Von den Schmerzen und Freuden der Liebe zu Gott und wie ein Baum der Seele aufhilft

Gret Schib Torra übersetzt Ramon Llull

Von Dorothea HeinigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothea Heinig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Allegorische Bäume sind in der Wissensliteratur und der erbaulichen Literatur des europäischen Mittelalters keine Seltenheit und so findet auch Ramon Llulls mystisch-kontemplativer Traktat „Der Baum der Liebesphilosophie“ (Arbor philosophiae amoris/Arbre de filosofia d’amor) in diesem weiten Hain seinen Platz.

Im Jahr 1229 wird die Insel Mallorca von König Jaume I. von Aragón (1208-1276) erobert, die maurische Bevölkerung der Insel in der Folge ihrer Freiheit beraubt und enteignet. Für seine Dienste in diesem Kriegszug erhielt der aus Barcelonas wohlhabendem Bürgertum stammende Vater Ramon Llulls Häuser und Landbesitz auf Mallorca. Der überaus reiselustige und produktive Autor – das Werkverzeichnis[1] umfasst 280 Einträge – wird um 1232 im heutigen Palma de Mallorca geboren. Auch Ramon Llull selber bewegt sich zunächst in diesem Umfeld, heiratet um 1257 Blanca Picany, wird Vater zweier Kinder und führt ein wirtschaftlich auskömmliches und weltliches Leben. Doch 1263 ereignet sich seine Bekehrung zur Buße: Über mehrere Wochen hinweg erscheint ihm wiederholt der gekreuzigte Christus und Ramon Llull beschließt, dem weltlichen Leben zu entsagen und sich in den Dienst Christi zu stellen. Dazu formuliert er einen dreiteiligen Plan: Er will Andersgläubige (also vor allem Juden und Muslime) zum Christentum bekehren, zu diesem Zweck will er das beste Buch der Welt schreiben und er will den Papst und die christlichen Könige dazu bewegen, Klöster zu gründen, in denen Sprachen wie Arabisch unterrichtet werden, die nötig sind, um zu missionieren. Er selber kauft einen maurischen Sklaven, der ihm Arabisch beibringt und unternimmt in den Jahren 1293, 1307 und 1313/1314 Missionsreisen nach Nordafrika (in die Städte Bejaia und Tunis). Diese Unternehmen sind allerdings wenig erfolgreich, denn er wird angegriffen, als er öffentlich predigen will, sechs Monate eingekerkert und schließlich ausgewiesen.

Dieser Aufgabe, der Bekehrung von Andersgläubigen oder missio ad infideles, wird Ramon Llull sein ganzes weiteres Leben widmen und sie ist die Grundlage seiner Studien und seines schriftstellerischen Schaffens. Als Theologe ist er Laie und so ist sein spät erlerntes Latein nicht das der zeitgenössischen Gelehrten, vielmehr ist ihm seine katalanische Muttersprache die Schriftsprache der Wahl: Tatsächlich gilt er als der Autor, der das Katalanische zur Literatursprache erhoben hat. Dies geschah jedoch nicht aus künstlerischem Ehrgeiz, sondern um möglichst viele Menschen, also auch ein Laienpublikum, mit seinen Bemühungen zu erreichen. Hiervon zeugt auch sein Testament aus dem Jahr 1313 (er stirbt 1316 auf Mallorca und wird im Franziskanerkloster von Palma beigesetzt), in dem er verfügt, dass von seinen Werken Kopien auf Latein und Katalanisch angefertigt würden, die unter anderem an die Karthause von Vauvert bei Paris und den Freund Perceval Spinola in Genua gehen sollen. Von seinen Werken in arabischer Sprache, verfasst zum Zwecke der Missionierung, wurde bislang kein Exemplar aufgefunden, lateinische und katalanische Übersetzungen sind jedoch erhalten.

