im Gattungswechsel: Die Botschaft der frühen und mittleren Dramen ‒ „immer hat sich der Einzelne irgendwie in seine Instrumentalisierbarkeit und Ersetzbarkeit zu finden“ ‒ verflüchtigt sich nicht. Kommt ihm auch der heroisch-sozialistische Sinn abhanden, der Selbstverzicht bleibt ein starkes Motiv. Lyrik und Interviews nach der Wende zweifeln durch Individualitätsskepsis wie in ihrer forcierten Zitathaftigkeit am Subjekt. Pabst zufolge schließen diese Diagnose und die unleugbar persönlichere Note von Müllers Nach-89er-Auftritten einander nicht aus, aus jenem Grund, dem auch das Fragmentarische der späten Lyrik zuzuschreiben ist. Der „Standpunkt des Subjekts, der für den späten Müller immer wichtiger wird, legt eine gattungspoetologische Ausrichtung aufs Gedicht ebenso nahe, wie er deren konsequente Durchführung verhindert, weil der Standpunkt des Subjekts im Widerspruch zu seinem utopischen Denken und unter dem Verdacht bloßer historischer Resignation steht.“

Zu den Interviews wird zunächst nur festgestellt, dass sie das Schreiben literarischer Texte tendenziell ersetzten, dann aber glaubt Pabst sie als „Schwundform eines Werks“ etikettieren zu müssen. Das ist einem problematisch verengten Werkbegriff geschuldet; mit gleichem Recht ließen sich Dialogizität und Nicht-Überarbeitung der Zwiegespräche als Qualitäten auszeichnen. Dafür erhellt die Interview-Analyse selbst, warum sich Müllers mündliche Einlassungen wie eine einzige „Rettungsstrategie der Utopie“ lesen: Nie darf das Scheitern des Sozialismus mit der Utopie selbst zusammenhängen, stets muss es an kontingenten historischen Verläufen gelegen haben, und wenn es Missstände im Sozialismus gab, dann sollen sie auch im Kapitalismus anzutreffen sein.

Letztere Linie, lässt Pabst angemessen skeptisch durchblicken, kommt nicht ohne Verstiegenheiten aus, deren ärgste ist, den Holocaust aufs ökonomische Kalkül des Kapitals zu reduzieren. Die Tendenz zum Verallgemeinern gesellschaftlichen Unheils zu problematisieren scheint nicht nur deshalb am Platze, weil „Müllers zunehmende Vorliebe für apokalyptische Szenarien […] hier ihren Grund“ hat. Wer auf Dubiosa des Meisters hinweist, korrigiert nebenbei auch Selbstbild und posture eines Autors, der sich in den TV-Gesprächen mit Alexander Kluge ja so abgeklärt gab, als sei er nicht 60 Jahre alt, sondern 600.

Fügt man daran ein Kapitel zu Hilbig, zeichnen sich schnell die Unterschiede im Ähnlichen ab. Auch Hilbig wird bei der Lyrik landen, aber zeitversetzt, nachdem er, ganz anders als Müller, in der Bundesrepublik um 1990 einen Schub literarischer Produktivität erfahren hat. Und während der Dramatiker a. D. Müller immer mehr mediale Aufmerksamkeit erhält, verläuft die Karriere des Erzählers Hilbig seit seiner Übersiedlung in die BRD (1985) als Aufstieg und Fall.

Erfolg und Differenzqualität der Romane von 1989 und 1993 erklärt Pabst, indem er ihre erzähltechnische Pointe herausmeißelt: Wenn sie vorführen, wie die Stasi Wirklichkeit konstruiert und damit zersetzt, wird die Dekonstruktion zum „Teil einer bestimmten politischen Praxis. Die avanciertesten Dekonstruktivisten sind die Mitarbeiter der Polizei und der Staatssicherheit.“ Was nicht etwa als Anlehnung des Erzählers an die Dekonstruktion, sondern als Überdruss an ihr zu verstehen ist. Schon Eine Übertragung setzt sich von der Theorie ab, insofern der Text „nicht den referentiellen Leerlauf der Sprache an sich [zeigt], sondern eine ganz bestimmte Sprachpraxis“, historisch-politisch genauer ist. Zuspitzt wird „die Kritik poststrukturalistischer Theorien durch die Beschreibung ihrer machtpolitischen Verwendbarkeit“ in der Handlungsführung von Ich, wo Staatssicherheit und dekonstruktionshörige Prenzlauer-Berg-Literatur gemeinsam Wirklichkeit außer Kraft setzen. Bisherige Lesarten, die meinten, der Poststrukturalismus erkläre die Simulationstechnik der Stasi, verfehlen die Pointe. Vielmehr fällt „es aus der Perspektive des Romans auch auf die Theorien [zurück], wenn die Staatssicherheit ihre Verbreitung nicht nur duldet, sondern sogar fördert.“

