Literaturkritik ernst nehmen!

Der Sammelband „Die Rezension“ nähert sich einem Forschungsdesiderat – nicht ohne sich selbst vorzuführen

Von Miriam ZehRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Zeh

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gegenwartsliteraturwissenschaft tut sich schwer mit der Literaturkritik. Für gewöhnlich werfen Feuilletondebatten und Kritikerstreits dem Germanisten allenfalls eine gefällige Einstiegsanekdote für den nächsten Konferenzbeitrag ab. Gerade bei Gegenwartstexten, für die noch kein Fundus ausgewiesener Sekundärliteratur vorliegt, auf den man zurückgreifen könnte, muss die Literaturkritik oft als Stichwortgeber für die Wissenschaft herhalten. Hier wird die Rezension zur „Sekundärliteratur zweiter Wahl“ (Martin Rehfeldt). Und weil die Wahrscheinlichkeit, etwas literaturwissenschaftlich Verwertbares zu finden, steigt, wenn sich auch die Buchbesprechung philologischer Methoden bedient, meint die Literaturwissenschaft, wenn sie „Literaturkritik“ sagt, gern ausschließlich das sogenannte Qualitätsfeuilleton überregionaler Tages- und Wochenzeitungen.

Diese Verengung reproduziert der Sammelband Die Rezension nicht. Die HerausgeberInnen Andrea Bartl und Markus Behmer listen unter „Aktuelle Tendenzen der Literaturkritik“ neben dem einschlägigen Feuilleton mit seinen altehrwürdigen Kritikergestalten auch Buchblogger, Booktuber und Amazon-Kundenrezensenten auf und berücksichtigen ebenfalls individuelle Kaufempfehlungen im stationären Bucheinzelhandel. Dem disparaten Sammelband gelingt in einigen Beiträgen eine äußerst gewinnbringende und differenzierte Annäherung an das Forschungsdesiderat „Literaturkritik“. Oft bereichern hierbei sozialwissenschaftlich-empirische Forschungsmethoden den germanistischen Zugriff. An anderen Stellen scheint es jedoch, als führe vor allem die Literaturwissenschaft geradezu selbst vor, wie es ihr misslingt, Literaturkritik als Forschungsgegenstand ernst zu nehmen. Dann wird die literaturwissenschaftliche Textanalyse zwar um Überlegungen zum literaturkritischen Paratext erweitert, eine fundierte Diskussion der Verfahren, Traditionen und Institutionen von Literaturkritik bleibt jedoch aus.

So geht es der Literaturwissenschaftlerin Alexa Ruppert in ihrem Beitrag beispielsweise hauptsächlich darum, eine psychologisierende Lesart zweier Literaturbetriebsromane über Marcel Reich-Ranicki entlehnte Kritikerfiguren vorzulegen. Das ist ein legitimes Erkenntnisinteresse. Problematisch wird es, wenn Ruppert sich der philosophischen Possible-Worlds-Theory bedient, um Interferenzen zwischen Betriebsrealität beziehungsweise Kritikerperson und Fiktion beziehungsweise Figur zu analysieren. Nicht nur handelt sich die Verfasserin damit einen verfänglichen und nicht genauer definierten Wahrheitsbegriff ein. Es bleibt auch unklar und offen, welche Schlussfolgerungen zur Literaturkritik selbst oder zu Reich-Ranicki diese Methode zulässt – und warum das weit anschlussfähigere Konzept der Autofiktion in ihrer Argumentation keine Erwähnung findet. Die Buchwissenschaftlerin Sandra Rühr liefert in ihrem Beitrag über denselben Kritiker zwar eine treffende Beschreibung des literarischen Feldes um 1950, in dem das „eindeutige Werturteil“ Reich-Ranickis vom „orientierungslosen, verunsicherten Leser“ mit Dankbarkeit empfangen wird. Wenn Rühr daraufhin jedoch zunehmend skeptische Äußerungen zum Stil des „Kritikerpapstes“ versammelt, versäumt sie dabei, Veränderungen in der Literaturkritik im Allgemeinen – etwa in ihrer Rhetorik oder ihrer gesellschaftlichen Bedeutung – zu reflektieren.