Ramon Llull entwickelt seit 1274 über viele Jahre und in mehreren Stufen ein System, das er Ars nennt, eine Kunst also, die ein universelles, selbstreferentielles und rationales Mittel ist, die Wahrheit, das heißt den christlichen Glauben, zu erkennen, zu festigen und zu verbreiten. Dieses philosophisch-theologische System führt der theologische Autodidakt auf göttliche Erleuchtung zurück. Dabei verzichtet er darauf, sich auf Autoritäten zu berufen, auch die Trinität und die Inkarnation Christi werden nicht diskutiert, sondern es wird mit Prinzipien gearbeitet, die von allen drei monotheistischen Religionen fraglos akzeptiert werden können. Die Ars soll so überzeugend und unanfechtbar wirken (auch auf den Verstand), dass kein Nichtchrist sich der Vorstellung entziehen kann, dass das Christentum zweifelsfrei der einzig wahre Glaube sei.

Während des zweiten Studienaufenthaltes in Paris 1297-1299 entsteht 1298 in der Karthause von Vauvert „Der Baum der Liebesphilosophie“. Auch hier arbeitet Ramon Llull mit den göttlichen Prinzipien oder Würden seiner Ars: Güte, Größe, Dauer, Macht, Weisheit, Wille, Kraft, Wahrheit, Herrlichkeit, Unterschied, Eintracht, Gegensätzlichkeit, Anfang, Mitte, Ziel, Größersein, Gleichheit und Geringersein. Dies sind die Wurzeln des Liebesbaumes, die er so schon als Grundsätze in der Ars amatiua boni (Nr. 46; entstanden im August 1290 in Montpellier) beschrieben hatte. Die achtzehn principia Artis werden im Hinblick auf die Liebe zu Gott definiert und so befördert eine solche Liebeskunst die Befähigung zur Erkenntnis Gottes und der Wahrheit.

Diese Gedanken werden im „Baum der Liebesphilosophie“ in der Sprache der Mystik neu formuliert und der Aufstieg des Menschen – der hier als der Freund erscheint – zur Liebe Gottes – des Geliebten – in Gesprächsform dargestellt. Zu Beginn klagt die personifizierte Liebesphilosophie darüber, dass die Menschen ihre Kraft zu lieben einzig ihrer Schwester, der Wissensphilosophie, widmen. Ramon verspricht ihr, ein Buch zu schreiben, das die Liebe zu Gott preist und es soll sich an alle Menschen richten: an Christen, Juden, Sarazenen und Heiden, weil es ja von der Philosophie der Liebe handelt. Dieses Buch ist angeordnet entsprechend der Allegorie eines mystischen Baumes, der in sieben Teile eingeteilt wird. Hierbei folgt Ramon der Gliederung, die er schon in seiner für ein nicht-universitäres Publikum bestimmten Enzyklopädie Arbor Scientiae/L’arbre de ciènca (Nr. 65; entstanden von September 1295 bis April 1296 in Rom) vorgenommen hatte. Dieses Ordnungssystem – der Baum des Wissens oder Porphyrianische Baum – das die Wissenschaften als einen Baum darstellt, ist seit der Spätantike gängig und gebräuchlich, als es von dem Gelehrten und Staatsmann Boethius (475/480-524 ) zum ersten Mal als Bild verwendet wurde.

Dabei werden die Wurzeln von den oben genannten achtzehn Prinzipien gebildet, mit deren Hilfe man alles, was zum guten und großen Lieben gehört, finden kann. Diese Wurzeln werden in drei Schritten – Definitionen, Vermischungen und Gedanken der Liebe – betrachtet. So kann die Liebe und das Lieben vermehrt werden, indem man beides bei den Wurzeln der Liebe sucht. Der Stamm entsteht aus der Vereinigung dieser Prinzipien oder Wurzeln und setzt sich aus drei Teilen zusammen, nämlich der Form der Liebe (das heißt, ihr Wesen und ihr Wirken), der Materie der Liebe (das heißt das Wesen der Liebe und die Liebenswürdigkeit des Geliebten) und der Verbindung beider. Der Freund erkennt so, wie sein Lieben beschaffen ist und welche Wurzel der Liebe seiner Seele am nächsten ist. Die Äste sind so zahlreich, dass Ramon sich auf drei beschränkt: Eigenschaften, Fragen und Bitten der Liebe, die in 153 Definitionen, Fragen und Antworten erläutert werden. Die Zweige sind drei an der Zahl: Großzügigkeit, Schönheit und Wonne der Liebe. Die Großzügigkeit und Freigebigkeit des Geliebten verpflichtet den Freund, seinerseits großzügig mit seinen weltlichen Gütern zu sein. Die Schönheit spiegelt sich in der göttlichen Schöpfung wider, wobei zu unterscheiden ist zwischen natürlicher und moralischer Schönheit. Die Blätter der Liebe sind Seufzer, Tränen und Ängste des Leidens des Freundes (also des gläubigen Menschen), der Gott überaus liebt. Die Seufzer entspringen dem Herzen des Freundes, der Sehnsucht nach dem Geliebten und Mühsal aus Liebe erdulden muss; aus den gleichen Gründen fließen die Tränen der Liebe. Auch Abenteuer und Gefahren, die im Dienst des Geliebten überstanden werden müssen, lassen den Freund weinen. Die Ängste der Liebe bezeugen die Verfehlungen, die der Freund an der Liebe und dem Geliebten begangen hat und die Bestrafung, die er dafür erhält.