Zwischen dem Misserfolg des dritten, erstmals in der Bundesrepublik spielenden Romans Das Provisorium (2000) und Hilbigs Umorientierung aufs Langgedicht stellt Post-Ost-Moderne einen neuen Zusammenhang her, wobei die Informationen zur skeptischen Aufnahme des Romans selbst eher erwartbar anmuten. Stellt Hilbig statt der Staatssicherheit nun ,die Medien‘ des Westens als Agenten der Entwirklichung vor, lässt er seinen Protagonisten auch noch über einen westdeutschen Literaturbetrieb herziehen, der ein „Ende der Literatur“ vernebele, möchte man fragen, welchem Kritiker das eigentlich hätte gefallen sollen. Überraschender ist, dass Hilbig schon im Roman, vor aller Fremdkritik, Selbstzweifel verschlüsselt, paradoxerweise seine vorangegangenen und hoch gelobten Romane entwertet.

Pabst erfasst etwas Irritierendes: Protagonist C., wie Hilbig in den Westen übergesiedelt, habituell wie in seinen diskursiven Äußerungen getrost als dessen Alter Ego beschreibbar, weicht von Hilbig in einem Punkt scharf ab. C. beschreibt sich als unproduktiven Schriftsteller und verschweigt damit die große Prosa seines Urhebers um 1990. Hierin eine nachträgliche „Verneinung dieser Texte“ zu sehen, ist schlüssig, zumal das von Pabst hinzugezogene Hilbig-Wort „In der BRD sollte ich ein Schriftsteller sein, war aber keiner“ tatsächlich hilft, die Logik zu verstehen. Da den beiden Erfolgsromanen ihr Gegenstand abhandengekommen ist, die DDR, können sie dem Autor zufolge keine kritische Kraft mehr entfalten. In der übrig gebliebenen BRD rennt man mit Stasi-Aufarbeitungen nur offene Türen ein.

Für Hilbig aber ist Neutralisierung kritischen Gehalts gleichbedeutend mit literarischem Unwert. Bleibt, zumal dem Erzähler auch handwerkliche Selbstzweifel kommen, nur die Rückkehr zur Lyrik, mit der er in den späten 1970er-Jahren startete, nun mythologisch eingefärbt, mit Odysseus als Chiffre fürs Selbstgefühl von Exilantentum und Ortlosigkeit.

Entgegengesetzt verläuft der Weg von Jirgl nach 1989, da er sich zum Roman hinbewegt, weg von den avantgardistischen Anfängen, den noch jede Gattungszuweisung verweigernden Formenmontagen. Dass er sein Dramen- und Prosaelemente wild mischendes, den postdramatischen Texten Müllers viel verdankendes Erzählen zwar nicht vollständig aufgibt, aber nun mit dem realistischen Roman vermittelt, hat mit dem politischen Systemwechsel nachvollziehbar zu tun.

Die vor 1989 betriebene Radikalisierung moderner Schreibweisen wendete sich noch gegen staatliche Normierung (Kunst soll repräsentieren); außerdem musste der Außenseiter, da mit Veröffentlichung in der DDR ohnehin nicht zu rechnen war, keine Rücksicht aufs Publikum nehmen. In der Bundesrepublik, führt Pabst weiter aus, entfällt die selbstausgrenzende Funktion. Zweitens spricht für eine gemäßigte oder „zurückgenommene Moderne“ ‒ die Bereitschaft, wieder halbwegs in Gattungsmustern einzurasten ‒, dass man so und nur so einen Verlag findet. Hinzu kommt ein von der Autorintention unabhängiger Punkt, den das der Rezeption der Post-Ost-Moderne gewidmete fünfte Kapitel anspricht: Moderate Moderne trifft sich mit den Geschmacksnormen der westdeutsch dominierten Literaturkritik, so inkohärent diese sind.

