Für ein anderes Indien

Arundhati Roys zweiter Roman lotet das Glück im Unglück aus

Von Thomas SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während man sich auf Deutschlands Straßen über den Diesel-Skandal erregt, ist ein indischer Roman erschienen, der helfen mag, die Dinge zurechtzurücken. Am Rande erzählt er von den Obdachlosen Delhis, die herausgefunden haben, dass Dieselabgase von Lkws und Bussen wie ein Insektizid wirken. Sie schützen vor dem Denguefieber, dem hunderte Menschen in der Stadt zum Opfer fallen. Doch bewahren die schwarzen Rauschschwaden die nachts am Straßenrand Schlafenden nicht davor, von einem dieser Vehikel überfahren zu werden, wenn dessen Fahrer wegen Übermüdung die Kontrolle über seinen Wagen verliert. Sie könnten aber auch am Steinstaub sterben, der sich tagsüber in ihren Lungen ablagert, während sie Steine für Einkaufsarkaden und die immer schneller in den Himmel schießenden Wohnanlagen zuschneiden.

Dass Arundhati Roy eine Schriftstellerin mit einer klaren Perspektive von unten auf eine vom Kapital durchstrukturierte Welt ist, hat sie bereits in ihren kritischen Essays demonstriert. Dieser politische Standpunkt schimmert auch in ihrem neuen Roman Das Ministerium des äußersten Glücks durch, für den 20 Jahre nach ihrem sensationell erfolgreichen Erstling Der Gott der kleinen Dinge (1997) die Messlatte hoch hängt – und sie hält. Roys Roman präsentiert ein Indien, das seine Wälder rodet, um an ihrer Stelle Hochhäuser und Stahlfabriken zu errichten. Das Flüsse in Flaschen abfüllt, Fische eindost und im Supermarkt verkauft. Dessen Bergbau Gebirge in Raketen zu verwandeln vermag. Das gewaltige Dämme errichtet, die seine Städte aufleuchten lassen wie Weihnachtsbäume. Das seine Slums mit Bulldozern aus Australien niederwalzt, mit dem Ergebnis, dass sich bestimmte Menschen freuen, weil sie zum Shopping nicht mehr ins Ausland reisen müssen. Sie fahren in klimatisierten Autos und nehmen diejenigen jenseits der Glasscheibe nur noch schemenhaft wahr, jedenfalls nicht als Menschen. Damit sie im Stau das verelendete Fußvolk von Krimskrams-Verkäufern nicht sehen müssen, die ihre Schlitten umschwärmen, heften sie ihren Blick fest an die Fassaden der Eigentumswohnungen, die sie kaufen möchten. Im Yoga-Kurs hat man sie ruhiggestellt. Delhis Nachthimmel – ein Sternenmeer! Zumindest oberhalb der Smogglocke, wo heulende Jets wie Kometen herumflitzen. Wer braucht da ein „Ministerium des äußersten Glücks“? Es sind die Untröstlichen, denen Roy ihren Roman widmet. Sie sind auf den Segen des nackten Sufis Sarmad Shaheed angewiesen, den der Großmogul Aurangzeb als Frevler 1671 hat hinrichten lassen. Sein Schrein in der Nähe der Jama Masjid, der größten Moschee Indiens, ist das Ministerium, das dem Roman seinen Titel gibt. An dieses wendet man sich in Old Delhi mit Anfragen, kleine Dinge betreffend, um die sich in der großen Politik keiner kümmert.

Roys locker gestrickter Roman setzt sich aus präzisen Beobachtungen von Straßenszenen und Anekdoten zusammen, die Indiens Alltag so zahlreich hervorbringt. Zusammengehalten wird er von den Parallelbiografien Anjums und Tilos, deren exzentrische Lebensbahnen sich in New Delhis Jantar Mantar kreuzen und schließlich auf einem Friedhof in Shajahanabad, der Altstadt von Delhi, ineinanderfließen. In den Gassen gibt ein Stimmengewirr den Lebensrhythmus vor, dessen Leitmotiv die Aufforderung zur Übertretung des Inzesttabus bildet, oder dessen Androhung. Als Variationen bieten sich Mutter und Schwester an. Fünf Mal am Tag unterbricht der Gebetsruf der Jama Masjid und anderer Moscheen diesen poetischen Strom. Geschworen wird beim „Schwanz der Mutter“. Doch wer diesen Ausdruck für ein Oxymoron hielte, dem mangelt es an Vorstellungsvermögen.