An dieser Stelle fügt Ramon den Bericht von den Widerfahrnissen der Liebe ein, die den Freund aus Liebe zum Geliebten ereilen. Denn der Freund erkrankt durch das Übermaß von Seufzen, Weinen und Fürchten und bittet den Arzt der Liebe um ein Heilmittel, das dieser aus den Liebeswurzeln bereitet. Doch das Heilmittel wirkt nicht, da der Freund sich mit Gegensätzlichkeit und Geringersein angefreundet hat und so wird er vom Geliebten zum Tod aus Liebe verurteilt. Sterben kann er jedoch erst, nachdem man ihm Jerusalem und das Heilige Land gezeigt hat. Betrauert wird er von der Dame der Liebe – Maria, der Mutter Gottes. Die Blüten der Liebe sind Hoheit, Lob und Ehre des Geliebten, in ihnen findet die Seele des Freundes Seligkeit. Denjenigen, der gut liebt, werden diese Blüten in seinem Lieben bestärken. Ein anderer Freund tritt nun an die Stelle des Verstorbenen und lobt die Liebe. Die Frauen der Liebe (eine Umschreibung für die Wurzeln der Liebe) und die Diener der Liebe (die den achtzehn Prinzipien entsprechenden Tätigkeiten wie Gutmachen, Größermachen et cetera) treffen mit ihm zusammen, der ebenso zu lieben vermag wie der Verstorbene. Sie wollen ihm auf seinen Weg in die Welt folgen und ihn unterstützen, wenn er Menschen lobt, die Gott ehren und jene tadelt, die ihn beleidigen. Viel Mühsal, Pein und Kummer müssen sie dabei ertragen. Die Frucht der Liebe schließlich ist dreifach: Gott, denn er ist Ziel und Vollendung von allem, was ist, sein Werk, das Ziel und Vollendung aller geschaffenen Werke ist und die Glückseligkeit, in der im anderen Leben die Heiligen ewige Herrlichkeit finden. Die Liebenden haben so über den buchstäblichen Sinn hinaus anagogische und moralische Kenntnis von der Frucht und können sie umso besser lieben; erringen kann sie der Freund jedoch erst, wenn er 144 Fragen über den Geliebten, die Liebe und seine eigene Liebesfähigkeit zu beantworten im Stande ist. Zum Schluss folgt eine Gebrauchsanweisung: Die Eigenschaften der Liebe werden entsprechend den Teilen des Baumes betrachtet, so können einzelne Teile in Gedanken durchlaufen und eingeübt werden. Die große, gute, dauerhafte Liebe (die Adjektive entsprechen den achtzehn Prinzipien der Ars) wird vermehrt und Wissen und Bildung werden gestärkt, um den Geliebten und seine Schöpfung besser zu verstehen. Die Philosophie der Wissenschaft und die Philosophie der Liebe können nun vereint wirken. Gewidmet ist das Buch dem weisen und guten König von Frankreich, Philipp IV. (1268-1314, König seit 1285 und der Enkel Jaumes I. von Aragón) in der lateinischen Fassung, für die Königin von Frankreich, Johanna von Navarra (1273-1305), ist eine nicht erhaltene französische Fassung vorgesehen gewesen.

