Durch fremd-vertraute Bilderwelten
Gerhard Roth erschafft in seinem Roman „Landläufiger Tod“ ein Dorfpanorama als surreales Panoptikum
Von Manfred Roth
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUrsprünglich erschien der Roman Landläufiger Tod des österreichischen Autors Gerhard Roth bereits 1984 als dritter Band seines sieben Romane umfassenden Zyklus Die Archive des Schweigens. Der S. Fischer Verlag legt nun eine erweiterte, überarbeitete Fassung von Landläufiger Tod vor, der auch ohne Kenntnis der anderen Romane eine lohnende Lektüre ist.
In einer engen ländlichen Dorfwelt notiert der stumme Erzähler Franz Lindner, der aufgrund schizophrener Schübe in einer Pflegeanstalt sitzt, Anekdoten aus seinem Leben, Geschichten aus seinem Dorf, über dessen Bewohner, seine Version der Schöpfungsgeschichte und manches mehr. Das alles ist vielstimmig, ohne chronologische Ordnung, zum Teil traditionell beschreibend, dann wieder ins Surreal-Groteske verzerrt, mit einer überbordenden, entgrenzten Bildsprache, die geradezu das Gegenprogramm zur Enge eines traditionsbestimmten Dorflebens zu sein scheint. Einerseits ist sein Schreiben eine Art Flucht vor der Wirklichkeit: „Das Geistesleben ist hier so stumpf, die Feindlichkeit allem Geistigen gegenüber so groß, […] dass der Rückzug in den eigenen Kopf, das eigene Gehirn, der einzig mögliche Ausweg ist, sich vor Selbstmordgedanken zu schützen.“ Gleichzeitig aber sieht sich der Erzähler auch in der Rolle eines Chronisten: „Ja, aber wer wird uns die Geschichten erzählen, die als Erbgut unserer Vorfahren durch unsere Körper zirkulieren? Hat man sie uns mit auf den Weg gegeben, um uns zu heilen? Um unseren Geist zu verwirren? Oder um uns zu erinnern, dass wir sterblich sind?“ Einem Gefühl von Heimat und Herkunft spürt der Roman mit den Mitteln der radikalen Moderne nach, er konserviert Vergangenes in einem avantgardistischen Schreiben und ist ein Spiel mit und eine Dekonstruktion von Sprach- und Literaturkonventionen. Damit erinnert Landläufiger Tod an andere Romane dieser Art aus den letzten Jahren, etwa an Péter Esterházys Harmonia Caelestis oder auch an Bora Ćosićs bereits Ende der 1970er-Jahre entstandenen, vor Kurzem erst auf Deutsch erschienen Roman Die Tutoren.
Dort, wo sich in Landläufiger Tod die Handlung um das Leben (und Sterben) im kleinen steierischen Dorf dreht, also vor allem im dritten und umfangreichsten, bestimmt nicht zufällig mit Mikrokosmos betitelten Teil, geschieht das Erzählen wie in Auszügen, als ausschnitthaftes Aufblitzen einzelner Situationen wie unter einem Mikroskop, wodurch sich manche Einschübe, wiederkehrende Handlungsabläufe, Gedanken und Motive zu einem Dorfpanorama fügen. Auch wenn die meisten Textabschnitte in irgendeiner Form um den Tod kreisen, von Mord, Selbstmord oder Unfällen handeln, so stehen viele Erzählsplitter oft zunächst scheinbar beliebig nebeneinander. Erst allmählich werden größere Handlungszusammenhänge herauspräpariert und es entstehen durch wiederkehrende Motive und Figuren größere Bezüge. So konstruiert Roth eine Erzählperspektive vom Rand, bei der nicht nur der Erzähler selbst als Außenseiter, als stummer „Irrer“ am Rand der Gesellschaft steht, sondern auch sein Erzählverfahren nähert sich aus einer Beobachterperspektive über Einzeleindrücke, sodass sich dieses Dorf, seine Bewohner und seine Geschichte dem Leser erst allmählich erschließen. Diese Vielzahl an Einzelszenen lässt an Wimmelbilder denken oder an die Gemälde eines Hieronymus Bosch (auf den auch an einer Stelle im Roman verwiesen wird), bei denen sich das Ganze aus einer Vielzahl oft surreal anmutender Einzelsituationen zusammensetzt.
Durch dieses Verfahren, bei dem nach und nach immer neue Details oder neue Perspektiven und Einordnungen des Geschehens enthüllt werden, setzt Landläufiger Tod, der nicht unbedingt auf ein spannungsgeladenes Erzählen abzielt, doch immer wieder neue Pointen. Erst im Verlauf des Romans, wenn der Erzähler Berichte dritter, beispielsweise die Kriegserlebnisse seines Vaters in direkter Rede wiedergibt, werden Zusammenhänge, auch historische Schuldzusammenhänge sichtbar, die die Gegenwart des Erzählten, des Dorfes und seiner Bewohner prägen. So erhält manches, was zunächst wie ein fantastisch-literarisches Element anmutete, der automatische Mensch beispielsweise, eine logische Erklärung. Und trotzdem bleiben viele Sprachbilder und surreale Wortverschränkungen unaufgelöst, schwingt sich Roth in manchen Passagen mit einer sprachlichen Plastizität in Höhen auf, aus denen es wie in einem psychedelischen Rausch über einen hereinbricht. Nicht nur inhaltlich sind weite Strecken dem Surrealismus verpflichtet, in manchen Abschnitten greift Roth auch die bei den Surrealisten beliebte Technik des automatischen Schreibens auf.
Jeder Romanabschnitt vermittelt eine ganz bestimmte Atmosphäre, besitzt einen von der jeweiligen Textsorte geprägten Charakter. Neben der freien Assoziation wird durch das Prinzip einer stetigen Wiederholung ein ganz eigener Erzählkosmos geschaffen, bei dem der Leser, fast möchte man sagen, konditioniert wird, indem gewisse auf den ersten Blick unzusammenhängende Beschreibungen miteinander in Beziehung gesetzt werden, die dann bei jedem neuen Auftauchen mitschwingen. So wirkt etwa bei dem Satz „Und Stölzl in seinem Grab wartet auf seine Wiederkunft als Haar auf dem Kopf eines Zirkusartisten“, der ohne Kontext rätselhaft, vielleicht gar albern erschiene, die Beschreibung der Ausrottung von Drohnen im Bienenstaat nur wenige Sätze davor nach, wurde doch dort der Schwarm als ein einziger Organismus, eine einzelne Drohne als bloße Zelle gesehen, deren Tod nicht bedeutender sei, als stürbe beim Menschen ein Haar ab. Der von Roth erschaffene Textkosmos ist zwar einerseits fremd, andererseits wird aber durch die stetige Wiederholung des Fremden Vertrautheit geschaffen. Man richtet sich in der grotesken Bilderwelt ein, wobei dieses Wiederholen, das Durchexerzieren surrealer Sprachbilder über weite Teile dieses knapp 1.000 Seiten umfassenden Romans manchmal durchaus ermüdet. Denn was als Novum, als innovatives poetisches Verfahren faszinierend sein kann, kann sich ebenso leicht abschleifen. Und wenn auch manches sprachliche Bild durch ein Assoziationsgeflecht neue Bedeutungen erhält, so lässt sich die Bedeutung etlicher Bilder insofern schwer fassen, als sie ganz im Sinne surrealer, dadaistischer Sprachspiele vielleicht gar nichts „Sinnhaftes“ bezeichnen wollen.
Viele Absätze aber werden nicht so sehr von einer Handlung als von Roths Sprache selbst getragen, die mit all ihrer Plastizität manchmal brutal und erschreckend, fast schon abschreckend sein kann. Doch noch häufiger fühlt man sich in dieser Sprache, die einem durch ihre Anschaulichkeit so etwas wie Geborgenheit vermittelt, fast behütet. Noch im Befremdlichsten vermag sie etwas Heimeliges zu verbreiten. Dieses Spannungsfeld des Fremd-Vertrauten findet sich auf allen Ebenen des Romans, nicht zuletzt hält es die auf den ersten Blick heterogenen Textsorten, aus denen er besteht, zusammen. Roth nutzt vermeintlich vertraute Textgattungen, verfremdet und überzeichnet sie bis ins Groteske. Im Roman wimmelt es nur so von Sätzen, die an Kalendersprüche, Bauernregeln und Redewendungen erinnern, deren Sinn sich aber nicht erschließt; es finden sich Lieder, Gebete und Tagebucheinträge, deren Einordnung zur bloßen Konvention geronnen sind, ohne auf eine konkrete Zeit oder einen konkreten Ort zu verweisen, und auch die Märchen, die das gesamte 5. Buch des Romans ausmachen, tragen zwar typische Gattungsmerkmale, sind aber zum Teil derart überzeichnet, dass sie eher wie Märchenparodien erscheinen. Sprachlos ist der stumme Erzähler in diesem ausgesprochen beredten Roman also ganz und gar nicht. Eher hat er als Stummer einen anderen Zugang zur Wirklichkeit, zu Sprache und Erinnerung, der die erstarrten Denk- und Sprechkonventionen aufbricht, nichts verdrängt oder verschweigt. Die Sprache des Erzählers ist kein Taktieren, sondern unmittelbarer Ausdruck des Selbst.
In einem Aufsatz über Bienen im Anhang des Buches findet sich eine Formulierung Roths, die man durchaus auf den Roman beziehen kann: „Das Universum der Apis mellifica, der Honigbiene, ist voller kafkaesker Gesetze, voller Strafkolonie-, Verwandlungs- und Prozessgeschichten, es wäre ein blutiger magischer Stoff für einen Bienenschriftsteller, könnten die Bienen schreiben.“ Das gilt nicht nur für das Universum der Honigbiene, sondern auch für Roths literarischen Kosmos. Und tatsächlich beherrscht er seinen blutigen magischen Stoff, wird Landläufiger Tod diesem eigenen hohen Anspruch über weite Strecken gerecht.
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