Angenehm deutlich, zumal für eine Qualifikationsschrift, fallen Vorbehalte gegen Jirgls Vorstellungswelt aus. Was schon bei Müller und Hilbig auffällt, die zwanghaften Behauptungen einer Konvergenz von Ost- und Westverhältnissen, kulminiert in den Erzählungen und Essays von Jirgl, der sich unverdrossen in den Bahnen Kritischer Theorie bewegt, um kategoriale Unterschiede zwischen Nationalsozialismus, sozialistischen Diktaturen und westlichen Demokratien bestreiten zu können. Für den Adorno-Adepten bilden der „rein instrumentelle und der identifikatorische Zugriff aufs Subjekt […] die Kontinuität“ (Pabst) der Gesellschaftsformen. Mit der Folge, dass er einen nach tauglich/untauglich auswählenden Personalchef schon mal mit einem SS-Arzt an der Rampe von Auschwitz gleichsetzt, von „Neuen Lagern der Juppiezeit“ schwadroniert oder gleich vom „global medialen Konzentrationslager“. Sein Analytiker versieht derlei Chimären mit dem passenden Attribut ‒ „paranoid“ ‒ und weiß das Nötige in gelungenem Understatement zu sagen: dass „Denkfiguren wie die generalisierte Auschwitz-Analogie der Kritischen Theorie und ihres Nachgängers Jirgl doch immer ein etwas angespanntes Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit“ unterhalten.

Und doch betont die Studie, dass es zu einfach wäre, sich mit dem Befund der Verstocktheit zu begnügen. So ließe sich kaum erklären, wie es Jirgl zu einem bei der Literaturkritik überaus geachteten Autor gebracht hat. Einer seiner Vorzüge liegt im Neuen Realismus. Er erfasst einen geschmeidigen Kapitalismus, der sich einstmals kritisch konnotierte Begriffe wie „Individualisierung“ und „Mobilität“ in Dienst zu stellen weiß. Auch veranschaulicht das Jirgl’sche Romanpersonal – all die Mörder, Amokläufer, Lebensmüden – in seiner Verzweiflung wie Verrohung die Vergeblichkeit von Auflehnung und setzt so den Glauben, es gebe kein richtiges Leben im falschen, plastisch-drastisch in Szene.

Die relevanteste Einsicht dieses Kapitels ist, dass totalisierte Gesellschaftskritik Baisse und Hausse kennt. Zurzeit ist sie im Vorteil. An der Depotenzierung von Gesellschaftskritik in den 90er-Jahren, am auftrumpfenden Neoliberalismus ist das Bedürfnis nach dessen radikaler Verneinung gewachsen, sowohl in der politischen Theorie (von Alain Badiou bis Slavoj Žižek) als auch narrativ. Zumal die neuere „Wirklichkeit des Kapitalismus“, eine ihrerseits totalisierte, sozialstaatliche Bindungen abstreifende Marktanbetung, dem entgrenzten Kritiktyp Jirgls recht zu geben und also „entgegenzukommen scheint“. Nur dass Post-Ost-Moderne an dieser Stelle eine kleine Pointe liegen lässt, Müllers Wort vom angeblich nicht dramenfähigen Kapitalismus betreffend. Wirkt es nicht gerade im Licht der gewaltförmigen Sozialbeziehungen, die Jirgl, einer seiner Schüler, in den Texten zur neuen Bundesrepublik zeigt, völlig realitätsfremd?

Nun hält der späte Müller das Drama vor allem deshalb für überlebt, weil er es an Geschichtsphilosphie gebunden hat und mit dem Scheitern der politischen Utopie auch die sie verhandelnde Gattung ans Ende gekommen sieht. Diese Kopplung bietet seinem Protegé Durs Grünbein eine ideale Folie zu distanzierender Nachfolge, wie wir im vierten Kapitel lernen. Grünbein kann an den Schwanengesang des Mentors aufs Drama ebenso anschließen wie an „Der Rest ist Lyrik“ (eine Zeile aus einem Müller-Stück), um dann durch seine eigenen Verse glauben zu machen, was beim Protektor selbst bloße Andeutung bleibt: dass der historischen Zäsur von 1989 ein gattungsgeschichtlicher Einschnitt entspricht, nach dem Drama die Gedichte kommen.

Nicht allein indem Grünbein den Übervater beim Wort nimmt, verweist er ihn respektvoll in die Vergangenheit. Auch wie der Jüngere Gedichte mit Transhistorizität verknüpft, läuft auf Selbstabgrenzung hinaus. Zwar lehnt sich die eigene Vielstimmigkeit im Dialog mit den Toten „an Müllers späte Poetik des Totengesprächs an, deutet sie aber nicht wie dieser als Korrektur der Geschichte, sondern als Ausdruck der Geltung bestimmter Positionen über historische Veränderungen hinweg“. Mithin genau gegenläufig.

