Lyrik performativ entfaltet
Ein literaturwissenschaftlicher Sammelband macht Lust auf Gedichte
Von Heike Henderson
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs kommt nicht sehr oft vor, dass ein literaturwissenschaftlicher Sammelband zugleich erhellt und erfreut, ein Thema ausführlich beleuchtet, theoretisch fundiert argumentiert, neue Perspektiven ausführt, und lustvoll zu lesen ist. Genau das ist jedoch der Fall bei Phänomene des Performativen in der Lyrik, ein von überwiegend jungen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen konzipierter und ausgearbeiteter Band, der einen umfassenden Einblick in die neueste Forschung an der Schnittstelle zwischen Lyrikologie und Performativitätstheorien gibt.
Die umfangreiche Einleitung erörtert das Performative in Theorien der Lyrik und umgekehrt Lyrik in Theorien des Performativen. Die Herausgeber Anna Bers und Peer Trilcke entfalten eine ausführliche Sichtung und Diskussion der bisherigen Forschungsansätze zu dem Thema. Sie eröffnen auch theoretische Perspektiven, indem sie Vorschläge zu einer künftigen Terminologie anbieten, die verschiedene Phänomene des Performativen (Performance, Performbarkeit, Performanz und Performativität) voneinander abgrenzen. Dieser Versuch der Begriffsdefinition erlaubt eine thematische Annäherung, die einen klaren Rahmen für die folgenden Fallanalysen und theoretischen Erörterungen steckt. Der Band endet mit den Antworten auf einen kurzen Fragebogen über den Trend zur Performance in der Lyrik-Szene, den Bers und Trilcke an fünf LyrikerInnen und eine Literaturhausleiterin gerichtet hatten.
Von den anschließenden Beiträgen, die sich allesamt durch eine sehr hohe Qualität auszeichnen, sollen die folgenden besonders herausgehoben werden: Anneka Metzgers „Der Performanz entkommst du nicht“ fragt danach, wie Gedichte in verschiedenen öffentlichen Feldern (literarische Öffentlichkeit, deutsche Universitäten, Verlage, Feuilletons, Werbung) behandelt werden und wie Poesie das Handlungspotenzial der Sprache herausfordert. Am Beispiel der Konzeptkunst erarbeitet sie dann einen Bezugsrahmen für lyrische Phänomene des Performativen. Lydia Christine Michels „Von mir – zu euch – für uns“ bietet eine ausgezeichnete Fallanalyse zur Performativität in/von Peter Rühmkorfs Gedichten. Julia Novaks Artikel „Live-Lyrik“ widmet sich der Rolle des Körpers in Lyrik-Performances. Am Beispiel von Poetry Slams untersucht sie außerdem das Spiel mit Sprecher-, Autorinnen- und Text-Ich, das sich an bewussten oder verweigerten Identifikationen abarbeitet. Diese spannungsreiche Beziehung ist auch der Gegenstand von Annie Rutherfords Beitrag „Parodie, Dialog und subversive Erzählerinnen“, der die Aushandlung von Identitäten in zwei Performances von Patience Agbabi untersucht.
Rüdiger Singers „Oh hätt ich seine Stimme“ untersucht die Rolle des impliziten Rezitators in der Lyrik, der mitunter in einem produktiven Spannungsverhältnis zur tatsächlichen Rezitation steht. Da sein Blick auf die Lyrik von der eines „dilettierenden Rezitators“ geprägt ist, zeichnen sich die Ergebnisse seiner Untersuchung dadurch aus, dass sie performativ entstanden sind. Christine Künzel schließlich widmet sich in ihrem Text „Performing Poetry“ der performativen Interpretation. In dem wohl praxisnahsten Beitrag des Bandes liefert sie Anregungen zum performativen Umgang mit Gedichten im Unterricht. Anhand des oft interpretierten Rilke-Gedichts „Der Panther“ zeigt sie, dass die literaturwissenschaftliche Perspektive durch eine performative Umsetzung des Gedichts neue Impulse erhalten kann.
Ein hervorstechendes Merkmal dieses Sammelbandes ist die wissenschaftliche Fundierung und klare Argumentation der versammelten Texte. Darüber hinaus leistet er etwas, das nur wenige akademische Texte vermögen: Er macht Lust auf Gedichte. Lust sie zu lesen, zu hören, zu erleben.
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