Martin Luther ganz nah

Die Oxford-Historikerin Lyndal Roper schaut auf den Menschen Luther

Von Jürgen NemitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Nemitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich biografisch mit der Person Martin Luther beschäftigt, übernimmt eine komplexe Aufgabenstellung. An Quellen herrscht kein Mangel. Die Selbstzeugnisse in Form der Schriften, Briefe und Tischgespräche, die gebündelt in der Weimarer Ausgabe vorliegen, bieten Lesestoff für ein Forscherleben, wenn man in Rechnung stellt, dass alleine der historisch-theologische Kommentar zu Luthers Adelsschrift von 1520 aus der Feder von Thomas Kaufmann rund 550 Seiten umfasst. Die Luther-Biographie der australisch-britischen Frühneuzeithistorikerin Lyndal Roper unternimmt nicht zuletzt auf der Basis dieses Materials, das Roper jahrelang zusammen mit ihren Studierenden an der Universität Oxford erforscht hat, einen neuen Blick auf das Leben eines Mannes, der kaum je den eng begrenzten Raum des Dreiecks Mansfeld, Erfurt und Wittenberg verlassen hat, aber dennoch die Welt des westlichen Christentums nachhaltig veränderte. Sie betrachtet Luthers Aufzeichnungen nicht nur als theologische oder politische Zeugnisse, sondern sieht insbesondere in Luthers Briefen ein Fenster zu dessen Innenleben, in dem eben nicht nur genuin theologische Fragen, sondern auch Ängste oder irdische Begierden ihren Rang einnahmen. In ihrem Dankeswort reklamiert sie dann auch konsequenterweise einen „psychoanalytischen Blick auf Luthers“ Charakter und nimmt damit den Faden von Erik Erikson wieder auf, ohne sich freilich nur auf den „jungen Luther“ zu beschränken.

Innerhalb der umfangreichen Biographik, die angefangen bei Melanchthon und Johannes Mathesius seit dem 16. Jahrhundert Luther in den verschiedensten Ansätzen beleuchtet und dabei ebenso glorifiziert wie problematisiert hat, findet Roper ihre Nische, indem sie der modernen Luther-Forschung Defizite attestiert, die sich durch die deutsche Teilung und die Perspektiven des Kalten Krieges ergeben hätten. Sie zweifelt nicht, dass die Reformation – um mit Arthur G. Dickens zu sprechen – ein „urban event“ gewesen sei. Die westdeutsche Nachkriegsforschung habe jedoch auf der Suche nach demokratischen Traditionen der Deutschen den Fokus zu sehr auf die oberdeutschen Reichsstädte gelegt und sich zu wenig Luthers mitteldeutscher Heimatregion und damit seiner genuinen kulturellen Herkunft und Verankerung angenommen, während auf der anderen Seite die Historiker der DDR ihre Heldenfigur ohnehin in Thomas Müntzer fanden. Roper hat daher staatliche und kommunale Archive Thüringens und Sachsen-Anhalts aufgesucht, dem Genius Loci nachgespürt und flicht in ihre Darstellung Milieubeschreibungen jener Städte ein, in denen Luther seine jugendliche und adoleszente Prägung erfahren und auch sein späteres Leben verbracht und beendet hat. Sei es Mansfeld mit seiner herrschaftlichen Enge in Sichtweite der Grafenburg, sei es das eher bürgerlich-patrizische Erfurt, das von innerstädtischen Verfassungskonflikten erschüttert wurde, die ihrerseits die rivalisierenden Interessen von Kurmainz und Kursachsen widerspiegelten. Dass Friedrich von Sachsen sich seit 1517 konsequent an die Seite des aufmüpfigen Augustinermönchs stellte, ist aus diesem Blickwinkel weniger eine religiöse Überzeugungstat als vielmehr politisches Kalkül, das sich gegen den Mainzer Erzbischof, den Adressaten der 95 Thesen, richtete.

Luthers Weg von Mansfeld nach Erfurt und schließlich der Eintritt in die kontemplative und asketische Welt des Klosters sind bei Roper Bestandteile einer Persönlichkeitsentwicklung, die einen Rückzug aus der Männlichkeit der ebenso arbeitsamen wie auch rauen und materiell orientierten Welt der Bergknappen und Gewerke darstellte. Zugleich lässt sie Luther hier das Grundmuster des Rechtfertigungsproblems erleben. Noch ehe Luther seine theologische Grundfrage nach dem gnädigen Gott stellt, muss er der Autorität des Vaters die Stirn bieten, dessen Erwartungen in ein „nützliches“ Studium und eine zweckdienliche Ehe des Sohnes er mit dem Gang ins Kloster durchkreuzt hatte.

