Abenteuer Interdisziplinarität

Über einen Rückblick auf die Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ in Form von Interviews mit Beteiligten

Von Petra BodenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Boden und Rüdiger ZillRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rüdiger Zill

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik sich 1994 nach 17 Tagungen auflöste, schien sie ihre Aufgabe erfüllt, mancher meinte sogar: sich selbst überlebt zu haben. 1963 war sie von Hans Blumenberg, Clemens Heselhaus, Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß in Gießen als interdisziplinäre Plattform gegründet worden. Man traf sich fortan alle zwei Jahre, zunächst an wechselnden Orten, ab dem VI. Kolloquium schließlich in Bad Homburg bei der Werner Reimers Stiftung, die dann auch die Finanzierung übernahm.

Poetik und Hermeneutik war nicht die erste, aber die vielleicht einflussreichste interdisziplinäre Forschungsgruppe in den Geisteswissenschaften – das wird vor allem im Nachhinein langsam sichtbar. Seit einigen Jahren nimmt ihr Nachruhm eher zu, ebenso die Aufmerksamkeit für ihre Leistungen, aber auch für ihre Grenzen. Inzwischen ist sie zum Gegenstand verschiedener wissenschaftshistorischer Forschungsprojekte geworden.[1]

Zwar sind die vier Gründungsväter längst verstorben, doch eine Reihe von anderen, teils hochbetagten Teilnehmern der Gruppe auch aus der ersten Generation, können noch Auskunft geben. Es galt also, die vielleicht letzte Gelegenheit wahrzunehmen, sie nach ihren Erfahrungen und Erinnerungen an die insgesamt über dreißigjährige Arbeit des Kreises zu befragen. Zwischen November 2013 und April 2016 führten wir insgesamt 18 Interviews. Das wichtigste Kriterium für die Auswahl unserer Gesprächspartner war, dass sie mit einer gewissen Häufigkeit an den Kolloquien teilgenommen hatten, sei es in der Rolle der so genannten Archonten, also der Mitglieder, die während der Planungssitzungen auch die weitere Arbeit der Gruppe mit bestimmten, sei es als von der Kerngruppe geschätzte Kollegen, die wegen ihrer Kennerschaft zu den jeweils verhandelten Sachthemen immer wieder eingeladen wurden. Ebenso kam es uns darauf an, in der Generations- und Disziplinenzugehörigkeit das Spektrum der Gruppenarbeit möglichst breit abbilden zu können. Von den Befragten war nur Karlheinz Stierle bei fast allen Kolloquien, zunächst als studentischer Protokollant, bald aber schon als Mitbeiträger und –diskutant, wenig später dann als einer der wichtigen Organisatoren. Einige der anderen konnten vor allem von der Frühzeit Zeugnis ablegen – wie Dieter Henrich oder Harald Weinrich, aber auch der damalige Assistent von Hans Blumenberg, Ferdinand Fellmann –, andere gehörten zur jüngeren Generation, die erst an den späteren Kolloquien mitgewirkt hat – etwa Renate Lachmann, Jürgen Schlaeger, Anselm Haverkamp, Gabriele Schwab oder Jan und Aleida Assmann. Wieder andere waren zwar nur sporadisch, dafür aber immer wieder dabei – wie Hermann Lübbe oder Christian Meier. Eine Ausnahme ist Helga Jauß-Meyer, die nie selbst an den Treffen teilgenommen hat, die wir aber dennoch befragten, weil wir uns von der Ehefrau des Spiritus Rectors der Gruppe, Hans Robert Jauß, spezielle Einblicke in den Innenraum der Gruppengeschichte aus einer privilegierten Außenperspektive versprachen. Die Blickwinkel waren also durchaus sehr verschieden.

Hatten wir uns von diesen Interviews zunächst zusätzliche Informationen über Hintergründe und Zusammenhänge erhofft, die über das in den Archiven überlieferte Material hinausweisen, so zeigte sich bald, dass die intensiven Gespräche mit den Teilnehmern, die in mehreren Arbeitsgängen noch einmal redigiert und überarbeitet worden sind, vor allem eine Übung in Memoria – übrigens auch eines der Kolloquiumsthemen – waren. So zeigte sich auf den ersten Blick eine Diversität, ja oft sogar Widersprüchlichkeit des Erzählten, die über den unterschiedlichen Zeitpunkt der Teilnahme und damit auch über die durch die Entwicklung der Gruppe selbst bedingten Erfahrungsunterschiede weit hinausging. So wie „Temperament, Leidenschaft und kräftige Persönlichkeiten“ (Christian Meier)[2] die einzelnen Treffen der Gruppe selbst prägten, so formten diese Eigenschaften auch die Erinnerungen. Legt man aber all die Berichte der Befragten neben- und übereinander, ergibt sich ein Gesamtbild, das die Stimmigkeit eines kubistischen Gemäldes erreicht. An die Stelle einer Eindeutigkeit suggerierenden Zentralperspektive tritt die Anschauung durch ein Facettenauge.