Eine Transperson namens Anjum wird Mutter

Anjum wird in den 1950er-Jahren in einer muslimischen Nachbarschaft Old Delhis geboren, eine Person ohne Eigenschaften, oder genauer: eine mehfil, eine Assemblage von allem und nichts, die sich nicht festlegen lässt. Als Hermaphrodit schließt sie sich einer Gemeinschaft von Hijras an, neuerdings auch „Transpersonen“ genannt, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Segnen von Brautleuten bei Hochzeiten oder der kundigen Befriedigung erotischer Wünsche verdienen. Mangels gesetzlicher Krankenkasse ermöglicht dieser Schritt Anjum die Finanzierung einer chirurgischen Entfernung des Penis. Aber der beauftragte Quacksalber verpfuscht die Vagina derart, dass Anjum zwar Lust geben, doch selbst keinen Orgasmus genießen kann. Ende der 90er-Jahre wird sie insofern zum ersten Mal Mutter, als sie auf den Stufen der Jama Masjid ein Findelkind entdeckt und bei sich aufnimmt.

Die kleine Welt Anjums existiert nicht losgelöst von der imperialen Geopolitik. Als zu Beginn des 21. Jahrhunderts in New York zwei Flugzeuge in Hochhäuser rasen, füllt sich Old Delhi mit Familien aus Afghanistan, die vor dem Bombenhagel von Bushs Armee fliehen. Der indische Premierminister gibt sich poetisch, wenn er vor dem „Muselmann“ warnt, der seinen Glauben durch Terror verbreiten wolle, und heizt so die antimuslimische Stimmung an. Die Bewunderung für Adolf Hitler steigt, der Umgang Deutschlands mit den Juden wird zum Vorbild für Maßnahmen gegen Muslime in Indien.

In dieser Situation erkrankt Anjums Ziehtochter und im Schrein von Nizamuddin rät man ihr zu einer Pilgerfahrt nach Gujarat. Doch die Reise fällt genau in die Zeit, in der dort die Gewalt zwischen Muslimen und Hindus eskaliert. Wochenlang ermordet der Hindu-Mob die muslimischen Nachbarn. Anjum überlebt nur, weil sie das Glück hat, dass die Mörder glauben, es bringe Unglück, wenn sie eine Hijra töten. Der indische Bundesstaat Gujarat wird regiert von einem Chief Minister aus derselben Partei wie der indische Regierungschef. Während die einen denken, dass man ihn wegen Massenmords zur Rechenschaft ziehen sollte, nennen ihn seine Wähler Lalla – Liebling. Unter diesem Namen taucht er immer wieder im Roman auf. Ein Schelm, wer Ironisches dabei denkt! Juristen, die auf eine Beleidigungsklage erpicht sind, seien zudem auf die Titelei des fiktiven Werks verwiesen, die versichert, dass sich etwaige Ähnlichkeiten mit realen Personen wie den indischen Ministerpräsidenten der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party, Atal Bihari Vajpayee und Narendra Modi, nur rein zufällig ergeben hätten.

Traumatisiert kehrt Anjum aus Gujarat zurück, zieht aus der Hijra-Wohngemeinschaft aus und richtet auf einem Friedhof ein Gästehaus ein, das sie Jannat nennt: Paradies. Dort finden sich nach und nach andere Hijras ein, die Ausgestoßenen der Ausgestoßenen. Anjums wichtigster Mitbewohner wird ein Chamar, ein Unberührbarer aus der Kaste der Abdecker, der mit ihr die Erfahrung der Attacke eines Hindu-Mobs teilt, verbunden mit dem Schuldgefühl, überlebt zu haben. Zusammen besuchen sie im Jahr 2011 das Jantar Mantar, die alte Sternwarte Delhis.

Das Findelkind von Jantar Mantar

Die Gegend um das Jantar Mantar ist auch ein bedeutendes soziales Observatorium für Indien, weil hier verschiedene soziale Bewegungen regelmäßig ihre Proteste artikulieren. Wenn sie sich gegen die Korruption richten, finden sich schnell auch Repräsentanten, um die Spendengelder der Industriellen zu kassieren, die mit ihren Bestechungsgeldern noch jeden korrumpiert haben. Hier versammeln sich auch die Opfer der Gas-Katastrophe, die sich 1984 in Bhopal ereignet hat. Sie machen darauf aufmerksam, dass Warren Anderson, der CEO der verantwortlichen Firma Union Carbide, mehr Leute auf dem Gewissen hat als Osama bin Laden. Eine Vereinigung von Müttern versucht, das Verschwinden ihrer Söhne im Freiheitskampf um Kashmir anzuprangern. Dann ist da noch eine Gruppe, die Unterschriften sammelt für die Freilassung politischer Gefangener. Es heißt, dass es sich um eine Frontorganisation maoistischer Guerillakämpfer handle. Eine Aktivistin aus dieser Fraktion lässt mit schlechtem Gewissen ihr Baby zurück, das sie im Waldgebiet von Dandakaranya geboren hat. Sie hat sich dort gegen die 2008 von der indischen Regierung initiierte Operation Green Hunt zur Wehr gesetzt, mit der paramilitärische Truppen die Adivasi, die eingesessene Bevölkerung, zu vertreiben suchen, um ihr Land der Bergbauindustrie zu öffnen. In einer als Schule getarnten Polizeistation vergewaltigen sechs Polizisten die Frau. Ihr Kind ist der symbolische Fluchtpunkt des Romans. Als Anjum dieses ausgesetzte Baby für sich reklamiert, bricht ein Tumult am Jantar Mantar aus, den erst ein Polizeieinsatz beendet. Das Kind indes ist verschwunden – mitgenommen hat es Tilo, deren Geschichte im zweiten Teil des Romans rekonstruiert wird.

