Eine Odyssee durch die Sprache

Michail Schischkin bereist in „Die Eroberung von Ismail“ die Literatur und die eigene Biografie

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der russische Schriftsteller und Publizist Dmitri Bykow hat einmal die Frage aufgeworfen, worin wohl der tiefere Grund dafür liege, dass Nikolai Gogol den zweiten Band seiner berühmten Toten Seelen nicht vollendet hat. Bykow glaubte, die Antwort hierauf gefunden zu haben: Er versteht die Toten Seelen nämlich als eine Art Odyssee ohne Ithaka, als eine Reise ohne Ankunft. Die Hauptgestalt des großen Poems in Prosa, Pawel Tschitschikow, könne nirgends Wurzeln schlagen, auf ihn warte weder eine Penelope noch ein Vater oder eine Mutter. Die Idee von einem Zuhause gebe es bei Gogol nicht und in diesem Sinn habe sein Hauptwerk keinen Abschluss finden können. Dmitri Bykow überträgt seine Überlegungen anschließend auf die gesamte russische Literatur, indem er zuspitzend festhält, dass diese an und für sich kein Ankommen kenne, sondern stets nur das Unterwegssein – die endlose Fahrt durch die russische Weite. Russland sei letztlich nur in der Bewegung denkbar.

Ob diese markante These tatsächlich zutrifft, ist eine überaus interessante Frage. Michail Schischkin würde Bykows Ansicht vielleicht zustimmen. Denn wer Schischkins Roman Die Eroberung von Ismail liest, kann durchaus zur Überzeugung gelangen, der Autor selbst habe sich darin vom viel zitierten Schluss des ersten Teils von Nikolai Gogols Toten Seelen anregen lassen: Gogol vergleicht Russland dort zunächst mit einer dahineilenden Troika und ruft dann aus: „Russland, wohin stürmst du? Gib Antwort! Es gibt keine Antwort“.

Auch Die Eroberung von Ismail kann man als eine Odyssee lesen. Vom Unterwegssein ist im Roman viel die Rede. Nicht von ungefähr spielt gleich zu Beginn die Eisenbahn eine wichtige Rolle. Zu Gogols Zeiten war sie erst im Entstehen begriffen. Bald darauf entwickelte sie sich nicht nur zu einem unerlässlichen Transportmittel, sondern auch bei der imperialen Aneignung des Raums erlangte die Eisenbahn im Zarenreich und später in der Sowjetunion eine grundlegende Bedeutung. Es ist daher kaum als Zufall zu werten, dass Michail Schischkins Roman mit einer Szene im Zug einsetzt: Dabei wird eine Art Schöpfungsgeschichte durchgespielt, in der unter anderem alte slawische Götter ihren Auftritt haben.

Ganz besonders aber ist Die Eroberung von Ismail eine Reise durch die Sprache, durch deren Stile und historische Ausformungen. Schischkin zieht dabei nicht nur immer wieder die Register, die ihm als Autor selbst zur Verfügung stehen, er zitiert außerdem aus zahlreichen anderen Werken und macht damit seinen Text auch zu einer furiosen Fahrt durch die Literatur und die Welt der Texte an und für sich. Man kann also in der Sprache den eigentlichen Protagonisten des Romans sehen. Für Philologen stellt ein solcher Roman gewiss eine übervolle Fundgrube dar. Der überragenden Qualität von Andreas Tretners Übertragung ist es zu verdanken, dass dies auch im Deutschen noch funktioniert. Damit man einen Eindruck von der gewaltigen Arbeit erhält, die der Übersetzer zu leisten hatte, empfiehlt sich unbedingt ein Blick in die diesbezüglichen Überlegungen, die der Verlag auf der Website zur Verfügung stellt. Natürlich ist der Gewinn bei der Lektüre des Romans umso größer, je bewanderter man in der (russischen) Literatur ist. Hierin liegt allerdings auch ein wenig die Gefahr eines Textes wie Die Eroberung von Ismail: Der philologisch geschulte Leser ist versucht, bald ganz auf Suchmodus umzuschalten und sich auf das Aufspüren der unzählbaren intertextuellen Fährten zu konzentrieren. Dabei würde es sich allemal lohnen, hie und da auch wieder innezuhalten, tief durchzuatmen und sich an der puren Sprachlust zu erfreuen.

Eines soll dabei nicht verhehlt werden: Die Eroberung von Ismail ist ein schwierig zu lesendes Buch. (Als Einstieg in Michail Schischkins Werk eignet sich Der Briefsteller sicherlich besser). Der Roman verlangt vom Leser einiges ab – besonders dann, wenn man es gewohnt ist, sich auf die Handlung zu konzentrieren. Die lässt sich jedoch kaum nacherzählen – zahlreiche Figuren treten auf, viele Erzählfäden werden gesponnen und zwischendurch auch wieder fallen gelassen. Immerhin lassen sich zwei größere inhaltliche Komplexe im Roman identifizieren. Es ist dies zum einem die Biografie eines Alter Ego des Autors, zum anderen die Gerichtsthematik. In Schischkins Text wird mit manchem abgerechnet, wobei eben der Literatur ein entscheidender Part zufällt. Vielleicht finden vor Gericht die Rolle des Schriftstellers und diejenige des Verteidigers zusammen: Beider Waffe ist nämlich vor allem die Sprache.

Die Eroberung von Ismail ist in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre entstanden. Der Autor hat für dieses Sprachkunstwerk 2000 den renommierten Russischen Booker-Preis erhalten. Ein wenig merkt man dem Buch seine Entstehungszeit freilich auch an: Die russische Literatur arbeitete damals in mancher Hinsicht daran, die internationale Postmoderne einzuholen (oder vielleicht besser: nachzuholen). Das ist Michail Schischkin – natürlich im Verbund mit vielen literarischen Mitstreitern – gewiss gelungen. Es mag aber auch sein, dass bei einer Lektüre knapp 20 Jahre später nicht jede Eigenschaft postmodernen Schreibens noch gleichermaßen überraschend und frisch wirkt. So ist das Spiel mit literarischen Referenzen inzwischen zum Gemeingut geworden; auch das Zitathafte am Roman, die Collagen, das Umstellen der Chronologie oder die Mischung von hohen und niedrigen Elementen erzielen heute wohl bei vielen nicht mehr dieselbe Wirkung wie früher.

Man hat Die Eroberung von Ismail als einen „totalen Roman“ bezeichnet. Eine solche Charakterisierung ist natürlich per se nichts Neues; sie ist schon manch anderem Werk attestiert worden. Aber es mutet durchaus sympathisch an, dass jeder dieser „totalen Romane“ letztendlich dann doch ganz einmalig ausfällt. Wie dem auch sei: Die Eroberung von Ismail ist ein Sprachkunstwerk erster Güte – und zwar im russischen Original wie in der deutschen Übersetzung.

Titelbild

Michail Schischkin: Die Eroberung von Ismail. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017.
505 Seiten, 26,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046437

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