Ohne Zweifel hat die Gründergeneration, die in den ersten Jahren nach dem Krieg studiert und ihre prägenden intellektuellen Erfahrungen gemacht hat, die inhaltliche Ausrichtung der Gruppe nachhaltig bestimmt. Das trifft vor allem auf die Wissenschaftler zu, die entweder in Heidelberg bei Hans-Georg Gadamer, Karl Löwith und Gerhard Hess oder in Münster bei Joachim Ritter und Heinrich Lausberg studiert haben. Die gemeinsame Studienzeit war vor allem für die Heidelberger „ein ganz starkes, ein emotionales Moment, das dann auch für den Zusammenhalt von Poetik und Hermeneutik Bedeutung hatte“ (Wolf-Dieter Stempel). Hier lagen u.a. die Wurzeln für den gemeinsamen Willen, eine neue Wissenschaft an der Universität zu etablieren. „Alle einte die Erkenntnis, dass auch die Wissenschaften und die Universitäten nicht im alten Stil weitermachen konnten“ (Helga Jauß-Meyer), wobei allerdings die eigene Vergangenheit ausgeblendet blieb. Die Mitgliedschaft von Hans Robert Jauß in der Waffen-SS (um nur das prominenteste Beispiel zu erwähnen) wurde erst später bekannt, aber nicht thematisiert. Umso mehr spielte sie dann, nach den jüngsten Debatten an der Universität Konstanz, auch in die Interviews hinein.

Inhaltlich war zunächst der Begriff „Hermeneutik“ Programm, später versammelten sich viele der Beteiligten an der damals neu gegründeten Universität Konstanz, wo auch die Rezeptionsästhetik, die den Ton mancher Diskussion vorzugeben suchte, ihr Zentrum hatte. Christian Meier erinnert sich: Bestimmte Theorien „hatten sich zum Teil schon in den lebhaften Konstanzer Diskussionen ausgebildet, von denen die, die von außen kamen, nichts wußten. Einmal hat Jacob Taubes sich geradezu bedankt dafür, daß irgendeiner der Konstanzer uns in einem Diskussionsbeitrag über einige opinion leader und den Stand der Konstanzer Diskussionen orientiert hatte.“ Doch schon früh gab es auch immer wieder Stimmen, die etwa den Strukturalismus zu seinem Recht kommen lassen wollten. Zudem schlugen natürlich starke Denker wie Hans Blumenberg und Reinhart Koselleck ohnehin ihren je eigenen Ton an.

Was dabei von heute aus vielleicht nicht mehr deutlich wird, hat Anselm Haverkamp in Erinnerung gerufen: Die hier versammelten Vertreter dieser Generation „betrieben die Sache gegen ihre Profession, gegen den überwiegenden Mainstream der Disziplinen“. Hans Ulrich Gumbrecht sah deshalb auch für die ersten Kolloquien eine „Ursprungsleidenschaft“ am Werk, eine Atmosphäre „der starken polemischen Positionen einer damals neuen Generation“, die dann aber bald – etwa nach den ersten fünf Treffen – von einer Haltung abgelöst worden sei, die „eher ein intellektuelles Arbeitsprogramm als eine Passion“ war. „Für das letzte Drittel würde ich sagen – und das ist schon eher ein kritisches Wort –: Es war vor allem geistreich.“

