Spiegel unserer Seele
Theodor Storms „Lied des Harfenmädchens“
Von Marcel Reich-Ranicki
Theodor Storm
Lied des Harfenmädchens
Heute, nur heute
Bin ich so schön;
Morgen, ach morgen
Muß Alles vergehn!
Nur diese Stunde
Bist du noch mein;
Sterben, ach sterben
Soll ich allein.
Er gehörte zu meinen literarischen Jugenderlebnissen: Ich bewunderte seine Novellistik, und ich habe mich sofort (ich war vierzehn Jahre alt) in einige seiner Gedichte verliebt. Ein großer Dichter – meinte Fontane – war er, Theodor Storm, wohl nicht, doch „ein liebenswürdiger durch und durch, und, wenn der Ausdruck gestattet ist, ein recht poetischer Poet“. Das mag etwas schlampig formuliert sein, aber es trifft ins Schwarze. Er schrieb keine Epen, keine mächtigen Oden, keine gewaltigen Hymnen. Seine Verse sind still und scheu, herb und herzlich. In ihnen gibt es keine ärgerlichen Klänge, keine falschen Töne: Diese Lyrik ist (man sehe mir die oft missbrauchten Worte nach) innig und innerlich, wehmütig, doch nicht wehleidig – wie die zartesten, die schönsten deutschen Volkslieder.
Daseinsbejahung war Storms Sache nicht, das Glück und die Freude, den Erfolg und den Sieg hat er nie besungen. In seiner kleinen Welt scheinen Sonne, Mond und Sterne, gewiss, nur bleibt ihr Licht gedämpft. Denn das Naturphänomen, das es ihm vor allem angetan hat, ist der Nebel, der undurchsichtige und unerbittliche, der reale und der symbolische. Seine nordischen Elegien schämen sich des Provinziellen nicht, ihr Thema ist das bittere Los des Menschen, also die große Vergeblichkeit.
Die Lektüre Storms habe ich mit jener düsteren und doch milden Idylle begonnen, die sich hier und da dem Sentimentalen nähert – mit der Novelle „Immensee“. Sie rührte mich, aber was mich aufschreckte, war nicht diese Liebesgeschichte, vielmehr ein Lied, das in ihr vorkommt, gesungen von einem „Zithermädchen mit zigeunerhaften Zügen“. Storm hat es später, als er es in seinen ersten Lyrikband aufnahm, mit einer das Instrument ein wenig nobilitierenden Überschrift versehen: „Lied des Harfenmädchens“.
Ich zögere nicht, dieses Gedicht zu den schönsten poetischen Gebilden in deutscher Sprache zu zählen. Seine Wirkung hängt zunächst mit dem zusammen, was es ausspart, was in ihm nicht enthalten ist. Es besteht aus nur sechsundzwanzig Worten. Sie bieten uns vier lapidare Feststellungen und – um es gleich zu sagen – keinen neuen oder selbständigen Gedanken. Woher die sanfte Kraft dieses Gedichts? Natürlich: vom Stil. In diesen Versen ist alles vermieden, was auch nur im Entferntesten an etwas Feinsinniges erinnern würde, in ihnen gibt es kein einziges Bild und keinen einzigen Ausdruck, die der Leser als poetisch empfinden könnte. Und Storm verzichtet auch auf die von den meisten Lyrikern so geliebten Eigenschaftsworte (mit einer einzigen Ausnahme: „schön“), er verwendet ausschließlich die gebräuchlichsten Vokabeln der Alltagssprache.
So haben wir es mit maximaler Selbstbeschränkung zu tun. Es gehen aber in der Dichtung derartige Verknappungen oft auf Kosten der Natürlichkeit der Sprache und der Melodik der Verse. Davon kann bei Storm nicht die Rede sein, diese poetische Miniatur kennt keine Künstlichkeit. Im Gegenteil: Noch leichter und lockerer lässt sich das Deutsche nicht handhaben, und der Wohlklang ist in diesen acht Zeilen so unauffällig wie vollkommen.
Was uns der Autor zu sagen hat? Nun, das Leben des Menschen sei vergänglich, und wir fürchteten den Tod, den einsamen zumal. Das ist alles – und wir wussten es längst. Wozu also Gedichte, die uns weiter nichts mitzuteilen haben? Wir brauchen sie, damit sie uns unsere Empfindungen und Leiden, unsere Hoffnungen und Ängste bewusst und erkennbar machen. Wir brauchen Gedichte, in denen wir uns wiederfinden können, die sich, um ein großes Wort zu riskieren, als Spiegel unserer Seele verwenden lassen.
„Heute“, „morgen“ und „sterben“ – drei Worte bilden die Achse des Liedes, und sie reichen aus, um zu vergegenwärtigen, was Storm vergegenwärtigen will. Ihre zentrale Rolle deutet er mit dem einfachsten und zugleich wirkungsvollsten Mittel an: Er wiederholt jedes der Schlüsselworte, jeweils nur eine Silbe zwischen sie stellend. Überdies folgen die drei Verse dem gleichen Muster: „Heute, nur heute … Morgen, ach morgen … Sterben, ach sterben“. Ob sich vielleicht in der Wiederholung des Schemas das Geheimnis des Zaubers verbirgt, der von diesem Lied ausgeht? Jedenfalls kenne ich kein schlichteres Gedicht in deutscher Sprache. Dennoch ist es in höchstem Maße originell. Dennoch? Nein, Storms „Lied des Harfenmädchens“ verdankt seine Originalität der einzigartigen Schlichtheit.
Anmerkungen: Der Beitrag des am 18. September 2013 gestorbenen Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki ist zuerst im Rahmen der Reihe „Frankfurter Anthologie“ erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. September 2000, Bilder und Zeiten, S. 4. Wiederabdruck u.a. in: Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Bd. 24. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Insel Verlag, Frankfurt/M. 2001, S. 53–56, und in Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Thomas Anz. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014, S. 169-171. Wiederveröffentlichung zum 200. Geburtstag von Theodor Storm hier mit freundlicher Genehmigung von Andrew Ranicki.
Das Gedicht von Storm ist in der hier publizierten Fassung zuerst erschienen in Theodor Storm: Gedichte. Schwers’sche Buchhandlung, Kiel 1852, S. 8. (TA)