Ein Königreich für eine Nussschale
Der mittlerweile 16. Roman Ian McEwans variiert bekannte Motive auf originelle Weise
Von Dennis Borghardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Wahrheit liegt im Uterus, genauer: im Uterus von Trudy, einer hedonistischen Londonerin mittleren Alters. Gelegentlich teilt sie auch ihre Wahrheiten, vornehmlich mit ihrem Geliebten Claude. Bereits mit der Namensgebung der beiden Hauptcharaktere ist man unmittelbar beim Sujet der hier zu erzählenden Geschichte und im selben Zuge auch in der Literaturgeschichte angelangt, namentlich beim Figurenpaar Gertrude und Claudius aus Hamlet. Wie Claudius einst der Schwager von Gertrude war, so ist hier Claude der Bruder Johns, des Ehemanns von Trudy. Es soll an dieser Stelle aber nicht so sehr der Fokus auf die eingängige Shakespeare-Rezeption gelegt werden (dies wurde bereits hier, hier und dort getan), sondern ein anderer Umstand illustriert werden, der zum Lektürevergnügen und auch zur Qualität dieses 16. Romans Ian McEwans, Nussschale, beiträgt: Man hat es einerseits mit unterhaltsamen Zugriffen auf die Gattungs- und Verfahrensgeschichte zu tun, die McEwan zu einem Ganzen verflicht, ohne dabei über die Köpfe des Lesepublikums hinweg zu sprechen; andererseits kritisiert der Roman zudem unterschwellig einen bestimmten Umgang mit Gegenwartsdiskursen – auch wenn das Buch bisher in der überwiegenden Zahl der Rezensionen als nicht-diskursive Groteske gelesen wurde.
Die Ausgangssituation jedenfalls weckt sofort das Interesse des Lesers: Man hört eine Stimme aus einem Mutterbauch, welche die Geschichte erzählt und zugleich Teil derselbigen ist. Die Verlagerung des Erzählstoffs in die vorgeburtliche Existenz des Erzählers ist etwa aus manchen Episoden in Laurence Sternes Tristram Shandy (1759) wohlbekannt; zudem führte Samuel Beckett im Zuge seiner Proust-Studie (1931) und in seinem Roman-Erstling Murphy (1938) die Macht der Erinnerung mit einer Sehnsucht nach der Rückkehr in den Mutterleib eng – hinein in ein embryonales Stadium, an das Beckett nach eigenem Bekunden zeitlebens persönliche sinnliche Erinnerungen hatte und das für ihn eine Zwischenstellung zwischen Leben und Tod einnahm. Das Setting schließt sich somit an bestimmte loci classici der englischsprachigen Literaturgeschichte an. Und damit ist man auch bei dem angelangt, was McEwans Roman auszeichnet: Der uneingeschränkte Star dieses Texts ist der Erzähler – ein acht Monate alter Fötus, der „die Arme geduldig gekreuzt, warte[t] und [sich] frag[t], in wem ich bin und worauf ich mich eingelassen habe.“ Ihm kommen im Folgenden viele Rollen zu, die allesamt erheblich zum Lesevergnügen beitragen: Er ist pikaresker Beobachter, ein Lauscher an der Wand, ein ständiger Mitwisser, Zeuge eines bevorstehenden Verbrechens, eine ungeahnte Präsenz, die sich zudem in der Lage zeigt, in bevorzugt küchenphilosophischer Manier über Themen wie Fatalität, Mortalität und Melancholie zu sinnieren. Die Innenwelt hängt hier im wahrsten Wortsinn existentiell von der Außenwelt ab; sie nutzt dies aus, um letztere sarkastisch auszudeuten – eine Außenwelt, in der sich vornehmlich exzessiver Alkoholkonsum, Intrigen und Geschlechtsverkehr abwechseln. Der namenlose Erzähler lauscht gespannt und trinkt dabei über die Plazenta gut dekantierten Rotwein mit, den sich die Protagonisten der Außenwelt fast fortwährend einflößen; angesichts der Fülle und Vielfalt der induzierten Weinsorten lässt er sich umstandslos als pränataler Gourmet bezeichnen. Hierin zeigt sich sogar eine Kontrafaktur zum so traditionsreichen stream of consciousness, wenn über die Alkohol-Therapie in utero fremdregulierte Bewusstseinsinhalte vorgeführt werden.