Die Rekonstruktion von Grünbeins Positionsnahmen ist schon deshalb ein geeigneter Schlussstein der Kapitel zu den Einzelautoren, weil sie daran erinnert, dass Gattungsverschiebung nicht unbedingt bedeutet, sich als Schriftsteller von einer Form zur anderen zu bewegen. Man kann auch ein und dieselbe Gattung umprogrammieren. Klingt nach Binse, wird aber interessant, wenn ein Autor sein situativ motiviertes Umschalten im Nachhinein verdunkelt. So will Grünbein das transhistorische Dichtungsverständnis, das er mit den klassizistischen, ,römischen‘ Texten seit 1999 (Nach den Satiren) noch vertieft, rückblickend als antike Disposition und diese als seine „Wurzel“ verstanden wissen. Damit verwischt er „die Spuren seiner eigenen historischen Position“, unterstreicht Pabst. Realiter waren zu DDR-Zeiten die Begriffe seiner poetischen Selbstreflexion ganz andere: Augenblickscharakter, Alltäglichkeit, Monolog. Nach dem Systemwechsel aufs transhistorische Gedicht zu setzen, versprach eben eine klarere und aufsehenerregendere Antithese zum geschichtsphilosophischen Drama.

Der Shootingstar der frühen 90er wird auch deshalb einer, weil er die Distinktion zum arriviertesten Ost-Avantgardisten zum günstigsten Zeitpunkt markiert. Die Verneinung historischen Fortschritts zugunsten der Physiologie ‒ und das auch noch im Namen Georg Büchners! ‒, ist erst recht dazu angetan, altvordere Ostdialektiker im literarischen Feld zu musealisieren respektive zu provozieren. Letzteres gelingt nachweislich beim verärgerten Büchner-Preisträger Volker Braun.

Kurz, statt einfach Einzelstudien aneinanderzureihen, macht Post-Ost-Moderne eine den Umbruch von ’89 überdauernde Formation von Ostautoren sichtbar. Denn gleich, ob sie voneinander lernen oder Abstand nehmen, ähnliche oder konfligierende Mentalitäten zeigen, sie beziehen sich aufeinander. Dass Grünbeins „Schreiben nur eingeschränkt von kritischen Motiven angetrieben wird“, macht ihn dabei zur Ausnahme in einer Gruppe, deren Regel Kritikbereitschaft heißt, sei es sprachzentrierte oder politische. Ein zähes Nicht-einverstanden-Sein, auch wenn sich an der Intellektuellendämmerung der 80er geschulte Querköpfe wie Jirgl ihrer bescheidenen Wirkungsmacht bewusst sind.

Etwas zu einfach macht es sich Pabst, wenn er zum Schluss das ostdeutsche Festhalten an Kritik den westdeutschen Schriftstellern der Generation 1950ff. entgegensetzt, denen wegen der „Imprägnierung eines Codes der Marke und des Pop“ „Verzicht auf Kritik“ eigen sei. Mit der Pauschalisierung unterschätzt er die Unterschiede zwischen der ersten, poplinken Generation (um Diedrich Diederichsen, Rainald Goetz) und der zweiten, in der Tat politisch indifferenten und markenorientierten (um Christian Kracht). Dass Pop per se kritikfrei sei, ist ein weit verbreitetes Missverständnis, man lese nur Goetz’ Kontrolliert (1988).

Doch will der Rezensent das lediglich als halben Einwand verstanden wissen. Betrachtet man die deutschen Autorenjahrgänge von 1950 bis Mitte der 1960er-Jahre im Ganzen, benennt Post-Ost-Moderne zweifellos vorhandene Tendenzen von verblüffender longue durée. Auf der Westseite haben viele eine Ironie- oder Spaßzentriertheit inkorporiert, die Ostautoren häufig seicht vorkommt, während umgekehrt deren heiliger Ernst Westkollegen nervt. Ausnahmen sind angebbar (Thomas Brussig!), aber was Pabst registriert, sind die Dominanten beider Seiten. Anders gesagt: Er sieht den Wald vor Bäumen noch, was zum Niveau des ganzen Buchs passt. Konzeptionelle Umsicht, argumentative Präzision und theoretische Beschlagenheit, dazu der stets gediegene und nie geschraubte Stil kennzeichnen einen Literaturwissenschaftler von Format.

Titelbild

Stephan Pabst: Post-Ost-Moderne. Poetik nach der DDR.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
484 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835317611

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