Die ganze Welt in einem Aufzug

Der Roman „Das weiße Leintuch“ des litauischen Autors Antanas Škėma (1910–1961) ist erstmals auf Deutsch erschienen

Von Sabrina WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabrina Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Getriebener. Er muss ganz außer Atem sein, so kurz und abgehakt sind die Sätze. Und die Welt um ihn: lärmend, schrill, flüchtig. „Tick tick tick tick“ macht es unaufhörlich. Das „Herz schlägt zu schnell“, die Finger werden nicht warm. Nach nur einer Seite schnappt auch der Leser nach Luft, ist mittendrin im New York der frühen 1950er-Jahre, eingefangen von dieser Momentaufnahme aus dem Leben Antanas Garšvas. Die Sätze werden länger, die Sprache komplexer und auch die Verhältnisse immer komplizierter.

Antanas Garšva ist der Protagonist im Roman Das weiße Leintuch des 1910 im damals russischen Lodz geborenen Autors Antanas Škėma. Zwischen 1952 und 1954 geschrieben, gilt er als einer der bis heute einflussreichsten litauischen Romane. Im Frühjahr dieses Jahres ist er im Berliner Guggolz Verlag erstmals auf Deutsch erschienen und von der deutschsprachigen Literaturkritik einhellig gelobt worden. Allein der Aufmerksamkeit fördernde Effekt durch das Gastland Litauen der diesjährigen Leipziger Buchmesse wird die begeisterten bis zuweilen hymnischen Besprechungen in sämtlichen großen Feuilletons und Literaturbeilagen kaum erklären.

Was aber macht diesen Text mehr als sechs Jahrzehnte nach seiner Entstehung so interessant und anschlussfähig? Der Roman erzählt die Geschichte seines Autors: Schon als Kind von Flucht und Umzügen geprägt, floh Škėma 1944 vor den Sowjets nach Deutschland. Als 1947 sein erster Band mit Kurzgeschichten erschien, lebte er bereits mehrere Jahre in einem Displaced Persons Camp. 1949 wanderte er schließlich– wie viele seiner Landsleute –in die USA aus. Als Fabrikarbeiter und Liftboy hielt er sich über Wasser und schrieb. Seine zahlreichen Beiträge erschienen unter anderem in litauischen Emigrantenzeitungen und -zeitschriften, darüber hinaus veröffentlichte er zwei Bände mit Novellen, Essays und Gedichten.

Ähnlich ergeht es seinem Alter Ego im Roman: Vor den sowjetischen Besatzern aus seiner Heimat Litauen geflohen, arbeitet der Schriftsteller Antanas Garšva als Liftboy Nummer 87 in einem New Yorker Hotel. Die wiederholte Flucht, das Leben in Lagern, der Verlust der Heimat – sie haben ihre Spuren bei dem Gestrandeten hinterlassen. Und Garšva ist krank: Schon als Kind war er schwach und kränklich, Ohnmachtsanfälle begleiteten ihn seit seiner Jugend. Ein Arzt stellte die Diagnose Neurastheniker, ein anderer vermutete eine von der Mutter ererbte Schizophrenie.

Als junger Mann in Kaunas träumte Garšva davon, ein berühmter Dichter zu werden, gar den litauischen Staatspreis eines Tages zu erhalten: „Ich möchte Anerkennung. Ich möchte glücklich sein. Leben möchte ich.“ Doch ahnte schon der jugendliche Schopenhauer-Leser: „Das Leben ist schlecht.“ Schließlich wird ihm dieses Leben alles abringen, doch den Kampf um das eigene Schreiben wird er nicht aufgeben. Im elenden Leben in den Displaced Persons Camps beschwört er vergangene Bilder immer wieder herauf, sucht verzweifelt die eigenen Erinnerungen zu ordnen und eine Sprache dafür zu finden: „Ich konnte nicht mehr träumen. Ich wusste, träumen ist nur noch schriftlich möglich, und nur mit maskiertem Schreiben […]. Nein, Freundchen, Sie dürfen nicht sentimental sein!“

Und gerade das ist ein großes Verdienst des Autors: Bei aller tief empfundenen, traurigen Sehnsucht nach der Heimat lässt Škėma seinen Garšva nicht sentimental werden, gestattet ihm keinen nostalgischen Heimat-Kitsch, wie er nicht selten nationalistisch gefärbt in der Exilliteratur zu finden ist. Darin liegt nur einer der Gründe, die zeitgenössische Kritiker den Roman unpatriotisch, seinen Autor einen Nestbeschmutzer nennen ließen. Zu wenig heimatverbunden auch die literarischen Zitate: Neben in den Text eingesprenkelten alten litauischen Gesängen, sind es Schriftsteller wie Oskar Wilde, Charles Baudelaire, Albert Camus, Ezra Pound, Franz Kafka, Arthur Rimbaud, Friedrich Nietzsche und andere, die Eingang in den Roman finden.

