Mühsame Orientierung in Festungshaft

Zum elften Band der Erich-Mühsam-Tagebuchedition

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Edition der Tagebücher Erich Mühsams im Verbrecher Verlag wird kontinuierlich fortgesetzt, mittlerweile ist der elfte Band der auf 15 Bände angelegten Buchausgabe erschienen. Verfügbar sind damit zwei weitere Tagebuchhefte (Nr. 33, 34), die die Zeit vom 6. Juli bis zum 2. Oktober 1922 abdecken – drei Monate von insgesamt fünf Jahren Festungshaft, die Mühsam ab 1919 im bayerischen Niederschönenfeld absitzen musste.

Die Aufmachung des Bandes folgt dem Reihendesign: Wenig stünde dem politischen Aktivisten und Freiheitsrebellen Erich Mühsam besser als die roten Lettern auf dem schwarzen Leinencover, die Kennfarben des Anarchosyndikalismus entsprechen seiner Gesinnung. Indessen ist die Lektüre mühsam. Nicht, dass Mühsams Schreiben holprig wäre, auch wenn er oft und gern in langen Schachtelsätzen formuliert. Im Gegenteil, es ist ein Genuss, seinem wachen Denken beizuwohnen. Was die Tagebucheinträgen herausfordernd macht, sind die vielen Namen von Akteuren aus Politik und Gesellschaft, deren Einsätze er bewertet, an denen er sich reibt, die er lobt, tadelt oder verachtet; es sind die unzähligen Debatten und Gerangel, die Vorkommnisse und Tendenzen in der aufgeheizten und polarisierten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und dem Scheitern der Münchner Räterepublik, auf die Mühsam referiert.

Um diesen Verweisreichtum mit möglichst geringem Aufwand in gesicherte Information übersetzen zu können, bietet das Editionsunternehmen eine große Unterstützung an: Die Printausgabe steht im Verbund mit einer Online-Edition. Sämtliche Einträge der 35 erhaltenen Tagebücher (cirka 7.000 Seiten!) wurden auf einer Internet-Plattform zugänglich und durchsuchbar gemacht (http://www.muehsam-tagebuch.de). Personennamen, Ereignisse und Hintergründe sind in einem Register zusammengefasst und kommentiert. Damit nicht genug, es lassen sich auch Gedichte und Aufsätze Mühsams, die im Tagebuch erwähnt werden, per Mausklick aufrufen, ebenso Bilder und weitere Dokumente. In diesem analog-digital-Zwilling gelingt eine tatsächlich hilfreiche Medienkombination. Sicherlich ist der Einwand berechtigt, dass man nicht auf den Computer angewiesen sein möchte, um gedruckte Tagebücher lesen und in Gänze wahrnehmen zu können. Und man kann fragen, ob sich nicht mancher statt an die Bände an die im Internet verfügbaren, kostenlos dargebotenen Texte halten wird. Die Herausgeber Chris Hirte und Conrad Piens haben das bedacht, zusammen mit dem Verbrecher Verlag sind sie aber zu der Überzeugung gelangt, dass sich das Unternehmen in dieser Art als bestmögliche Umsetzung einer anspruchsvollen Edition der historischen Quellen erweist. Wenn sie sich auch noch rechnen sollte, wäre es natürlich ideal. Dass die Herausgabe wesentlich vom Idealismus Hirtes und Piensʼ, aber auch des Verlags getragen ist, wird jedenfalls deutlich. Sowohl in der Internet-Edition (Rubrik: Tagebücher / Zu dieser Ausgabe) als auch im Band (Nachbemerkung) finden sich wichtige Auskünfte, zum einen hinsichtlich der Entscheidung für die hybride Edition und zum anderen zur Situation Mühsams und zur gesellschaftlichen Lage im Zeitraum der Notate in Band 11.

Neben allen zeitgeschichtlichen Details, über die der Diarist Mühsam unablässig und engagiert reflektiert und die seiner gesellschaftlich-politischen Analyse als Bezugspunkte dienen (Amnestiebemühungen für die politischen Gefangenen der gescheiterten Revolution, Konflikt zwischen Bayern und der Berliner Mitte-Links-Regierung, Republikschutzgesetz, Parteiquerelen, Mord an Walther Rathenau, Gustav Radbruch als Reichsjustizminister, Inflation, Pressewesen), sticht eine Erschwernis des eingesperrten Revolutionärs hervor: seine Orientierungsmühsal. Kaum vergeht ein Tag, an dem er nicht sein unzureichendes Informiertsein und die aufgezwungene Orakelei beklagt – und zwar über das, was vor den Gefängnismauern vor sich geht, die Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik, der Bayern als Hochburg konservativer und nationalistischer Kräfte wie ein Stachel im Fleisch sitzt. „Ohne alle Orientierung“, lamentiert er am 14. Juli. „Weder gestern noch heute ist ein einziges Zeitungsblatt in unsern Besitz gelangt. Man kann wirklich gespannt sein, wie lange die Herrschaften noch so infam Schindluder mit uns treiben.“ Wir erleben am Beispiel  Mühsams, wie anstrengend es ist, sich eine informierte Perspektive und damit einen objektiven Beurteilungsstandpunkt zu verschaffen. Das Vorenthalten der Presseerzeugnisse wird noch verstärkt durch andere Zensurmaßnahmen und Einschränkungen, die die persönliche Post und den Besucherkontakt anbetreffen.

