Revolution in Bedrängnis

Stephen A. Smith erzählt von der Last des Zarenerbes für die revolutionären Ideale

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Oktoberrevolution“ – 1917 in Russland, die große Umwälzung der politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse, der Sturz des Zaren, Abschaffung der Monarchie, ein neuer Staat – die  Sowjetunion. Weltgeschichte auf wenige Tage verdichtet… Schaut man genauer hin, dann erscheinen die Oktobertage nur als eine von vielen Etappen eines Prozesses, der bereits viel früher einsetzte und im Oktober 1917 auch noch nicht zu seinem Ende gelangt war. „Revolution in Russland“, wie der britische Historiker Stephen A. Smith sein Buch bewusst ohne den bestimmenden Artikel nennt, bedeutete einen langen Zeitraum. Smith beschreibt im Untertitel seines Werks „das Zarenreich in der Krise“ von 1890 bis 1928. Überspitzt bringt der Autor hier eine erkenntnisleitende These zum Ausdruck: Die  Revolution begann bereits um die Jahrhundertwende, als das alte Zarenregime erstmals ernsthaft versuchte, mit Reformen auf die Herausforderungen einer neuen Zeit zu reagieren. In dem Maße, wie es dem Zar und seinen Beratern nicht gelang, diese Reformen erfolgreich umzusetzen, wuchs der Widerstand, der an vielen Orten des Riesenreichs immer wieder schon revolutionäre Formen annahm. Zu den Akteuren zählten die Bolschewiki. Als sie schließlich 1917 die alleinige Macht übernehmen, haben sie freilich damit das Zarenreich längst noch nicht überwunden.

Smith führt nachvollziehbar aus, dass die Bolschewiki nach ihrer Machtübernahmen noch sehr lange mit dem Zarenerbe zu tun hatten. Kontinuitäten zwischen dem zaristischen und dem sowjetischen Staat bestimmen die Rahmenbedingungen des politischen und ökonomischen Handelns. Zu diesen Kontinuitäten gehören „strukturelle Tiefenkräfte“ wie die Weite des Landes und die damit einhergehenden Probleme des Verkehrs und der Kommunikation; das Klima, das die ständige Gefahr von Missernten mit sich bringt; die „Geopolitik“ mit den Schwierigkeiten der Grenzverteidigung und die „Kosten eines stehende Heeres“. Hinzu kamen die nach wie vor bestehenden religiösen und kulturellen Traditionen eines großen Teils der Bevölkerung vor allem auf dem Lande, die die Handlungsoptionen der Bolschewiki spürbar einschränkten. Smith weist darauf hin, dass die Wirkung der „strukturellen Tiefenkräfte“ durch den Krieg verstärkt wurden. Die Bolschewiki fanden kaum Ressourcen, um sich der Verwirklichung der frühen Ideale zu widmen. Smith resümiert: Die „utopischen Ideale der Frühzeit“ wurden allmählich aufgegeben „und es kristallisierte sich eine neue Synthese aus revolutionärer und traditioneller Kultur heraus.“

Unter diesen Umständen blieb für die Protagonisten der Revolution ihr Erfolg ungewiss. Eine schwere Last waren die kriegerischen Auseinandersetzungen, der Erste Weltkrieg und die ihm folgenden bürgerkriegsähnlichen Kämpfe überall im Land. Mehr als die idealistischen Motive für eine andere, bessere Gesellschaft prägten die Auswirkungen des Krieges die Praxis der Revolution. Die Bolschewiki sahen sich immer wieder gezwungen, auf diese Auswirkungen zu reagieren, statt eigenständig handeln und gestalten zu können.

Dass sie in dieser Situation auf die autoritäre Karte setzten, ist ein weiteres Moment der Kontinuität. Doch gerade dadurch gelang es ihnen am Ende doch, den neuen Staat zu stabilisieren. Die 1921 noch von Lenin und Trotzki in Gang gesetzte „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) war aus der Perspektive des revolutionären Ideals ein Rückschritt, aber sie vermochte durch ‚liberale‘ Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft die zerstörten Strukturen vor allem in der Landwirtschaft und der Industrie wieder aufzubauen. Bis 1928, noch über Lenins Tod hinaus, bestimmte die NEP den Gang der Dinge. Konsequent also, dass Smith dieses Datum als das Ende des ‚Zarenreichs‘ bestimmt. Es gehört zur Tragik der russischen Revolution, dass ihre idealistischen Motive nie wirklich zur gestaltenden Kraft der russischen Gesellschaft werden konnte, weshalb Smith an einer Stelle seiner umfang- und kenntnisreichen Ausführungen die chinesische Revolution unter Mao als die bedeutsamere Revolution des 20. Jahrhunderts ansieht, „tiefgreifender in ihrer Mobilisierung der Gesellschaft, ehrgeiziger in ihren Projekten, weitreichender in ihren Errungenschaften, dauerhafter als ihr sowjetisches Gegenstück.“

Smith beschreibt anschaulich und gut lesbar an vielen Beispielen aus Politik, Wirtschaft und Kultur, wie die revolutionären Ideale durch die historischen Umstände immer wieder verwässert wurden und durch praktisch-autoritäre Maßnahmen der Bolschewiki eine neue Richtung nahmen. Dabei behält er auch die Randgebiete des russischen Reichs im Blick. Zum Beispiel Aserbaidschan: Für eine kurze Zeit von 1918 bis1920 war dieses Land so frei, dass es sich eine bis heute fortschrittliche Verfassung schuf. Dann kamen die Bolschewiki und holten das Land als Sowjetrepublik zurück ins ‚Zarenreich‘.

Die russische Revolution mündete schließlich in Stalins Diktatur. Die „große Wende“, so bemerkt Smith, war eine „Revolution von oben“ und schaffte, was den Bolschewiki nicht gelang: Sie beendete endgültig die Reste des Zarenreichs, indem sie eine neues Zarenreich schuf. Darin liegt eine traurige Ironie. Smith’ Buch trägt dazu bei, sie zu verstehen.

Titelbild

Stephen A. Smith: Revolution in Russland. Das Zarenreich in der Krise 1890-1928.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Haupt.
Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2017.
496 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783805350686

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch