Erinnern kann gefährlich sein

Mit „Trutz“ legt Christoph Hein kaum ein Jahr nach „Glückskind mit Vater“ einen zweiten großen Jahrhundertroman vor

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war ein Zufall – „In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine Bequemlichkeit“, lautet der erste Satz des Buches –, der Christoph Hein zum Stoff für sein neues Buch verhalf. Im Prolog zu Trutz gibt uns der Berliner Autor (geb. 1944), der gerade mal vor einem Jahr mit seinem Roman Glückskind mit Vater einen literarisch hoch anspruchsvollen Blick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geworfen hat, Auskunft darüber, wie er an ihn kam.

Zeitlich fällt die Begegnung, die ein Ich-Erzähler, hinter dem man unschwer den Autor selbst erkennen kann, mit einem geheimnisvollen, hochgebildeten Mann namens Maykl Trutz hat, in die ersten Jahre nach der Jahrtausendwende. Hein recherchierte damals für seinen 2005 erschienenen Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten, in dem der mysteriöse Tod des in Bad Kleinen erschossenen Terroristen Wolfgang Grams im Mittelpunkt stehen sollte. Sein wenig erfolgreicher Weg, zur Wahrheit eines Falles vozudringen, über den niemand offiziell Auskünfte erteilen wollte, führte ihn dabei auch zu einer Veranstaltung über die wechselvolle Geschichte der deutsch-russischen Verhältnisse im 20. Jahrhundert. In der Diskussion nach dem im Gebäude der Bundesstiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur stattgefundenen Vortrag fällt ihm ein älterer Mann auf, der der Referentin vehement zahlreiche Fehler nachweist. Neugierig geworden, folgt ihm Heins Ich-Erzähler, erfährt, dass dieser Maykl Trutz von Kindesbeinen an sein Gedächtnis mit den Methoden der Mnemonik trainierte und lässt sich von ihm einladen, seine Geschichte zu hören.

Es ist die Geschichte zweier Familien, ihrer Wege und Irrwege, Hoffnungen und Enttäuschungen, ihres Engagements für den vermeintlichen gesellschaftlichen Fortschritt und der daraus folgenden Tragik – und es ist die Geschichte eines Jahrhunderts, in dem gleich mehrere Utopien, die das Leben der Menschen anfangs auf eine bessere und gerechtere Basis zu stellen versprachen, blutig scheiterten. Sie beginnt in den 1920er-Jahren mit dem Schriftsteller Rainer Trutz und seiner Frau Gudrun. Er ein in Berlin lebender und ein bisschen an Hans Fallada erinnernder progressiver Autor ohne Parteizugehörigkeit, sie eine in der Gewerkschaftsbewegung engagierte Frau. Nach Adolf Hitlers Machtantritt flieht das Paar mit Hilfe einer russischen Freundin in die Sowjetunion Josef Stalins, wo es sich sicher wähnt. Im Januar 1934 wird ihr Sohn Maykl in Moskau geboren.

Das Glück der Familie hält jedoch nicht lange an. Als die Stalin’schen Säuberungsprozesse beginnen, geraten auch Rainer und Gudrun Trutz in den Fokus eines misstrauischen Systems, das überall Feinde wittert und sie gnadenlos zu verfolgen beginnt. Während Rainer Trutz, der Arbeit beim Bau der Moskauer U-Bahn gefunden hatte, deportiert und in einem fernöstlichen Arbeitslager bereits am Tag seiner Ankunft von kriminellen Mithäftlingen erschlagen wird, landen Gudrun und ihr inzwischen siebenjähriger Sohn Maykl als Zwangsumgesiedelte Anfang der 40er-Jahre jenseits des Urals.

Hier begegnen ihnen alte Bekannte aus den Moskauer Jahren wieder. Auch Waldemar Gejm, Professor für Mathematik und Sprachwissenschaft an der Moskauer Universität und ein in aller Welt geachteter Spezialist auf dem Gebiet der in ihren Anfängen bis in die griechische Antike zurückreichenden Mnemonik, ist aus seinem Amt gejagt, aus der Partei ausgeschlossen und unter dem Vorwand, seine Vorfahren seien einst aus Deutschland nach Russland eingewandert, zur Zwangsarbeit verurteilt worden. Nur ein glücklicher Zufall schützt ihn, seine Frau Alina und ihre beiden Kinder Rem und Geta davor, nach Kasachstan geschickt zu werden. Stattdessen gibt es ein Wiedersehen mit Gudrun und Maykl Trutz in dem Städtchen Korkino nahe Tscheljabinsk und die gleichaltrigen Söhne der beiden Familien, Maykl und Rem, können fortsetzen, was sie bereits in Moskau begonnen haben: die Schulung ihres Gedächnisses mit den von Waldemar Gejm entwickelten Methoden der inzwischen landesweit verfemten Mnemotechnik.

Von dieser im Kindesalter begonnenen und vom Vater seines engsten Freundes akribisch angeleiteten Gedächtnisschulung profitiert Maykl Trutz auch dann noch, als er auf den Ich-Erzähler von Heins Roman stößt. Es ist allerdings nicht nur der Stolz auf sein exaktes Erinnern, der ihn an jenem Vortragsabend der Referentin so hartnäckig ihre Recherchefehler vorhalten lässt, dass selbst die übrigen Zuhörer empört über den Mann zu murren beginnen. Denn wenn er der jungen Frau auch nicht ein falsches Datum und keinen einzigen ungenauen Fakt durchgehen lässt, sondern auf nachprüfbare Wahrheiten besteht, dann kämpft er damit auch für das Erinnern als eine Voraussetzung dafür, die Fehler der Vergangenheit in der Gegenwart nicht zu wiederholen. Dabei ist ihm allerdings sehr bewusst, dass ein gutes Gedächtnis etwas ist, das dem menschlichen Glück durchaus im Wege stehen kann:

Die Mnemonik zieht eine Blutspur hinter sich her bis heute. Bereits zu Beginn war das so, diese Wissenschaft begann mit einem Massaker. Ein gutes Gedächtnis war in der Geschichte der Menschheit stets eine tödliche Gefahr. Das Vergessen wird belohnt, nicht das Gedächtnis. Wenn Sie schnell und rasch vergessen, werden Sie glücklich auf Erden und können in Ruhe alt werden.

Die Fähigkeit, schnell und rasch vergessen zu können, war freilich noch nie etwas, das die Figuren Heins auszeichnete. Denn ums Erinnern ging es bei diesem Autor praktisch permanent. Ob an die eigene Jugend wie in Von allem Anfang an (1997), ob als kollektives Nachdenken über einen Menschen wie in Horns Ende (1985) oder Landnahme (2004), ob als auf gefährliches Terrain führende Recherche wie in In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005) oder, wie in seinen letzten beiden Romanen, als Reminiszenzen an von einem Jahrhundert der sich ablösenden totalitären Ideologien geprägte menschliche Schicksale – nie verschließt Hein seinen Protagonisten die Augen vor der Vergangenheit.

Auch wenn sie es manchmal zu wollen scheinen, wie jener Konstantin Boggosch aus Heins letztem Roman Glückskind mit Vater, der zu Beginn der festen Überzeugung ist: „Es gibt einfach nichts in meinem Leben, das sich zu erzählen lohnt. Gar nichts.“ Und dessen bewegende Geschichte dann doch erzählt wird – und zwar von ihm selbst, aus der Ich-Perspektive.

In Rainer und Gudrun Trutz, Waldemar und Alina Gejm und einer ganzen Reihe von Nebenfiguren seines aktuellen Romans, die an den Widersprüchen ihrer Zeit zugrunde gehen, hat Hein nun Menschen in den Mittelpunkt gestellt, denen das Glück – welches Konstantin Boggosch trotz aller Hürden, die sich ihm immer wieder in den Weg stellen, treu bleibt – nicht vergönnt ist. Der Roman wirkt dadurch wie eine Art Gegenentwurf zu seinem Vorgänger. Es ist, als wolle Hein noch einmal nachdrücklich unterstreichen, dass man in den ideologischen Wirren des 20. Jahrhunderts zwar Glück haben konnte, Lebenstragik aber wohl eher die Regel war, wenn man mit seinen Vorstellungen von individuellem Glück in die Mühlen von Systemen geriet, für die der Einzelne keine zu schützende Größe darstellte.

Mit Trutz ist Christoph Hein den bisher in seinem Werk angeschlagenen Themen treu geblieben. Zusammen mit seinem Vorgänger Glückskind mit Vater wird dieser umfangreiche Roman des heute 73-Jährigen vielleicht einmal so etwas wie sein schriftstellerisches Vermächtnis darstellen.

Titelbild

Christoph Hein: Trutz. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
477 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425855

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