Der Anfang vom Ende

Jörn Schütrumpf versammelt in der Anthologie „Diktatur statt Sozialismus“ Beiträge der deutschen Linken aus den Jahren 1917 und 1918 zur Einschätzung der russischen Revolution

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit großen Hoffnungen schaute die internationale Linke 1917 auf die Revolution in Russland. Sollte hier nun gelingen, was seit den Tagen des Kommunistischen Manifestes, in dem Karl Marx und Friedrich Engels die „Proletarier aller Länder“ aufgefordert hatte, sich zu vereinigen, ihr Traum war – der erste Schritt zur Herstellung einer gerechteren Welt?

Auch in Deutschland richtete man erwartungsvoll den Blick nach Moskau. Der von  Jörn Schütrumpf  herausgegebene Dokumentenband zeigt nun, dass die Bewertungen der russischen Ereignisse bereits von der sich anbahnenden Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung geprägt sind. Im Mittelpunkt dieser Entwicklung steht ein Text, den Rosa Luxemburg 1918 während ihrer Haft in Breslau verfasste. Der kritische Beitrag zum Vorgehen der Bolschewiki, in welchem sich der berühmte Satz „Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden“ findet, blieb zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht. Erst 1921 veröffentlichte Paul Levi ihn als Broschüre: „Russland und die Revolution“. Levi, Mitbegründer der KPD und nach der Ermordung Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und Leo Jogiches bis 1921 ihr Vorsitzender, hatte sich aufgrund seiner Kritik an der demutsvollen Unterwerfung der KPD unter das Diktat der moskaugesteuerten Kommunistischen Internationale von der Partei entfernt und deshalb ihren Vorsitz aufgegeben. Luxemburgs Warnungen vor einer Diktatur der Bolschewiki sah er als Bestätigung seiner Erfahrungen und Bedenken. Gegen solche Interpretationen der Luxemburg-Schrift wehrte sich die KPD. Die unter anderem von Clara Zetkin vorgetragene Gegenrede dokumentiert der Band als eine Art Prolog, ehe er sich den Argumenten der deutschen Linken zu den Ereignissen in Russland aus den Jahren 1917/1918 zuwendet.

Unter den zusammengeführten Beiträgen stammen viele von berühmten Protagonisten der sozialistischen Bewegung. Unter ihnen sind Leo Trotzki, Karl Radek, Alexander Stein, Eduard Bernstein, Franz Mehring, Karl Kautsky, Paul Levi, Wladimir Iljitsch Lenin, Rudolf Breitscheid, Clara Zetkin, Rosa Luxemburg. Die Beiträge belegen ein Dilemma der deutschen (und internationalen) Linken in den Monaten der Revolution 1917/1918, das bis heute nachwirkt: die Spaltung der Arbeiterbewegung. Sie hatte 1914 mit der Auflösung der II. Internationalen, die den Krieg nicht hatte verhindern können, einen schweren Schlag erlitten. In Deutschland, aus vielen Gründen für viele Zeitgenossen das Kernland der Arbeiterbewegung, hatte die traditionsreiche SPD durch die Bewilligung der Kriegskredite Vertrauen verspielt. Die Enttäuschten spalteten sich in der USPD ab. Aus der „Gruppe Internationale“, die zunächst noch in der SPD verblieb, wurde die „Spartakusgruppe“, die sich 1916 als linke Gruppierung der USPD anschloss und aus der schließlich zur Jahreswende 1918/1919 die KPD entstand.

In dieser Situation gelingt in Russland, was seit Marx erträumt worden war: die proletarische Revolution. Aber die Freude über diesen erstmals gelungenen Coup war nicht einhellig. Bald schon werden kritische Bedenken geäußert. Alexander Stein warnt im Dezember 1917 in einem Beitrag davor, dass die Bolschewiki sich anschickten, aus der „Diktatur des Proletariats und der ärmeren Bauernschaft“ eine „Diktatur einer Gruppe der Bolschewiki-Partei“ unter Lenins und Trotzkis Führung zu machen. Auch andere Autoren insbesondere der Unabhängigen Sozialdemokraten äußern ihre Sorgen vor den Machtansprüchen der „Maximalisten“ in Russland. Doch was den einen die besorgte Frage nach „Diktatur oder Demokratie?“ ist, beurteilen die anderen als kleinkariertes Philistertum, das nicht in der Lage ist, die Einzigartigkeit der historischen Situation zu erkennen, in der auch eine taktisch bedingte Diktatur zugunsten des Sozialismus zu  rechtfertigen ist. Wieder spielt die SPD eine zweifelhafte Rolle. Verteidigte sie eben noch die Bolschewiki gegen derartige aus ihrer Sicht unangemessene Vorwürfe, so rückt sie, als es zu Friedensverhandlungen zwischen Deutschland und Russland kommt, davon ab. Zugunsten vaterländischer Fürsorge ist das neue Russland nun wieder der Feind und Otto Braun formuliert: „Deshalb müssen wir zwischen den Bolschewiki und uns einen dicken Trennungsstrich ziehen“. Der „dicke Trennungsstrich“ wirkt bis heute nach.

Ansonsten mutet für die heutigen LeserInnen das in all seinen parteilichen Verästelungen nur schwer nachvollziehbare Argumentieren der deutschen Sozialisten über den richtigen Weg im fernen Russland, das im Übrigen immer wieder nur auf Vermutungen angewiesen ist, da verlässliche Informationen zumeist nicht vorliegen, oft weltfremd und oberlehrerhaft an. Wohltuend liest sich dann ein kluger Beitrag Rosa Luxemburgs, die aus der Perspektive des noch nicht aufgegebenem  Internationalismus den Frieden der Bolschewiki mit dem deutschen Imperialismus als „furchtbaren moralischen Schlag für den internationalen Sozialismus“ kennzeichnet: „Sozialistische Revolution auf deutschen Bajonetten sitzend, proletarische Diktatur unter der Schirmvogtei des deutschen Imperialismus – das“, so schreibt sie im September 1918 in den Spartacus-Briefen, „wäre das ungeheuerlichste, was wir noch erleben könnten.“ Lenins Taktik setzte sich über solche Bedenken hinweg. Seine als III. Internationale 1919 in Moskau gegründete Kommunistische Internationale, der Rosa Luxemburg vor ihrer Ermordung noch mit großer Skepsis begegnet war, wurde schließlich zum Instrument der einen, der einzig richtigen, der russischen Revolution degradiert.

Der Band versammelt zahlreiche Beiträge und Artikel aus den Revolutionsmonaten 1917 und 1918. Leider verzichtet der Herausgeber auf einen einleitenden Beitrag, der den heutigen Leserinnen und Lesern, so sie nicht Fachleute für die Geschichte des Sozialismus sind, historische Zusammenhänge, Namen, Parteien und Parteirichtungen erläutert. So bleibt diese Dokumentensammlung, in der sich bis heute auswirkende Argumentationsmuster etwa zum Verständnis des Umgangs der SPD mit der Linken finden lassen, vor allem ein Fundus für Kenner und LiebhaberInnen.

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Jörn Schütrumpf (Hg.): Diktatur statt Sozialismus. Die russische Revolution und die deutsche Linke 1917/18.
Karl Dietz Verlag, Berlin 2017.
320 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783320023317

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