Wäre all dies nun einfach nur eine grotesk anmutende Adaptation und ironische Fortführung mehr oder weniger bekannter Erzählmuster, eine heitere Melange aus Fremd- und Selbstzitaten, ist dennoch beachtlich, dass punktuell über die erstaunliche akustische Begabung des Fötus die Gegenwartsdiskurse mit ins Spiel kommen: Wichtige Kenntnisse von der Außenwelt erhält er über ein traditionelles Medium, das Radio. Er empfängt tagesaktuelle Nachrichten, aber auch tiefer greifende Beiträge zu Themenbereichen, die von Religionskonflikten, ökologischen Problemen bis hin zu den globalen Flüchtlingskrisen reichen – mit der Folge, dass sich seine eigenen Traumwelten zu erheblichen Teilen aus den Bad News heraus stricken, vorgeführt in stakkato-artigen Ellipsen:
Die freie Rede nicht länger frei, die liberale Demokratie nicht länger das selbstverständliche Schicksalsziel, Roboter, die Jobs stehlen, die Freiheit im Clinch mit dem Wunsch nach Sicherheit, Sozialismus in Ungnade, Kapitalismus korrupt, zerstörerisch und gleichfalls in Ungnade, Alternativen keine in Sicht.
Der boulevardeske Schlagzeilen-Jargon lässt keinen Zweifel: Es geht um die Probleme der Gegenwart und um die Gegenwärtigkeit der Probleme – mithin auch um dasjenige, wovor sich manche politischen Strömungen in Europa gegenwärtig lieber abschotten wollen.
Die Nachrichten sind brutal, irreal, ein Alptraum, aus dem wir nicht erwachen können. Mit meiner Mutter höre ich zu, fasziniert und deprimiert. Versklavte Mädchen, für die man betet, bevor man sie vergewaltigt. Fassbomben, die über Städte abgeworfen, Kinder, die auf Marktplätzen als lebende Bomben missbraucht werden. Wir haben von einem LKW am Straßenrand in Österreich gehört, in dem einundsiebzig Flüchtlinge eingesperrt der Panik, dem Erstickungstod und der Verwesung überlassen wurden. Dies sind neue Zeiten. Vielleicht sind sie uralt.
In einer Zeit, in der das Reden über Krisen Dauerkonjunktur hat, verdichtet der Text hier bekannte (und weniger bekannte) Nachrichtenbeiträge zu einem dystopischen Szenario, um dann ausgerechnet das ewig Gleiche und scheinbar immer Wiederkehrende zu betonen. Und zu ebendieser Schwere vielleicht niemals wandelbarer Zeiten setzt der Roman einen gewaltigen Figurenkontrast:
Denn Trudy, selbst unpolitisch und insgesamt dem individualistischen Hedonismus der modernen Londoner Welt zuzurechnen, bekümmert derlei eher wenig (Gleiches gilt erst recht für Claude). Sie arbeitet akribisch an ihrem Mordplan (dessen Ausgang hier nicht verraten wird) und plant mit ihrem Liebhaber die gemeinsame Zukunft danach – eine Figur, auf die der Topos der bösen Stiefmutter im Märchen wie gemünzt zu sein scheint, aber auch hier wiederum mit einer leichten Variation versehen wird: Es ist dann doch die leibliche, zudem die werdende Mutter, die sich hier in Amoralität und Parasitentum ergeht. Das großzügige Stadthaus, in dem sie wohnt, ist Eigentum ihres Mannes John; sie schützt ein Ruhebedürfnis aufgrund der fortgeschrittenen Schwangerschaft vor und benutzt das Haus, um ihr Liebesverhältnis zu Claude auszuleben. Haus und Grundstück wiederum sollen nach vollzogenem Mord verkauft werden, um ein finanziell abgesichertes, gemeinsames Leben zu führen, das Kind indes nach vollzogener Geburt an einer nicht näher definierten Stelle „untergebracht“ werden. Die Skrupellosigkeit Trudys ist in jeder Zeile, jeder direkten Rede und jedem Dialog (die häufig aus reinen, wunderbar in Szene gesetzten Kommunikationsproblemen bestehen) praktisch fassbar.
Hervorzuheben ist die Vielzahl an Genres, die im Bewusstsein der literarischen Traditionen einen erheblichen Reiz des Textes ausmachen. Sie reichen von der Kriminalgeschichte über Fallstudie und Satire bis hin zum naturalistisch geprägten Kammerspiel. Für letzteres bieten die Küchenszenen ein Beispiel:
„Dein Bruder übrigens“, sagt meine Mutter zu meinem Onkel, „hat sich mit Threnodie gestritten.“ „Eine Threnodie“, erklärt mein Vater mit peinlicher Sorgfalt, „ist ein Klagelied für die Toten.“ „Wie Candle in the Wind?“ fragte Claude plötzlich interessiert. „Um Gottes Willen.“
Da der Fötus auch während solcher Streitereien über die ihn erwartende Welt räsoniert, wird er in solchen Szenen endgültig auch räumlich zum Küchenphilosophen gemacht. Die Art und Weise, wie er das Figurenensemble selbst zusammenfasst, zeugt indes von sarkastisch geprägter Tragikomik:
Mein lächelnder Vater und die neue, verzwickte Kunde von seinem Anstand, seinem Talent. Die Mutter, an der ich hänge und die ich lieben und hassen muss. Der priapische, satanische Claude. Elodie, die erkundende Dichterin, zuverlässige Daktyle. Und mein feiges Ich, durch mich von Rache freigesprochen, von allem, nur nicht vom Denken. Diese fünf Gestalten ziehen an mir vorbei und spielen ihre Rollen in den Ereignissen, anfangs genau, wie sie waren, und dann, wie sie hätten sein können und vielleicht noch sein werden. Mir fehlt die Macht, ihr Tun zu lenken. Ich kann nur zusehen. Stunden vergehen.