Überhaupt konnten die Zeitgenossen Škėmas Literatur wenig abgewinnen, der Autor schien seiner Zeit voraus. Heute macht ihn gerade seine Eigenschaft, nicht recht in Kategorien –politische und nationalstaatliche oder aber sprachliche und stilistische – passen zu wollen, im besten Sinne modern. Škėma war Lyriker, das prägt auch seine Prosa. Mal aneinandergereiht, mal ineinandergreifend versammelt der Roman sprachlich wie formal einen Stilmix der Erzählformen. Die dichte Fülle an Bildern – nicht wenige mythologischen Ursprungs – und die langen, eng gerippten Assoziationsketten dulden dabei nicht einen Moment der Unaufmerksamkeit.

Und thematisch? Der Versuch, die erlebten Traumata, die Verzweiflung an der Gegenwart, eben all die widerstreitenden Gefühle des zu sensibel geratenen Menschen, auf den die Welt ungefiltert einströmt, nicht nur auszudrücken, sondern durch Sprache möglichst zu kontrollieren, ist Škėmas Ansinnen. Dabei lässt ihn sein ganz und gar desillusionierter Blick auf die Welt, die nicht besser oder schlechter zu haben ist, als sie nun einmal ist, heute so hellsichtig erscheinen. Zeitlos sind seine Fragen nach Heimat, nach der eigenen Identität, nach dem richtigen Leben.

Das Gegenbild schließlich zu den traumartigen Bewusstseinsströmen bildet auf der Handlungsebene das enge Korsett des New Yorker Hotelaufzugs, in dem Garšva sein Brot verdient. Inmitten einer Gesellschaft, die Wahrheit und Glück in Konsum und Vergnügen zu finden glaubt, bleibt der allzu empfindsame Kreative fremd, für die Fahrgäste meist unsichtbar. Keiner ahnt, wie sich dieser fremde Mann von dem engen Kasten aus – er nennt ihn einmal seinen „Viehwaggon“ – in Erinnerungen verliert.

Im Aufzug laufen nicht nur die Erzählstränge zusammen, hier kommt die Welt auf wenigen Quadratmetern zusammen, bevor sie sich zu „Hochzeitsfeiern, Versammlungen von Freimaurerlogen, Festlichkeiten zu den Nationalfeiertagen verschiedener Völker, Stomatologenkongressen […], Partys von alten Boxkämpfen, Abendessen von Kardinälen“ und allerlei anderen Anlässen in den verschiedenen Stockwerken des Hotels wieder zerstreut. Dazu setzt, äußerlich stoisch, Garšva, der Hotelboy, immer dasselbe Ritual fort:

Ihre Etage, bitteschön, dankeschön, er drückt auf den Knopf, die Etage, dankeschön, bitteschön, dankeschön […], streckt die Hand mit dem weißen Handschuh aus, fertig, wir fahren nach oben. Er drückt den Griff, die Tür schließt sich, […] bitteschön, dankeschön…, der Gast geht hinaus.

Einerseits schlägt die Gleichförmigkeit des wiederkehrenden Motivs vom steten „up and down“ des Aufzugs einen beruhigenden Takt an. Doch im Zusammenprall mit Garšvas innerem Kampf verstärkt sie dessen Wucht vielmehr. So steckt im steten Auf und Ab eben auch die Aussichtslosigkeit, jemals weiter zu kommen: „In der Sinnlosigkeit von Sysiphos liegt die Wahrheit“, heißt es einmal.

Was aber bleibt? Resignation? Die erneute Flucht? Die Flucht nach innen? In den Wahnsinn? Am Schluss scheint für den Getriebenen, sinnierend am Schreibtisch, ein Moment der Ruhe einzukehren: „Endlich hat sich echte Ruhe eingestellt bei mir. […] Mein Geist hat eine Beziehung zur Welt gefunden. Ich werde unbekannt bleiben wie ein alter japanischer Maler.“ Offen bleibt, wie verlässlich dieser Frieden währt. Fest aber steht: Unbekannt müssen Antanas Garšva und sein Autor Antanas Škėma den deutschsprachigen Lesern dank dieser großartigen Übertragung von Claudia Sinnig nicht bleiben.

Titelbild

Antanas Skema: Das weiße Leintuch.
Mit einer biografischen Skizze von Jonas Mekas.
Übersetzt aus dem Litauischen von Claudia Sinnig.
Guggolz Verlag, Berlin 2017.
256 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783945370100

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