Lob der Symmetrie
Claude Lévi-Strauss’ kleine Schriften zu Japan
Von Stefan Höppner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSchon als Kind war der Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908‒2009) von der japanischen Kultur fasziniert. Als er etwa sechs Jahre alt war, schenkte ihm sein Vater einen Farbholzschnitt des Künstlers Hiroshige, um den herum er jahrelang eine kleine Sammlung japanischer Artefakte aufbaute. Zu dieser Leidenschaft kehrte Lévi-Strauss, der im Brasilien der 1930er mit der Feldforschung begann und später die Theorien der strukturalistischen Linguistik auf die Anthropologie übertrug, erst im Alter zurück. Zwischen 1977 und 1988 unternahm der einflussreiche Ethnologe mehrere Reisen nach Japan. In einer Reihe kleinerer Arbeiten beschäftigte er sich auch mit der Kultur des Landes. Diese verstreut erschienenen Aufsätze trug Maurice Olender nach dem Tod des Ethnologen zusammen; seit 2012 existieren sie auch in einer deutschen, von Eva Moldenhauer übersetzten Ausgabe, die nun erstmals im Taschenbuch zu haben ist.
Die zwischen 1979 und 1998 entstandenen Texte handeln nicht vom heutigen Japan, was nur LeserInnen überraschen wird, die mit dem Autor nicht vertraut sind. Vielmehr sind sie in erster Linie Beiträge zur historischen Mythenforschung; der Autor seziert zentrale japanische Sagen auf ihre Struktur hin und vergleicht sie mit denen anderer Völker, wobei er erstaunliche Parallelen zu ähnlichen Erzählungen in Indien, Persien, aber auch im alten Europa oder in den indianischen Kulturen Nordamerikas findet. Indem er die Narrative in ihre Einzelteile zerlegt und zeigt, wo sie in den verschiedenen Kulturen variieren, liefert er eine Interpretation, die der Vorstellung zuwiderläuft, die japanische Kultur habe sich stets vollkommen autark entwickelt. Stattdessen stehen für Lévi-Strauss alle Kulturen in Kommunikation miteinander, auch wenn dieser Austausch sich in vorschriftlicher Zeit nur langsam entwickelte und die Mythen dabei stark verformt wurden. Den genauen Weg der Erzählungen zu rekonstruieren, ist bei prähistorischen Kulturen verlorene Liebesmüh, denn wir haben es immer mit späteren schriftlichen Fixierungen der mündlichen Mythen zu tun. Entscheidend ist vielmehr ein anderer Punkt: dass erstaunliche Parallelen etwa zwischen Erzählungen Herodots und alten japanischen Quellen, zwischen den poetischen Qualitäten der japanischen Literatur des 13. und der französischen des 18. Jahrhunderts existieren. Bestimmte Ähnlichkeiten, so Lévi-Strauss,
verweisen nicht auf historische oder prähistorische Beziehungen, sondern auf das, was wir die elementaren Strukturen des mythischen Denkens nennen könnten. Daß sie hier oder dort vorkommen, bedeutet nicht, daß zwischen diesen oder jenen ihrer Äußerungen genalogische Beziehungen bestehen, sondern lediglich, daß sie bisweilen an die Oberfläche kommen, zusammen oder in Bruchteilen.
Wenn Lévi-Strauss diese Strukturen im Hinblick auf Japan und Europa (namentlich Frankreich) vergleicht, ist die Umkehrung eines der Hauptmotive; sie ist es auch, die im Titel des Buches anklingt. So werden Pferde in Japan seit jeher von rechts statt von links bestiegen, der Arbeiter zieht die Säge an sich heran statt sie hinweg zu schieben, selbst die Töpferscheibe wird mit dem anderen Fuß betätigt und in die entgegengesetzte Richtung gedreht. Das Subjekt, das in Europa seit Descartes am Anfang aller Denkbewegung stehe, existiere zwar in Japan entgegen einem häufigen Vorurteil, aber es sei ein Resultat des Denkens, nicht seine Ursache. „So wie die japanische Syntax die Sätze durch sukzessive Bestimmungen konstruiert, die vom Allgemeinen zum Besonderen führen, setzt das japanische Denken das Subjekt ans Ende des Wegs.“ Das japanische Denken sei hier zentripetal, nicht zentrifugal wie das europäische.
Um das Verhältnis zwischen europäischem und japanischem Denken zu beschreiben, greift Lévi-Strauss immer wieder auf das Bild der Symmetrie zurück.
Die Symmetrie, die man zwischen zwei Kulturen erkennt, vereint sie, indem man sie einander entgegensetzt. Sie erscheinen sowohl ähnlich wie verschieden, als das symmetrische Bild unserer selbst in einem Spiegel[.] […] Wenn sich der Reisende davon überzeugt, daß Bräuche, die in absolutem Gegensatz zu den seinen stehen und die er deshalb zu verachten und voller Widerwillen zu verwerfen versucht sein könnte, in Wirklichkeit mit ihnen identisch sind, dann verschafft er sich die Möglichkeit, das Fremdartige zu zähmen und sich damit vertraut zu machen.
Der Blick des Autors ist keiner von oben herab, nicht der des „Zivilisierten“ auf die „Primitiven“, sondern er erkennt alle Kulturen als strukturell gleichberechtigt an – was bei Lévi-Strauss, der als erster vom „wilden Denken“ sprach, auch nicht überrascht.
Trotzdem ist die japanische Kultur hier nicht nur Anlass zu derartigen Überlegungen, sondern wird von Lévi-Strauss durchaus fachkundig analysiert, soweit der Rezensent das beurteilen kann. Dass er die japanischen Quellen nur in Übersetzung liest, erkennt er selbst an. Man spürt als Leser deutlich die Faszination des alten Lévi-Strauss für Japan und seine Kultur, die Liebe zu seinem Gegenstand, und gleichzeitig die Selbstkritik, mit der er seine früheren, allzu exotisierenden Vorstellungen des Landes verwirft.
Die dunkle Seite des Mondes ist ein äußerst lesenswertes Buch. Kritisieren kann man höchstens, dass es zwischen den Aufsätzen Überschneidungen gibt, dass sich einzelne Argumente und biografische Reminiszenzen wiederholen, zum Teil auch mehrfach. Das ist der Tatsache geschuldet, dass sie niemals für das gleiche Publikum gedacht waren, sondern eben zu verschiedenen Anlässen entstanden, an unterschiedlichen Orten gedruckt und vorgetragen wurden. Um die Redundanzen zu entfernen, hätte es einer größeren Redaktionsarbeit bedurft, die die Texte aber nicht in ihrer authentischen und vom Autor intendierten Form belassen hätte. Mit den Überschneidungen kann man aber durchaus leben. Man hätte aber deutlicher formulieren können, dass die Auswahl der Texte auf Maurice Olender zurückgeht, dessen Name jetzt nur klein im Impressum erwähnt wird. Ein Glanzlicht sind dagegen die Privatfotos von Lévi-Strauss und seiner Frau Monique, die während der japanischen Reisen der beiden und bei einem Gegenbesuch seines Kooperationspartners Junzo Kawada in Burgund aufgenommen wurden. Sie betonen noch einmal, welch eine Herzensangelegenheit Japan für den Autor war.
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