Das Werk ist in fünf katalanischen, sieben lateinischen und zwei kastilischen Handschriften überliefert – ein Nachweis dafür, wie wichtig die mehrsprachige Überlieferung für das Werk Ramon Llulls ist. Gleichzeitig bringt dies aber auch Schwierigkeiten mit sich: Der lateinische Text des „Baumes der Liebesphilosophie“ lag bislang in Ausgaben aus den Jahren 1516 beziehungsweise 1737 vor, die katalanische Fassung in Ausgaben von 1935 beziehungsweise 1980.

Die erste deutsche Übersetzung von Gret Schib Torra auf der Grundlage ihrer Ausgabe von 1980[2] ermöglicht es nun auch einem größeren Publikum, diesen durchaus fremdartigen allegorisch-mystischen Text wahrzunehmen und sich an den Versuch einer Enträtselung zu machen. Die Übersetzerin hat zumindest die sprachlichen Hürden aus dem Weg geräumt, indem sie die Neuschöpfungen des Autors aus dem Katalanischen auf eine Weise ins Deutsche übertragen hat, die einen lesbaren und nachvollziehbaren Text entstehen lässt (die Schwierigkeiten, die dabei auftraten, sind in einer Anmerkung der Übersetzerin dargestellt). Diesen dann tatsächlich zu verstehen, ist ein zweiter, weitaus mühsamerer Schritt, der auch der Rezensentin nicht immer gelang. Denn schwierig bleibt das Werk allemal, auch in der Übersetzung, denn die Gedankengänge Ramon Llulls, seine Zwiesprache mit Gott und seinen Helfern werden vor allem das moderne Lesepublikum sehr fordern. Der Übertragung geht eine Einführung von Alexander Fidora voraus, die über die Umstände der Entstehung des Traktates informiert sowie eine knappe Einführung in die Mystik und die Besonderheiten der Gedankenwelt Llulls gibt. Auch ein dramatisches Nachspiel wird erwähnt, denn Llulls Werk selber und auch die Anhänger seiner Lehre gerieten 1376 ins Visier des Inquisitors Nicolau Eimeric (um 1320-1399), die Verurteilung durch Papst Gregor XI. wurde 1419 wieder aufgehoben. Eine Auswahlbibliographie rundet diesen Einstieg in das Werk Ramon Llulls ab.

Ohne diese Einführung wäre das Werk nur schwer einzuordnen und zu verstehen, zudem wird auch eine Leseanleitung mitgeliefert, die einen ersten Zugang erleichtert. So haben Herausgeber und Übersetzerin ihr Möglichstes getan, um diesen Text zu erschließen, weitere Erkenntnis würde wohl nur eine kommentierte Ausgabe ermöglichen.

Nun ist es an den Lesern, diese Anstrengungen zu würdigen.

[1] Alexander Fidora/Josep E. Rubio (Hgg.): Raimundus Lullus. An Introduction to his Life, Works and Thought (Doctoris Illvminati Raimundi Lvlli Opera Latina, Corpvs Christianorvm Continuatio Mediaeualis 214, Supplementum Lullianum Tomvs II), Turnhout 2008, S. 135-242. „Der Baum der Liebesphilosophie“ erscheint hier als Nr. 77 (S. 174, mit Nachweisen zu Überlieferung, Ausgaben und Übersetzungen), auch die Nummern hinter anderen angegebenen Werken verweisen auf dieses Verzeichnis. Zugleich bietet der Band eine ausgezeichnete Einführung in das ganz eigene Werk und Denken Lulls, sein Leben sowie den geopolitischen und kulturellen Hintergrund.

[2] Ramon Lull: Arbre de filosofia d’amor, hrsg. von Gret Schib (Els Nostres Clàssics, Col·lecció A, 117), Barcelona 1980.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Ramon Llull: Der Baum der Liebesphilosophie. Eingeleitet von Alexander Fidora.
Übersetzt aus dem Katalanischen von Gret Schib Torra.
LIT Verlag, Münster 2016.
141 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783643133274

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