Dennoch blieben die Tagungen der Gruppe für viele etwas, das Wolf-Dieter Stempel mit Blick auf das V. Kolloquium in der Wendung „Interdisziplinarität als Abenteuer“ verdichtet hat: ein Unternehmen also, das glücken konnte oder misslingen, das immer aber eine besondere Intensität hatte, eine Situation gegenseitiger Stimulation: „Bei Poetik und Hermeneutik handelte es sich […] um einen Kreis von Koryphäen, die die anderen brauchten, um zu ihrer äußersten Hochform aufzusteigen. Das kann auch ein Grund sein für Interdisziplinarität. Die Kollegen bildeten eine kreative Plattform für eigene Großprojekte“. So charakterisiert Aleida Assmann die Gipfeltreffen des Geistes aus der Perspektive einer späteren Expeditionsteilnehmerin. Und Manfred Frank, der mit Stierle und Rainer Warning zur mittleren Generation gehörte, sieht den Kreis durch die Brille seiner Romantik-Studien: „Der Geist wehet, wo er will. So muss man diese Gruppe beschreiben. Sie war ein Konsortium von Menschen, die die seltene Erfahrung machten, dass durch das Symphilosophieren etwas herauskommt, was niemand für sich allein hätte sich ausdenken können – die Romantik war immer mehr oder weniger unausgesprochen ein Vorbild für diese Art von gemeinschaftlicher Verfertigung eines Denkergebnisses. … Geist im Hegel’schen Sinne ist, was geschieht, wenn zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, und er ist mitten unter ihnen. Er ist nicht messbar, er ist nicht greifbar, er hat auch keinen Geruch, und Kognitionsneurologen wissen nicht genau, mit welchem Tomographen sie seine Gegenwart und Intensität messen sollen.“ In ähnlich enthusiastischer Weise beschreibt auch Karlheinz Stierle die gemeinsamen Diskussionen: „Das Verhältnis von Wettbewerb, Ehrgeiz, freundschaftlicher Zuwendung in den Gesprächen selbst war überaus fruchtbar. Es war in anthropologischem Sinne eine Art Potlach, ein Fest, bei dem jeder schenkte und beschenkt wurde. Selbstverständlich konnte das Gespräch sich auch zu Kontroversen zuspitzen, in denen zumeist mit dem Florett, manchmal aber auch mit dem Säbel gefochten wurde. Verletzungen waren bei dem urbanen Ton, der gleichwohl gewahrt wurde, relativ selten.“

Dennoch spürt man bei all der Produktivität gegenseitiger Inspirationen doch auch einen Unterton von Konkurrenz, so wenn Stierle über Blumenberg sagt, dass er sich ungern von Literaturwissenschaftlern in seine Disziplin hineinreden ließ, während er für sich aber in Anspruch genommen habe, jederzeit in Sachen Literatur auf Augenhöhe mitzudiskutieren.

Auch Warning greift diesen Punkt auf, wenn er bescheiden konzediert: „Sagen wir mal so: Die Gruppe der Philosophen, die ich eben angesprochen habe, hatte untereinander mehr Spannung im besten Sinne und hatte deshalb für die Außenseiter große Attraktion. Die Literaturwissenschaftler haben insbesondere von Blumenberg viel gelernt, aber auch von Henrich, auch von Taubes. Die Gruppe Jauß, Preisendanz, Iser, die Literaturwissenschaftler also, hatten nicht diese Spannkraft untereinander.“

Dieter Henrich hat allerdings darauf hingewiesen, dass man sich gerade in den ersten Jahren gar nicht so sehr als interdisziplinär im heutigen Sinne verstanden hatte, sondern eher vor einem gemeinsamen Bildungshintergrund und mit einem gemeinsamen Interesse diskutierte. Oder wie Frank es auch beschrieb: „Interdisziplinarität fand statt, war aber nicht Thema theoretischer Überlegungen. Es wurde nicht wie heute darüber nachgedacht, warum wir hier zusammen sind und was Interdisziplinarität ist und dass die ganze Welt durch sie erlöst werden soll. Wir kamen nur aus verschiedenen Fächern, und der Ball hatte zu rollen. Das heißt, das Gespräch hatte nie zu versiegen.“

Was die einen als vor allem belebend erfuhren, wurde für andere durchaus zu einer einschüchternden Wahrnehmung, vor allem für später Dazugestoßene. Für Renate Lachmann hatte die Atmosphäre im Sitzungsraum etwas sehr Förmliches und Zeremonielles, sie schien ihr durchtränkt von einem Gefühl eigener Wichtigkeit, das die Redner ausstrahlten. „Wer wie ich zum ersten Mal dabei war, konnte eine gewisse Beklemmung nicht loswerden. Es konnte einen fast so etwas wie ein Examensgefühl befallen. Man hat sich wahnsinnig angestrengt und war bemüht, ganz präzis zu formulieren. Die Kultivierung der Genauigkeit gehörte ebenso wie ein eleganter, viele Aspekte versammelnder Stil zur Rhetorik der Gruppe.“ Und Aleida Assmann erinnert sich: „Wenn […] eine Einladung kam, hieß das: So, du musst dein Leben ändern! Ab jetzt darfst du nur noch an dieses Thema denken, guck mal, wo du irgendetwas findest, womit du dich auf dem Kolloquium nicht blamierst. Und dann ging man unglaublich intensiv ans Werk und versuchte, die ganze Literatur zu lesen und alles zu durchschauen und möglichst viel zu erfassen, weil man ja nicht nur seinen Text abliefern, sondern dann auch noch respondieren und zwei Stunden Diskussion durchstehen musste. Dieser Druck ließ sich nicht dauerhaft aufrechterhalten.“

Jürgen Schlaeger ergänzt aus einer theoriepolitischen Perspektive, dass die Jüngeren nicht mehr die Chance hatten oder unter dem Druck standen, sich ein Feld erst einmal neu zu erarbeiten, sondern sich stärker in einer vorgegebenen Theorielandschaft positionieren mussten. Das geschah unter anderem etwa dadurch, dass sie bei den Kolloquien auf eine Berücksichtigung post-strukturalistischer Positionen bestanden. Gabriele Schwab versuchte mit ihren teils heftig kritisierten Beiträgen eine stärkere Öffnung der Gruppe „im Blick auf die engagierten Theoriedebatten vor allem in Frankreich und den USA“, etwas, das sich zum Beispiel auch in der Einladungspolitik der von Frank, Haverkamp und Lachmann mitverantworteten Kolloquien niederschlug, sich aber nicht durchsetzen konnte.

Im Nachhinein sind sich aber alle Befragten einig, dass in der Situation der heutigen Universität Treffen wie die von Poetik und Hermeneutik mit diesem Aufwand an Vorbereitung und zugleich der Verpflichtung, eine ganze Woche lang mit den Kollegen zu diskutieren, nicht mehr denkbar sind. Diese Intensität und die Fülle der Themen schlägt sich auch in dem im Anhang veröffentlichten Gesamtinhaltsverzeichnis der 17 Bände nieder, in denen nicht nur die Vorlagen, sondern in unterschiedlicher Form auch die Diskussionen festgehalten werden sollten. Im Dokumentationsteil unseres Interview-Bandes sind darüber hinaus die Exposés abgedruckt, mit denen zu den einzelnen Tagungen eingeladen wurde und die nur in wenigen Ausnahmefällen Eingang in die Vorworte der Bände gefunden haben. So lässt sich eine Einsicht gewinnen in die Differenz von Plan und Realität dieser Kolloquien.

Hinweise: Befragt wurden Aleida und Jan Assmann, Ferdinand Fellmann, Manfred Frank, Hans Ulrich Gumbrecht, Anselm Haverkamp, Dieter Henrich, Helga Jauß-Meyer, Renate Lachmann, Thomas Luckmann, Hermann Lübbe, Christian Meier, Jürgen Schlaeger, Gabriele Schwab, Wolf-Dieter Stempel, Karlheinz Stierle, Rainer Warning und Harald Weinrich. Die Einleitung zu dem Band und das Interview mit Karlheinz Stierle finden sich als Leseproben unter: https://www.fink.de/uploads/tx_mbooks/9783770561155_leseprobe.pdf

Anmerkungen

[1] Im Rahmen der Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“, das zwischen 2006 und 2011 an der Universität Konstanz gefördert wurde, fand vom 28.-29.11. 2008 ein Workshop zum Thema  „Die Forschergruppe „Poetik und Hermeneutik“. Erschließen – Historisieren – Aufgreifen“ statt. Die Beiträge dieses Workshops wurden abgedruckt in: IASL 2010, Bd. 35, H. 1, Schwerpunkt – Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften. Am Beispiel von „Poetik und Hermeneutik“, S. 46-142. Im folgenden Heft wurde eine darauf reagierende „Forschungsdiskussion“ veröffentlicht, vgl. IASL 2010, Bd. 35, H.2, S.136-157. Eben erschienen ist die Dissertation von Julia Amslinger, Eine neue Form von Akademie. Poetik und Hermeneutik – Die Anfänge, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2017. Ein Aufsatz von Petra Boden, den sie im Rahmen ihres DFG-Forschungsprojektes zur Geschichte der Gruppe verfasst hat, „Geschichtsphilosophie vs. Anthropologie. Ästhetisches Denken in der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik“, erscheint demnächst in Britta Hermann (Hg.), Anthropologie und Ästhetik. Interdisziplinäre Perspektiven, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag.

[2] Dies und alle folgenden Zitate sind dem von uns herausgegebenen Band (siehe unten!) entnommen.

Titelbild

Petra Boden / Rüdiger Zill (Hg.): Poetik und Hermeneutik im Rückblick. Interviews mit Beteiligten.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
619 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783770561155

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch