Das muss erzählt werden!

Peter Handkes Notizen der Jahre 2007 bis 2015 erneuern den Traum von einer anderen Zeit

Von Thorsten CarstensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Carstensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Peter Handke neben dem hohen Ton durchaus einen feinen Humor pflegt und Selbstironie gekonnt einzusetzen weiß, wurde schon in den letzten Versuchen über den Stillen Ort (2012) und den Pilznarren (2013) deutlich. In seinen Notizen der Jahre 2007 bis 2015 entwirft Handke von sich nun das Bild des letzten verbliebenen Landstreichers, der durch Haus, Garten, Wiesen und Wälder streift, Ansprachen an die dröhnende Hornisse („Hallo, Horni!“) hält, den morgendlichen Weberknecht als stets gern gesehenen Gast begrüßt, Platten von Johnny Cash auflegt und – denn wer täte dies nicht? – im Vorortrestaurant den Gästen am Nebentisch lauscht. Beim Blick in den eigenen Garten hält er die verlässlichen „Zeitschwellen“ fest: den ersten Zitronenfalter des Jahres, die Hummeln, die gegen die Fenster stupsen, die ersten reifen Frühäpfel im Juli, schließlich das Rissigwerden der Nussschalen. All diese Zeichen und Anflüge von der Peripherie, so der Untertitel des Vor der Baumschattenwand nachts benannten Bandes, reihen sich in jenen persönlichen Alltagsmythos ein, den Handke der politischen Historie mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit entgegensetzt: „Meine Monumente: die Wirbel der Kastanienblüten im Rinnstein; die Sandwirbel in den Straßenbahnschienen.“

Seit Erscheinen des ersten Bandes vor vier Jahrzehnten (Das Gewicht der Welt, 1977) dokumentieren die Journale, in denen Handke Auszüge aus seinen Notizbüchern veröffentlicht, eine auf das Schreiben hin ausgerichtete Lebensführung. Den täglichen Aufzeichnungen liegt das Bedürfnis zugrunde, die Welt anhand der Fantasie und jenseits abstrakter Begrifflichkeiten in epischen Wahrheiten mitteilen zu können. Der Traum eines solchen Erzählens bleibt auch in den jüngsten Notizen des bei Paris lebenden Autors aktuell. So sammelt das Journal programmatische Dialogfetzen, Konstellationen und Wahrnehmungen für ein „Letztes Epos“, welches über die Dörfer in die nordfranzösische Landschaft der Picardie führen und – ähnlich wie bereits Die morawische Nacht (2008) – als reflektierendes Alterswerk Biografie und Schreiben zueinander in Verbindung setzen wird. (Tatsächlich erscheint dieses Buch im Spätherbst dieses Jahres bei Suhrkamp unter dem Titel Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere.)

Werkgenetische Rückschlüsse erlaubt das Journal außerdem hinsichtlich des Sommerdialogs Die schönen Tage von Aranjuez (2012), wobei etliche Einträge um Fragen der Liebe und das „Fest der Körper“ kreisen. Vor allem aber fällt in die Zeit der Notizen die Arbeit an dem Apfelgarten-Epos Immer noch Sturm (2010), zu dem das Journal zahlreiche kleine Vorstudien liefert. Diese verdeutlichen, wie sehr es Handke danach drängt, die Geschichte der Vorfahren zu erzählen, der „Kuhweiden-, Obstgarten- und Maisackeruntertanen“, die im Traum zu ihm sprechen und deren Zeuge er sein will, ohne dabei eine verdeckte politische Aussage zu formulieren: „Die Moral der Geschichte ist die Geschichte.“ Das Journal führt zurück in die Kindheit, zum Bild der sterbenden Großmutter, zum abendlichen Milchholen beim Nachbarbauern und zum „Entsetzen“ der ersten Stunde im Internat. Und bereits eingangs tauchen auch die beiden Lebensbilder wieder auf, die Handke seit nunmehr fünf Jahrzehnten beständig variiert. „Lang ist’s her, daß ich den Sonntagsmann im schwarzen Anzug und weißen Hemd mit flatternden Hosenbeinen habe gehen sehen am Rand der Landstraße in Oberösterreich. Lang ist’s her, daß ich an der Hand des Großvaters gegangen bin, im Vormorgenlicht angesichts der münzgroßen Regentropfen im Staub des Feldwegs bei Stara Vas.“ Es sind diese Landstraßen- und Feldwegbilder, die als Urszenen und Selbstzitate den größeren Zusammenhang von Handkes Werk fortwährend erneuern.