Tilos Reise durch die Hölle Kashmirs

Tilo ist etwa 10 Jahre jünger als Anjum, stammt aus Kerala und geht zum Studium der Architektur nach Delhi. 1984 etablieren drei Männer eine emotional recht intensive Beziehung zu ihr, während sie ein Theaterstück proben: Biplab, Naga und Musa. Indien droht auseinanderzubrechen in diesem Jahr, in dem nicht nur Tausende im Gas von Bhopal sterben, sondern auch tausende von Sikhs, weil einer der ihren Indira Gandhi ermordet hat. Auch das Quartett scheint zu zerfallen, doch lässt der Roman die biografischen Fäden in Kashmir zusammenlaufen, wo Ende der 1980er-Jahre ein höllischer Bürgerkrieg entbrennt. Biplab macht dort Karriere als Dienststellenleiter des staatlichen Geheimdienstes. Naga arbeitet als Journalist, der sich wegen seiner ausgeglichenen Berichterstattung auch Respekt bei den Freiheitskämpfern verdient. Der dritte Mann, Musa, hat sich zwar mit Tilo verlobt, gründet aber zurück in seiner Heimat Kashmir 1991 mit einer anderen Frau eine Familie. Grenzschutztruppen erschießen 1995 diese Frau und die dreijährige Tochter, Miss Jebeen. Sie werden zu zivilen Opfern der Aufstandsbekämpfung und zu Märtyrern des militanten Widerstands, dem sich Musa konsequent anschließt. Eine Reise zu ihm nach Kashmir wird Tilo fast zum Verhängnis, denn sie wird im Zuge der Fahndung nach Musa verhaftet. Aus dem Folterzentrum von Srinagars Shiraz Cinema rettet sie nur der Kontakt zu Biplab, der Naga autorisiert, sie abzuholen. Tilo folgt dem Rat Musas, den Journalisten zu heiraten, der ihr Schutz bieten soll vor weiterer Verfolgung. Musas Kind lässt sie in einem von Delhis krass überbelegten Regierungskrankenhäusern abtreiben, denn sie hält sich für eine unzumutbare Mutter. Als sie nach dem Eingriff wieder halbwegs zu sich kommt, fühlt sie sich wie in einem Kriegslazarett, obwohl in Delhi gar kein Krieg herrscht, sieht man einmal von dem gängigen Krieg der Reichen gegen die Armen ab. 15 Jahre später ist ihre Ehe am Ende. Tilo nimmt am Jantar Mantar das erwähnte Baby an sich und tauft es Miss Jebeen die Zweite.

Die Schule des Glücks auf einem Friedhof

Die Engführung der Erzählstränge von Tilos und Anjums Biografie spielt sich auf dem Friedhof ab, auf dem letztere ihr Gästehaus errichtet hat. Tilo zieht dort ein, als Lalla 2014 Ministerpräsident Indiens wird, seine Studententruppen die Universitäten stürmen und anfangen, Bücher zu verbrennen. Miss Jebeen die Zweite gewinnt in ihrer neuen Heimat neben ihren sechs Vätern mit Anjum ihre inzwischen dritte Mutter. Die biologische Mutter hält nichts von Hungerstreiks und Petitionen. Solche Mittel helfen aus ihrer Sicht nicht gegen eine Polizei, die vor Ort sengend und mordend, plündernd und vergewaltigend durch die Dörfer zieht. In diesem Kampf stirbt sie. Musa verliert sein Leben im bewaffneten Konflikt um Kashmir und endet in einem namenlosen Grab.

Dass Arundhati Roys politisch engagierte Literatur ein Grabmal ist, ein indischer Erinnerungsort, das signalisiert auch das marmorierte Cover, die Fotografie einer Platte, auf der Rosen abgelegt sind. Doch der Roman kapituliert nicht vor dem Unglück, das Gästehaus nimmt noch die Untröstlichsten auf und wird zur utopischen Keimzelle eines anderen Indiens. Tilo Madam macht sich dort als Lehrerin nützlich. Sie bringt den Kindern, die ihre Schule auf dem Friedhof besuchen, das Rechnen, Englisch und eine Portion Exzentrik bei, von der sich hoffentlich auch eine größere Leserschaft in Deutschland ein Stück abschneidet. Im Gegenzug lässt sich Tilo gern unterrichten in der Kunst, glücklich zu sein.

Titelbild

Arundhati Roy: Das Ministerium des äußersten Glücks. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Annette Grube.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
556 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783100025340

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