Nicht ohne meine Tochter

Kate Hamers Roman „Das Mädchen, das rückwärts ging“ behandelt ein sensibles Thema, endet aber in einem esoterischen Wirrwarr

Von Romy TraeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Romy Traeber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es beginnt recht düster: Weil die Tochter Carmel es sich zum achten Geburtstag gewünscht hat, besucht Mutter Beth mit ihr einen Irrgarten, wo sich die beiden aus den Augen verlieren und erst nach längerem Suchen wiederfinden. Selbstverständlich ist all das eine Andeutung noch kommender Geschehnisse, die unweigerlich folgen. An einem eigentlich wunderschönen Tag verliert die Mutter ihre Tochter bei einem Geschichtenfestival erneut, als plötzlich dichter Nebel aufzieht. Ja, der Roman spielt im englischen Norfolk, da musste das Nebel-Klischee zweimal bedient werden – bereits während der Episode im Irrgarten kommt Nebel auf. Kate Hamers Debüt, für das sie schon während der Arbeit daran einen Preis für den besten Romananfang erhielt, versucht sich am schwierigen Thema einer Kindesentführung mit all ihren Implikationen: Verzweiflung, Trauer, Schuldfragen. 

Natürlich verschwindet das Kind nicht einfach, sondern wird von einem Mann vom Festival weggelockt, der behauptet ihr Großvater zu sein und ihr vormacht, dass die Mutter einen Unfall hatte. Spannend ist, dass der Leser sich erst in Kapitel 19 sicher sein kann, dass es sich nicht um den Großvater handelt – als der echte bei seiner Tochter auftaucht, um sie in der schweren Zeit zu unterstützen. Man stört sich aber auch ein bisschen daran, wie einfach die Entführung abläuft. Dafür, dass Carmel als überdurchschnittlich intelligent beschrieben wird, lässt sie sich zu leicht mit einer Geschichte in ein fremdes Auto locken. Zugute halten muss man dem Entführer (und dem Roman) dann allerdings, dass er seine Hausaufgaben gemacht und sich ausreichend bei Alice, einer Freundin der Mutter, informiert hat. Alice wird es am Ende auch sein, die den entscheidenden Hinweis zu Carmels Verbleib gibt – und schon sehr viel früher hätte geben können, wäre sie nicht von einer traumatisierten Mutter davongejagt worden. Das zählt zu den guten Seiten des Romans: Die Verschachtelungen der Handlungsstränge funktionieren wunderbar. Das liegt auch an seinem Aufbau. Anfangs regelmäßig, ab Kapitel 17 weniger gleichmäßig, wechseln sich die Perspektiven von Mutter und Tochter auf die Ereignisse ab und füllen so für den Leser die Leerstellen in der Wahrnehmung der jeweiligen Protagonisten. Auch der Originaltitel des Buches ist in diesem Zusammenhang nicht ganz unbedeutend, denn The Girl in the Red Coat wird im späteren Verlauf der Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen und lässt einmal mehr die deutsche Betitelungskultur bei Büchern (wie auch Filmen) hinterfragen.

Interessant ist der Roman in der Beschreibung Carmels, denn irgendwie scheint sie besonders zu sein. Ihr Schulleiter äußert das gegenüber den Eltern so: „Ihre Vorstellungskraft ist erstaunlich, ich glaube, sie nimmt die Welt nicht so wahr wie wir anderen.“ So erinnert die Gestaltung des Charakters an ein psychologisches Phänomen, das in den letzten Jahren vermehrt die Aufmerksamkeit der Medien erhielt: der Hochsensibilitäts-Ansatz. Geprägt wurde dieser von Elaine N. Aron, einer amerikanischen Psychologin, die mit ihrem (Ratgeber-)Buch The Highly Sensitive Person das Standardwerk zum Thema verfasste. Auch wenn ihre Thesen nicht ganz unumstritten sind, scheint zumindest Carmels Persönlichkeit beinahe alle Merkmale zu erfüllen, die hochsensiblen Menschen zugeschrieben werden.

Und so hätte es ein interessanter Roman über ein Mädchen werden können, dessen Andersartigkeit sie zwar erst zum Opfer macht – ihr am Ende aber hilft, aus der Entführungssituation zu entkommen und mit ihrer Mutter wiedervereint zu werden. Es scheitert letztlich am Versuch der Autorin, dem Roman einen mystisch-religiösen Anstrich zu verleihen. Der angebliche Großvater ist gelinde gesagt ein religiöser Spinner, der Mädchen entführt, von denen er glaubt, sie hätten magisch heilende Hände. Carmel, die er zwingt, sich selbst „Mercy“ zu nennen, ist bereits das zweite Mädchen. Was mit der früheren „Mercy“ passierte, wird zwar nur angedeutet, aber es scheint nichts Gutes zu sein. Dass Carmel nun am Tag ihres Verschwindens einen Mann zeichnet, der, wie sie später selbst bemerkt, aussieht wie ihr Entführer, mutet vielleicht nur seltsam an. Dass sie allerdings irgendwann selbst glaubt, durch Händeauflegen heilen zu können und damit den religiösen Spinnereien ihres Pseudo-Großvaters sowie den so fanatischen wie von ökonomischen Interessen getragenen Erwartungen seines zeitweiligen Geschäftspartners entspricht, ruft beim Leser vor allem Befremden hervor.

Wenn schließlich mit dem Roman auch die Entführung nach über fünf Jahren endet, hat man als Leser ein wenig das Gefühl, mit einer unfertigen Erzählung konfrontiert zu sein, die zwar mehr als 400 Seiten füllt, aber schließlich einige wichtige Aspekte einfach fallen lässt. So wirken beispielsweise eine kurze Liebesbeziehung zwischen Carmel und einem älteren Jungen sowie das plötzliche Wiederauftauchen des Mädchens ein wenig unmotiviert. Das ist schade; ein lesenswerter Roman ist es dennoch geworden.

Titelbild

Kate Hamer: Das Mädchen, das rückwärts ging. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit.
Arche Verlag, Zürich 2015.
416 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783716027240

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