Geplante Planlosigkeit als Konzept der Wirklichkeitsbewältigung

Über Nikolaus Egels Versuch, Montaigne zu deuten

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Montaigne war nicht zuerst ein Stoiker, der aufgrund einer skeptischen Krise am Ende seines Lebens zum Epikuräer geworden ist. Er war kein Anhänger irgendeiner philosophischen Schule, sondern Eklektiker […], den alle philosophischen Strömungen der Antike zum selben Ziel führen sollten […]: Antworten auf die drängenden Fragen der eigenen Endlichkeit und der Zufälligkeit des Gewordenen zu finden.

In diesen unscheinbaren Sätzen liegt der Kern des Essays verborgen, den der Wissenschaftshistoriker Nikolaus Egel vorgelegt hat. Egel geht es auch darum, mit hergebrachten Urteilen über den französischen Denker Michel de Montaigne zu brechen. Die historiografischen Ansätze, die einen evolutionären Prozess im Denken des französischen Essayisten abzubilden beabsichtigen, übersehen, so Egel, die Natur des Essays, dessen grundsätzliche „Offenheit“ und seinen „Möglichkeitssinn“. Angesichts der Fülle älterer und jüngerer Darstellungen stellt Egel eingangs die Frage nach dem Sinn einer erneuten Beschäftigung mit Montaigne. Die Lektüre gebe Antworten auf unsere heutige geistige Situation, auf die Frage, wie der Einzelne Souveränität gewinnen kann, gegenüber Umständen, die seine ganze Aufmerksamkeit zu erfordern scheinen, die ihm Lebenszeit rauben. Die Vielfalt der Welt, die Fülle verschiedener Ideen, religiöser Vorstellungen, politischer, literarischer und wissenschaftlicher Gedanken, die Vielzahl der Meinungen zu akzeptieren und als gleichwertig nebeneinander gelten zu lassen. Kurzum: Die Lektüre Montaignes eröffne Perspektiven zur „Wirklichkeitsbewältigung“. Fünf Strategien seien hierbei deutlich erkennbar: 1. das Lachen, 2. das „geistige Exilieren“, 3. die „Erfindung von jeweils eigenen Wirklichkeiten“, 4. und 5. die „Akzeptanz der Mannigfaltigkeit der Welt und der eigenen Endlichkeit“.

Zur Darlegung dieser fünf Strategien erscheint es dem Verfasser angemessen, die eigene essayistische Darstellung in zwei große Abschnitte zu unterteilen: „Facetten der Welt“ und „Facetten Montaignes“. Im ersten umfassenden Teil legt Egel die Eröffnung neuer Räume durch geografische Entdeckungen, den Fall alter Weltbilder, die Erweiterung und Entgrenzung religiöser Vorstellungen dar. Montaigne ist in eine Zeit elementarer Umbrüche hineingeboren. Alte Denkgewohnheiten fallen, neue Weltreiche und Konfessionen entstehen. Egel zeichnet „Bilder einer fließenden Welt“. Montaigne ist in sie hineingestellt. Sehr wohl besitzt er einen Standpunkt, ist Kind der Verhältnisse, in die er hineingeboren wurde. Als Jurist und Politiker der katholischen Seite verpflichtet, handelt er als Repräsentant dieser Konfession. Im Alter von 38 Jahren gibt er sein Richteramt auf, um sich in einem Schlossturm ganz seiner Gedankenwelt zu widmen. Das selbstgewählte geistige Exil eröffnet ihm die Möglichkeit beständigen Perspektivwechsels und formt ihn zu einem Menschen, der die Vielfalt der Welt akzeptiert und in ihr eine göttliche Ordnung erblickt. Montaigne beginnt, jede Form des Denkens als gleichwertig zu betrachten und eine gewisse distanzierte Gleichgültigkeit den Erscheinungen gegenüber zu entwickeln.

