Die Fackel im Ohr

Nach langer Wartezeit liegt die deutsche Übersetzung des zweiten Bandes von Edward Timms Karl-Kraus-Biografie vor

Von Stefan TuczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Tuczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1986 erschien mit Karl Kraus. Apocalyptic Satirist, Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna in der Yale University Press der erste Band von Edward Timms auf zwei Bänden angelegter Biografie über Karl Kraus. Der Germanist Timms hat sich nicht weniger zur Aufgabe gemacht, als Kraus wieder bekannt zu machen: Ende der 1980iger Jahre war der Schriftsteller, Herausgeber, Satiriker, Politik-, Kultur-, Ideologie- und Sprachkritiker Karl Kraus nicht nur im englischen, sondern auch im deutschsprachigen Sprachraum fast vergessen. Zwar wurde Kraus als gewitzter Satiriker geachtet, dessen Aphorismen immerhin als kleine Sammelbändchen erschienen, primär aber war er als großer Nörgler bekannt, der allenfalls von Germanisten in Fußnoten bedacht wurde. Die große Kraus-Renaissance brachte ohne Frage Timms monumentale Biografie, deren erster Teil auf Deutsch erst 1995 unter dem Titel Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1874 bis 1918 im Franz Deuticke Verlag und später als Taschenbuch bei Suhrkamp erschien.

Timms erzählt nicht nur über Kraus, wie es in einer einfachen Biografie üblich wäre. Er beschreibt auch die mannigfaltige Literatur- und Kulturszene Wiens, deren fester Bestandteil Kraus war. So kommen etwa auch Sigmund Freud und Hermann Bahr mit seinem Wiener Café-Haus-Literatenzirkel vor. Und dies muss man verstehen: Zwar wird Kraus immer wieder als Nörgler und Besserwisser dargestellt, und die Geschichten, dass er von wütenden Gegnern, die er in seiner Zeitschrift Die Fackel satirisch-polemisch angegriffen hatte, mit Ohrfeigen und wüsten Beschimpfungen bedacht wurde, mögen nicht unbegründet sein. Den Nimbus des ewigen Kritikers und scharfen Gegners der Wiener Moderne jedoch konnte sich Kraus nur erarbeiten, indem er auch ein großer Kenner und Intellektueller seiner Zeit war. Kraus hat sehr früh begriffen, dass,   wer seine Kritik und Satire mit Substanz füllen will, sein kritisiertes Objekt genau kennen muss. Und so ist auch Timms Kraus-Biografie gleichzeitig eine Kulturgeschichte Wiens.

Dass seine Biografie weit mehr als nur ein Buch füllen wird, wusste Timms schon früh. Dass der Leser aber so lange darauf warten werden muss, endlich in den Genuss der Erzählung der letzten Lebensjahre von Kraus zu kommen, war nicht zu erwarten. Im Jahre 2005 erschien der zweite Band unter dem Titel Karl Kraus. The Post-War Crisis and the Rise of the Swastika – nach knapp zwanzig Jahren. Nochmals zehn (!) Jahre musste der deutsche Leser auf eine Übesetzung warten. Der Mammutaufgabe des Übersetzens stellte sich Brigitte Stocker, so dass das Buch unter dem Titel Karl Kraus. Die Krise der Nachkriegszeit und der Aufstieg des Hakenkreuzes im Verlag Bibliothek der Moderne erscheinen konnte. Sowohl der Übersetzerin als auch dem Verlag ist großer Dank geschuldet, dass sie dieses nunmehr abgeschlossen Lebenswerk von Timms den deutschen Lesern zugänglich gemacht haben.

Endet der erste Band mit dem Jahr 1918, beginnt der zweite Band dort auch wieder, nimmt die Fäden der Kraus’schen Biografie sowie der Beschreibung der wienerischen Kulturgeschichte wieder auf und endet mit dem Tod von Kraus. Es ist bezeichnend, dass zeitgleich mit dem Ende von Karl Kraus auch die moderne Kultur und Literatur in Österreich durch den Einmarsch der Nationalsozialisten ihr Ende fand.

Der zweite Band der Biografie ist  genauso vielschichtig und nicht nur auf Kraus ausgelegt wie der erste Band. Timms versteht es hervorragend, Kraus und seine literarischen Werke, besonders die Dritte Walpurgisnacht steht im Mittelpunkt der Betrachtungen, zu beschreiben, auszulegen und in ihren historischen Kontext einzubetten. Timms beweist, dass Kraus den Aufstieg der Nationalsozialisten nicht stumm hingenommen hat, sondern sich wortgewaltig dazu äußerte,  in dem ihn eigenen polemisch-satirischen Ton. Den Leser erwartet keine trockene Biografie, vielmehr legt Timms dem Leser die ganze Wiener Moderne vor, nichts wirkt überflüssig und nie hat man das Gefühl, dass Timms etwas vergessen hätte – hier merkt man Timms Liebe für das Detail und vor allem für die Vita von Kraus. Mit großem Respekt nähert er sich Kraus und stellt ihn als das dar, was er wirklich war: Nicht (nur) als Nörgler, sondern als Zeitkritiker und Intellektuellen eines Ranges, den es heute so nicht mehr gibt.

Schade ist nur, dass der erste Band mittlerweile nur noch antiquarisch erhältlich ist. Denn um diesen zweiten Teil vollständig verstehen und genießen zu können, bedarf es doch des ersten Teils. Es bleibt zu hoffen, dass sich ein Verlag erbarmt, auch diesen wieder aufzulegen, damit der zweite Band dieser gewichtigen Kraus-Biografie nicht für sich allein zu stehen braucht. Denn dies kann Timms: Lebendig, kenntnisreich und mit viel Herzblut erzählen. Sein großes Verdienst ist, dass er Kraus aus den Fußnoten der Geschichte herausholt und ihn für den interessierten Leser wieder lebendig macht. Verdient hat Karl Kraus es allemal.

Titelbild

Edward Timms: Karl Kraus. Die Krise der Nachkriegszeit und der Aufstieg des Hakenkreuzes.
(Enzyklopädie des Wiener Wissens: Porträts 5).
Bibliothek der Provinz, Weitra 2016.
684 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783990284995

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