Damit entsteht der Eindruck eines von seiner erinnerten Herkunft bestimmten Schreiber-Lebens, in dem sich Auf- und Ausbrüche als Wiederholungen der Kindheitslandschaft vollziehen. Und schon die erste Notiz erinnert daran, dass Traum und Trauma eng beisammen liegen: „Der Vaterlose fühlt sich immer im Blickpunkt, im Guten wie im Bösen.“ Nicht zuletzt diese Vaterlosigkeit erklärt wohl auch Handkes Bestreben, sich in ästhetische Traditionen einzuschreiben. Mit seiner epischen Erzählweise, die im Journal in einer Art Selbstgespräch immer wieder auf die Probe gestellt wird, will er den Anschluss an eine epische Ahnenschaft herstellen, zu der er neben dem omnipräsenten Johann Wolfgang Goethe – dessen Rolle für sein Schreiben kaum überschätzt werden kann – Regisseure wie John Ford ebenso rechnet wie den Maler Paul Cézanne oder die Steinmetze des romanischen Mittelalters. Zahlreiche Zitate aus Werken von Baruch de Spinoza, Jakob Böhme, Friedrich Hölderlin, Stendhal, Gershom Scholem, Ilse Aichinger und Patrick Modiano belegen auch in Vor der Baumschattenwand nachts Handkes eklektische Lektüren. Darüber hinaus werden nicht nur die islamischen Mystiker Ibn ʿArabī und Al-Ghazali, der Koran, der arabische Dichter Ibn al-Fārid und der japanische Schriftsteller Kamo no Chōmei für die eigene Poetologie fruchtbar gemacht; sogar die amerikanische Literatur der Nachkriegszeit spielt für Handke, dessen Frühwerk von den Romanen William Faulkners inspiriert war, nun wieder eine Rolle. Während er Raymond Carver zu jenen Autoren rechnet, die das „Geheimnis des Schreibens“ aufs Technische reduzieren und einem „affigen Stilwillen“ nachhängen, wachsen ihm die Texte John Cheevers aus gutem Grund ans Herz: Die Formel „Erzählen als Offenbarung“, die Handke im Zusammenhang mit Cheever verwendet, verweist auf die Ansprüche des eigenen Schreibens.

Auch aufgrund dieser Lesespuren gewährt Handkes Journal Einblicke in eine Poetologie, die vor allen Dingen auf dem Gebot einer empathischen, aber interesselosen Anschauung beruht – einer Wahrnehmung, welche „die monumentale Welt im Kleinen, im Stillen“ aufscheinen lässt. In Handkes Schule des Sehens verbinden sich durch den sogenannten müden Blick die vernachlässigten Alltagsdinge im Umkreis mit den Bildern der Erinnerung: Auf diese Weise können Zusammenhänge freifantasiert werden. Zugleich beharren die Notizen darauf, dass das richtige Lesen der „wahrhaften Literatur“ die Anschauung verstärkt, eine tiefere, entschleunigte Teilhabe an der alltäglichen Gegenwart beschert und den Weg zurück zu den Dingen jenseits der „vergärtnerten“ Natur weist. So schärfen Henry David Thoreaus Reiseberichte aus Maine das Bewusstsein für die Landschaft, für die „Weltgeräusche“ – es ist eine Lektüre, nach der sich das Journal-Ich aufs Neue mit der „Erde unter dem Himmel“, dem „Dasein“ verknüpft sieht.

„Das Staunen wird uns retten“: Indem das Journal einerseits Achtsamkeit für Farben, Geräusche und Gerüche einfordert – wie etwa für „das unvergleichliche Blau des Vergißmeinnicht, heute, jetzt, hier, da, dort“ – und andererseits eine authentische Sprache für diese Momente einer „Anderen Zeit“ einübt, will es der Welt einen literarischen Friedensdienst erweisen. Wenn bei Handke das Salz „aus einer Vorzeitmuschel auf die Tageszeitung“ rieselt, dann erkennt der Leser: Nicht die offensichtlichen Ereignisse, sondern das Geschehen der langen Dauer gilt es erzählend festzuhalten. Denn auch dieser Band trägt mit charakteristischer Lust zur Selbstermahnung eine Maxime vor, die Handkes Werk seit seiner Schreibkrise Ende der siebziger Jahre prägt: „Das ist ja eine Geschichte! Das muß erzählt werden!“

Titelbild

Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Aus den Tagebüchern 2007 bis 2015.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2016.
422 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783990270837

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