Immer wieder nahende, schwankende Gestalten lassen den Erzähler in solchen Situationen zum Theaterzuschauer oder besser -zuhörer werden. Er wirkt in solchen Szenen gelegentlich lakonisch und ohnmächtig. Zugleich offenbart er jedoch ebenso eine fast schon lukrezische Attitüde im katachrestischen Rhetorikgewand:
Ich fürchte mich nicht vor Paradies und Inferno, diesen Themenparks mit ihren himmlischen Karussellfahrten, den höllischen Menschenmengen; auch mit dem Affront, ins ewige Vergessen gestoßen zu werden, könnte ich leben.
Viel zeitgemäßer und amüsanter ließe sich der alte Topos von der Indifferenz des Todes kaum darstellen. Wenn die Nachrichten selbst praktisch nur noch dystopische Zustände weiterreichen können, bleibt immer noch die Vereinnahmung dieser Zustände durch den Konsumismus als Themenparks und Karussellfahrten. Derartiges mit sprachlicher Raffinesse zu verknüpfen, gelingt McEwan (und seinem Übersetzer Bernhard Robben) mit Leichtigkeit. Die Erzählweise ist bei alledem vor allem bildreich und effektvoll zu nennen.
Wie aber können Diskurse überhaupt noch wirken, wenn sie scheinbar in Ignoranz, Indifferenz oder im Bedenken des eigenen Vorteils enden? Die Rolle des Intellektuellen, sich in Diskurse einzuschalten, ist nicht mehr wie in der Nachkriegszeit (Grass, Adorno, Habermas, Derrida, Chomsky etc.) gegeben – oder hat sich zumindest spürbar nach Twitter oder in andere soziale Netzwerke verschoben –, ein Umstand, der seit Längerem beklagt wird und von Eva Geulen noch in jüngerer Zeit (FAZ vom 22.05.2017) als ein Wahrnehmungsproblem klassifiziert wurde. Wahrnehmung spielt nun auch in Nussschale eine entscheidende Rolle; sie ist – bis hin zur Schlusspointe – die im Grunde einzige Möglichkeit, die dem Protagonisten bleibt. Der Erzähler nimmt die Lage – auch und besonders seine eigene – durchaus ernst und zeigt sich regelmäßig beunruhigt, allerdings dann doch auf eine Weise, dass er dazu kommt, in sich selbst hinein zu lachen. Es handelt sich um ein subkutanes Lachen über ein Milieu, in dem das Räsonieren über Rebsorten mehr gilt als das Einmischen in politische Missstände, in dem der Gang zur Lyrik-Bibliothek des Dachgeschosses zum Höhepunkt des Tages wird und selbstverstärkende Effekte auf die Beurteilung der eigenen lyrischen Ergüsse hat: eine satirische Phantasie über den Zustand der europäischen Intellektuellen.
McEwan macht sich also einerseits über bestimmte habituelle Gewohnheiten lustig und operiert dabei selbst mit gelehrten Zitaten aus allen Epochen der europäischen Geistesgeschichte. Die Selbstironie des Fötus spiegelt sich in der Gesamtanlage des Textes wider. Der Roman verfällt bei allen gelehrten Anspielungen aber andererseits auch immer wieder ins Spiel mit dem Trivialen, dem man einen Hang zur Oberflächlichkeit nicht absprechen kann. So ist schwer bestreitbar, dass der Text grosso modo nicht viel Lesewiderstand aufbietet; auch die Einhaltung bestimmter Stereotypien (der erfolglose Dichter John versus der Geschäftsmann Claude) trägt nicht unbedingt zur Verkomplizierung des plot bei. Ein recht grober Schematismus ist außerdem darin zu sehen, dass zu den grundlegenden Dichotomien stets ein Drittes hinzutritt, aus dem dann die Irritationen entstehen, auf denen wiederum der Handlungsfortschritt elementar beruht. Nussschale ist dementsprechend kein großer Wurf und will dies auch gar nicht sein. Sicher aber gehört der Roman zu den unterhaltsamsten und aufgrund seiner kritischen Untertöne zu den lesenswertesten Erscheinungen des letzten Jahres.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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