Hinzu kommt die Not des Menschen Mühsam, zu langen 15 Jahren Gefängnishaft verurteilt worden zu sein, die sich in dem „Medium der unverstellten Selbstvergewisserung“ (Hirte) manifestiert. Wie mit dem Wissen leben, dass man den „bayerischen Mörderprotektoren auf Gnade und Ungnade ausgeliefert“ ist, wie mit der allmählichen Erkenntnis umgehen, dass sich alle Amnestie-Absichten der bayerischen Regierung zerschlagen, politische Gefangene anderswo hingegen freigelassen werden? Das „Auf und Nieder, die Unsicherheit der Situation [macht] den Nerven nachgerade schwer zu schaffen“, schreibt Mühsam, als er sich am 12. Juli 1922 mit dem Thema einer möglichen Amnestierung auseinandersetzt. Einmal mehr erfahren wir, wie offizielle Informationen über Regierungsdiskussionen, die eine mögliche Neubeurteilung der politischen Gefangenen betreffen, in Niederschönenfeld zurück- und vorenthalten, wie mögliche Hafterleichterungen hintertrieben werden. Was wiederum die Nervosität, auch die Aggressivität unter den Gefangenen steigert.

Die Aufzeichnungen Mühsams sind in mehrfacher Hinsicht empfehlenswert: Ein begabter Textarbeiter ist am Werk, dessen anspruchsvolle, zum Teil wortspielerische Diktion einen scharfen Verstand in reger Aktivität zeigt; die Notate geben Aufschluss über (seinen kritischen Blick auf) die Lage um 1922; der Autor macht Aussagen über sein psychisch-seelisches und körperliches Befinden. Mühsam registriert aufmerksam alles, was um ihn herum vor sich geht, sei es in der Haftanstalt oder − so gut er kann − außerhalb. Intensiv schätzt er die Ereignisse und Personen, die die Tagesordnung bestimmen, ein, denkt über die Konsequenzen ihres Handelns nach, stellt Hypothesen auf, hält Gericht über Genossen und Verbündete, Gegner und Feinde.

Mühsam im Mikrokosmos der Festungshaftanstalt Niederschönenfeld beim tagtäglichen Schreiben über die Schulter zu blicken und seine klugen Bilanzen wie zynisch-kämpferischen, aber auch hoffnungsvollen Prognosen für das Land, die Menschen und seine eigene Zukunft zu vernehmen, ist ein Gewinn. Der Mensch Mühsam mit seinen intimen Empfindungen und seiner Gesinnung bleibt glücklicherweise nicht außen vor. Sei es, dass er uns versichert, wie gewillt er ist, standhaft zu bleiben: „175 Wochen eingesperrt! − Das ist allerhand, und im Hinblick darauf, daß noch nicht ein Viertel der Gesamtzeit herum ist und im Augenblick wenigstens verflucht wenig Aussicht auf Änderung der Dinge zu bestehen scheint, ein wahrhaft tröstlicher Erinnerungstag. Allerdings bin ich ziemlich schwer klein zu kriegen.“ Sei es, dass er (s)eine revolutionäre Maxime bestätigt:

Die Erfahrungen dieser vierzig Monate [Haftzeit bis 20.08.1922] haben gezeigt, daß an eine Beruhigung der Welt ohne allgemeine revolutionäre Abrechnung mit dem Staats- und Wirtschaftssystem überhaupt nicht zu denken ist. Die Wirtschaftskrisen häufen sich in immer kürzeren Abständen […], und mit ihnen oder durch sie veranlaßt oder aber als Ausdruck der allgemeinen Verwahrlosung, die der Krieg zurückgelassen hat, folgen die politischen Wirren einander mit fast nicht mehr erkennbaren Pausen.

Oder sei es schließlich, dass ihm die Freiheit schlicht und ergreifend auch deswegen so teuer ist, weil er „als gesunder Kerl [bald wieder] zu Zenzl ins Bett“ kommen möchte.

Titelbild

Erich Mühsam: Tagebücher. Band 11. 1922.
Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens.
Verbrecher Verlag, Berlin 2017.
366 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426871

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