Ein fruchtbarer Zugriff gelingt dagegen der Literaturwissenschaftlerin Verena Hepperle. Sie stellt anhand der Feuilletondebatte um Christian Krachts Roman Imperium medientheoretisch fundiert dar, welchen Schwierigkeiten sich die Literaturkritik sowohl im Umgang mit Gesinnung respektive Haltung eines Romans als auch angesichts eines – wie bei Kracht – „mehrdeutigen und postmodernen Spiels“ mit Inszenierungspraktiken ausgesetzt sieht. Hiermit ist bereits eine aktuelle Tendenz der Literaturkritik benannt. Eine äußerst erkenntnisreiche systematische Übersicht bietet der Beitrag von Holger Kellermann und Gabriele Mehling. In einer umfassenden sozialwissenschaftlichen Studie aus qualitativer Vorstudie und quantitativer Inhaltsanalyse erfassen und vergleichen die beiden Kommunikationswissenschaftler Merkmale von professionellen Literaturkritiken mit denen von Laien-Rezensionen auf Amazon. Differenziert stellen Kellermann und Mehling heraus, dass Laien-Rezensionen zwar einerseits durch Elemente der Alltagskommunikation (Ich-Form, Ansprache des Gegenübers, dialogische Form) und Selbstthematisierung der Gratifikationen durch die Lektüre geprägt sind. Andererseits orientieren sich Laien-Rezensionen aber auch an „professionellen Standards“ wie Wertung und Buchinhalt. Als Besonderheit arbeiten Kellermann und Mehling heraus, „dass professionelle Elemente und Alltagskommunikation auf amazon.de keine antagonistischen Konzepte zu sein scheinen.“ Illustriert wird dieses Ergebnis durch den ebenso klugen Beitrag von Martin Rehfeldt, der ausgewählte Amazon-Rezensionen als Rezeptionsdokumente analysiert. Der Literaturwissenschaftler schließt mit der nur hervorzuhebenden Anregung, „Laienrezensionen nicht als Degenerationsphänomen gegenüber professionellen Rezensionen und damit als ungenügende Forschungsbeiträge abzuqualifizieren, sondern als Rezeptionsdokumente und damit potentielle Forschungsgegenstände wahrzunehmen, also statt der Frage, was sie über das rezensierte Buch aussagen, der Frage nachzugehen, was sie über ihre/-n Verfasser/-in aussagen.“

Der vorliegende Sammelband zeigt, dass die Literaturwissenschaft bei einer angemessenen Beschäftigung mit Literaturkritik nicht nur an geeigneten Datenerhebungsverfahren für Rezensionen im Internet scheitert. Rehfeldt betont treffend, „dass sich Literaturwissenschaftler/-innen oft nicht auf ein rein deskriptives Erkenntnisinteresse beschränken, sondern dass die Beteiligung an literaturkritischen Debatten und die Mitwirkung an Kanonisierungsprozessen lange selbstverständlicher Teil der Fachkultur waren und teilweise noch sind.“ In die gegenwärtige und bekanntermaßen turnusmäßig wiederkehrende Klage vom „Niedergang der Literaturkritik“ stimmt der vorliegende Sammelband glücklicherweise nicht ein. Stefan Neuhaus’ Überblicksbeitrag schließt vielmehr mit einem Appell an Literaturwissenschaft und Literaturkritik, keine Energie mit Klagen zu verschwenden, sondern „verstärkt über die gängigen Mythen zur Entwicklung des Rezeptionsverhaltens einerseits und die positive Funktion von Literatur in der Gesellschaft andererseits nachzudenken, etwa in ihrer Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis, und dabei Bewertungskriterien zu diskutieren, die auch außerhalb des Elfenbeinturms, also des eigenen Expertenkreises Gehör finden“.

Man möchte hinzufügen: Es gehört nicht zur Aufgabe der Literaturwissenschaft, die Qualität eines literarischen Textes zu beurteilen. Wohl aber hat die Literaturwissenschaft über gegenwärtige Formen und Funktionen der (Literatur-)Kritik nachzudenken. Sind Amazon-Kundenrezensionen nicht vielleicht Ausdruck einer Unzufriedenheit über die Unfähigkeit der professionellen Literaturkritik, mit Gefühlen (wie etwa Trost durch Lektüre) umzugehen? Wie verhält sich Literaturkritik zur zunehmenden Kommerzialisierung des literarischen Felds? In welchen tradierten Mustern und Mechanismen der Kritik sind auch professionelle Rezensenten gefangen? Im angloamerikanischen Diskurs erstarkt bereits seit einiger Zeit ein Interesse für ideologiekritische Ansätze und grundlegend umwälzende Überlegungen zu „Critique and Postcritique“ (Rita Felski). Es bleibt zu hoffen, dass diese Diskussion bald auch die hiesige Literaturwissenschaft erreicht und im deutschsprachigen Raum den Umgang mit Literaturkritik bereichert.

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Andrea Bartl / Markus Behmer (Hg.): Die Rezension. Aktuelle Tendenzen der Literaturkritik.
KONNEX. Studien im Schnittbereich von Literatur, Kultur und Natur. Herausgegeben von Andrea Bartl. Bd. 22.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2017.
345 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783826060533

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