Zwischen Selbstbestimmung und Jüdischsein
Mirna Funks „Winternähe“ setzt ein Zeichen gegen zunehmenden Antisemitismus
Von Bozena Badura
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Bücher bauen Brücken“ heißt die im Mai 2017 in NRW realisierte Aktionswoche zum Thema „Jüdisches Leben hier und heute“, deren Ziel es nicht nur ist, ein Zeichen gegen den in den letzten Jahren in Deutschland steigenden Antisemitismus zu setzen, sondern vor allem mehr Leichtigkeit in die Begegnung mit jüdischem Leben in Deutschland zu bringen. So überrascht es nicht, dass zu der Eröffnungsveranstaltung die junge Autorin jüdischer Abstammung Mirna Funk eingeladen wurde, um aus ihrem bereits 2015 im Fischer Verlag erschienen Debütroman Winternähe zu lesen.
Die Handlung spielt zwischen Juni 2013 und November 2014. Aufgrund zahlreicher antisemitischer Vorfälle entscheidet sich Lola, die 34-jährige Protagonistin, eine Deutsche und zugleich eine „Vater-Jüdin“, ihre Heimatstadt Berlin zu verlassen und nach Tel Aviv zu reisen, wo sie den Gaza-Krieg von 2014 erlebt und schließlich zu sich selbst findet. Die Leserinnen und Leser erfahren unter anderem, wie sich Lolas Kindheit in der ehemaligen DDR gestaltete, wie ihr Vater Republikflucht beging und wie ihre Mutter einen reichen Immobilienhändler aus Hamburg Blankenese heiratete.
Die Handlung beginnt in media res mit der stärksten Szene des Romans: Lola erscheint zu der von ihr eingeleiteten Gerichtsverhandlung mit einem angemalten Hitlerbart. Dies soll den antisemitischen Übergriff ihrer Arbeitskollegen veranschaulichen, die ein beleidigendes Foto von Lola in den sozialen Netzwerken verbreiteten: „Man konnte auf diesem Foto Lolas Selfie sehen und wie es an der Wand hing, aber insbesondere konnte man Olaf Henninger sehen, der einen schwarzen Edding in der Hand hielt und einen Hitlerbart über Lolas Oberlippe malte. Dabei machte Olaf Henninger nicht nur ein äußerst vergnügtes Gesicht, sondern auch den weltbekannten Terry-Richardson-Daumen.“ Lola wird aus dem Verhandlungssaal ausgewiesen und verliert den Prozess, weil sie nach den Gesetzen der Halacha keine Jüdin ist, da ihre Mutter auch keine ist. „Deshalb könne es sich per se nicht um eine Tat mit antisemitischem Hintergrund handeln.“ Dieses Urteil motiviert einen der Erzählstränge, denn Lola „hatte genug davon, dass fremde Personen ihre Identität beurteilen und darüber entscheiden, wer sie war und wer nicht.“
Dabei entscheiden nicht nur Außenstehende über ihre Identität, sondern auch ihre Großmutter, indem sie ihr posthum in einem Brief verrät, der Zeuger ihres Vaters sei nicht Gershom. Auf diesem Wege wird Lola, die sich stets vor der Identitätszuschreibung durch Dritte wehrt, von der Großmutter beauftragt, selber zu entscheiden, ob sie ihren Vater davon in Kenntnis setzten will. Die Auflösung dieses von außen motivierten Konflikts bleibt offen. Zudem macht der Roman in Zeiten des zwanghaften Selbstdarstellungswahns dezent darauf aufmerksam, dass Menschen selten so sind, wie sie sich präsentieren. Als Beispiel ist hier Lolas israelischer Geliebter Shlomo heranzuziehen, der sich als Kindsmörder entpuppt.
Angesichts der in der medialen Welt herumirrenden ‚alternativen Fakten‘ setzt die junge Autorin sichtlich auf die Authentizität ihrer Geschichte. Denn neben den Kriegserlebnissen, ist vor allem der erste Teil des Romans autobiografisch motiviert. Alles sei Mirna Funk genau so passiert. Mit dem großen Unterschied, dass sie, anders als ihre Protagonistin, keine Anzeige gegen die Übeltäter erstattete. Sie habe bewusst ihre eigenen Erlebnisse in den Roman einfließen lassen, damit ihr nicht der Vorwurf gemacht werde, sie habe sich den Antisemitismus ausgedacht, erzählte sie bei der Eröffnungsveranstaltung „Bücher bauen Brücken“ in Köln. Die autobiografischen Elemente haben in dem Roman augenscheinlich die Funktion, die Dringlichkeit einer öffentlichen Debatte über den zunehmenden Antisemitismus hierzulande aufzuzeigen. Rein fiktiv sei dagegen Lolas israelischer Freund Shlomo, eine der Schlüsselfiguren des Romans, die vorführen soll, wie schnell man zum Mörder werden kann.
Es ist weder die Sprache – erzählt wird der Roman überwiegend in einer berichtenden Sprache in der dritten Person, bereichert um zahlreiche Dialoge – noch die Handlung selbst, die den Roman spannend und lesenswert machen. Es ist vor allem der Wechsel zwischen den Bekanntschaften der Protagonistin, der (überschaubare) Vaterkomplex, ein Bericht über die politischen Hintergründe des israelischen Konfliktes sowie die poetisch-philosophischen Überlegungen, die bemerkenswert sind. Folglich ist der Roman, unbeachtet der wenigen Schwächen poetischer Natur, mit Nachdruck zu empfehlen, insbesondere für diejenigen, die sich über das Jüdischsein und das Leben der Juden heute informieren wollen. Nicht zuletzt wurde der Roman, der nun auch als Taschenbuch vorliegt, mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis 2015 und die Autorin mit zahlreichen Aufenthaltsstipendien ausgezeichnet.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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