Teil des Lutherschen Innenlebens sind auch dessen körperliche Selbstwahrnehmung und Psychosomatik. Dabei ist es keineswegs so, dass Autoren vor Roper derartige Beobachtungen gänzlich unterschlagen hätten. So weiß etwa Heinz Schilling in seiner 2012 erschienenen Luther-Biographie zu berichten, dass der Reformator während seines Aufenthalts auf der Wartburg nicht nur die Segnungen einer allzu großzügigen Bewirtung genoss, sondern zugleich von heftigen Verdauungsproblemen heimgesucht wurde. Wo Schilling es mit diesem Hinweis bewenden lässt, fängt Roper erst einmal an und lässt uns Anteil haben an Luthers Stuhlgangsintervallen („vier, manchmal bis zu sechs Tage“) und informiert über die verhärtete Konsistenz von Luthers Exkrementen und die Blutbeimengungen, die dieser in seinem Stuhl beobachtete. Selbstverständlich geht es Roper dabei nicht um die Profanierung ihres Protagonisten, sondern vielmehr um die Darstellung von Körperlichkeit als Teil von Luthers Gesamtpersönlichkeit. Dann lässt sich eben auch zeitweilige Darmträgheit als Ausdruck von „innerer Einkehr“ nach den Aufregungen des Wormser Reichstags deuten, aber auch als Symptom der Anspannung, die Luther auf der Wartburg erlebte. Dagegen hilft, so lernen wir bei Roper, dass man erstens seine ödipalen Probleme löst und zweitens das Neue Testament übersetzt. Dann klappt es auch wieder mit der Verdauung. Angemerkt sei, dass auch der Kölner Ratsherr Hermann von Weinsberg, ein Mann bescheideneren intellektuellen Zuschnitts und von robuster seelischer Konstitution, von seinen Ausscheidungen zu berichten pflegte und man hierin wohl weniger den Spiegel psychischer Befindlichkeiten, sondern unbefangene gesundheitliche Selbstbeobachtung erkennen würde.

Der Fokus auf die innere Person Luther lässt das Buch bis zu einem gewissen Grad geradezu als unpolitisch erscheinen, wenn man einen klassischen Politikbegriff zugrunde legen will. Fast entschuldigend klingt es, wenn Roper anführt, Luthers unerbittliche Schrift gegen die Bauern von 1525 sei ja erst erschienen, nachdem die Sache auf dem Schlachtfeld ohnehin bereits entschieden war. Auch die (möglicherweise recht deutsche) Frage nach den Langzeitfolgen von Luthers Forderungen nach Gehorsam gegenüber der Obrigkeit ficht Roper nicht an. Der einschlägige Abschnitt des Buches umfasst rund 20 Seiten. Luthers Eheschließung und den damit einhergehenden Ausführungen zu Luthers Sexualität und seinen alttestamentarisch vorgeformten Geschlechterbildern sind dem Umfang nach etwa doppelt so viele Seiten gewidmet. Hier wiederum zeigt sich freilich zugleich die Stärke von Ropers mehrschichtiger Darstellung, die es vermeidet, das Luthersche Werk voyeuristisch auszuschlachten, sondern Luthers Einstellungen zur Sexualität in den Kontext seiner augustinisch grundierten Theologie einordnet. Auch die intellektuelle Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam findet hier folgerichtig ihren Platz.

Teilweise wunderbar und überaus ertragreich zu lesen sind die Abschnitte über den gealterten Luther, der sich als nunmehr beleibter Patriarch (und von den Gegnern als „Elbpapst“ verspottet) mit Frau, Kindern und einer vielköpfigen und wechselnden Gästeschar im Wittenberger Schwarzen Kloster fast einer Hofhaltung gleich eingerichtet hatte und auch schon mal Autogramme an Fans verteilte. Der alternde Luther offenbarte Streitlust, aber auch Gehässigkeit und ist für Roper nicht frei von Widersprüchen. Der Mann, der das allgemeine Priestertum gepredigt hatte, gefiel sich darin, Gegner und „Abweichler“ zu demütigen. Angefangen bei Karlstadt so auch bei Bucer anlässlich der Wittenberger Konkordie. Es finden sich selbstverständliche Reste klerikalen Standesverständnisses, wenn etwa Luther 1542 von der persönlichen Zahlung der Türkensteuer ausgenommen war. Der Kontext des späten Luther ist für Roper auch der Ort, an dem sie dessen Judenfeindlichkeit behandelt, wiewohl die Lektüre des Buches eröffnet, dass Luthers bekannte Hetzschrift von 1543 eben keinen altersgrimmigen Ausfall darstellte, sondern in einem biographischen und theologischen Kontinuum zu sehen ist, das schon bei Luthers Beichtvater Staupitz einsetzt und am Ende mit der Forderung nach Auslöschung der jüdischen Kultur für Roper in einer qualitativen „Weiterentwicklung“ der traditionell repressiven, aber doch auf Duldung angelegten Judenfeindschaft gipfelte. Mithin macht es Roper dem Leser unmöglich, Luthers Haltung zu den Juden als „zeittypisch“ zu bagatellisieren.

Roper ist ein Buch gelungen, das seinem Anspruch gerecht wird, ganz nah bei der Person Luther zu sein, indem sie seine Selbstzeugnisse ernst nimmt und diese zugleich mit fundiertem, nicht zuletzt auch theologischen Wissen zu kontextualisieren weiß. Das Buch wird künftig zu den bedeutenden Biographien des Reformators gerechnet werden.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Lyndal Roper: Der Mensch Martin Luther. Die Biographie.
Übersetzt aus dem Englischen von Holger Fock und Sabine Müller.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
730 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783100660886

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