Andererseits erscheint Montaigne in Egels Essay als konservativer Denker. Gesetze, die gewachsen sind, sollten möglichst nicht verändert werden. Auch hier bietet Egel durchaus neue Perspektiven. So wird Montaignes Ethik als „skeptischer Indifferentismus“ charakterisiert. Egel konstatiert, dass die scheinbare Toleranz des Philosophen gegenüber anderen Wert- und Glaubensvorstellungen nicht auf tatsächlicher Akzeptanz derselben beruht, sondern auf einer Indifferenz der eigenen Haltung gegenüber jenen Phänomenen. Skepsis und Gleichgültigkeit prägen sein Verhältnis gegenüber religiösen Fragen. Den Katholizismus verteidigt er lediglich aus politischen Motiven. Er ist ihm Garant eines starken Königtums und damit einer durchsetzungsfähigen Staatsgewalt. Diese wiederum ist einzig in der Lage, sichere Existenzen zu schaffen und den Boden eines ruhigen geistigen Lebens zu bereiten. Indifferenz ist eine zentrale Kategorie in Egels Essay, mit der er versucht, sich dem französischen Denker anzunähern. Dies tritt besonders zum Ende der Abhandlung zutage. Egel verdeutlicht im Rahmen des Abschnittes „Facetten Montaignes“ dessen Denken bezüglich der Wahrnehmung des eigenen Individuums. Er weist nach, dass der Franzose die Existenz eines Selbst zunächst grundlegend negiert. In den folgenden, tröstlich wirkenden Worten  Montaignes  kommt dies besonders zum Ausdruck: „Noch nie haben zwei Menschen die gleiche Sache gleich beurteilt, und es ist unmöglich, zwei völlig übereinstimmende Meinungen zu finden, nicht nur bei verschiedenen Menschen, sondern ebenso bei ein- und demselben zu verschiedenen Stunden“.

Das Selbst existiert nicht; bestenfalls bestehen „Selbstheiten“. Kein Mensch bleibt er selbst. Seine Meinungen und Stimmungen wechseln von Jahr zu Jahr, Tag zu Tag, Stunde zu Stunde. Ständig neuen Anforderungen, neuen Nachrichten, neuen Gegebenheiten ausgesetzt, verändert er sich fortwährend, bleibt nie derselbe. Doch eben jener Autor des 16. Jahrhunderts, der dies wieder und wieder betont, formuliert andere Passagen, in denen er das Konzept einer forme maistresse favorisiert. Montaigne ist bemüht, mit diesem Begriff der Suche nach dem Selbst ein Ziel zu geben. Das Selbst ist Ausgangs- und Endpunkt seiner essayistischen Reflexionen. In jedem Menschen existiert so etwas wie ein unveränderlicher Kern. „Da ist keiner, der, falls er sich ausforscht, nicht in sich eine ihm eigene Form entdeckte, eine Grundform, die sich gegen die Erziehung und gegen den Sturm all der Anfechtungen zu behaupten sucht“, so Montaigne.

Derselbe radikale Individualist, der also betont, es gäbe kein unveränderliches Selbst, präsentiert genau das Gegenteil dieser Auffassung. Erst die Lektüre dieser Passagen des Buches lässt klar erkennen, warum Egel auch in Bezug auf Montaignes Ethik eingangs von indifferentem Denken spricht. Die These der „Ethik des indifferenten Skeptizismus“ wird hier greifbar und sehr plausibel. Ein Mensch, dem die Wandelbarkeit des eigenen Ich permanent vor Augen steht, kann keine Konfession, keinen Denkansatz zur „Wahrheit“, zum System erheben. Er ist immun gegen „Systeme“, immun gegen Denkschablonen.

Der Kern der Natur des Menschen ist nicht erkennbar, seine zweite, fassbare Struktur jedoch besteht aus Gewohnheiten. Die forme maistresse, so Egel, sei ein „Bündel aus Gewohnheiten“, dem individuellen Ess-, Schlaf-, Trinkverhalten, der Sexualität sowie Krankheiten., Montaigne war es selbst darum beschaffen, ein ruhiges, ganz dem Geiste ergebenes Leben zu führen. Er erfasste die Vielfalt des Lebens in dem Bewusstsein, ihr nicht gewachsen zu sein. Deshalb und nur deshalb wählt er den Essay als Ausdrucksform seines Nachdenkens. Es ist Einsicht in die Unfähigkeit, das Leben strukturell klar zu erfassen. Denn der Essay entzieht sich einer klaren Kategorisierung. Keinesfalls handele es sich um eine literarische Gattung, so Egel. Für Georg Lukács sei der Essay ein Versuch „das ganze Leben zu erfassen“ und von grundsätzlicher Offenheit geprägt. Essays waren für Montaigne Suche und Prüfung eigener Gedanken. Sie bildeten für ihn, der Autoren wie Seneca und Plutarch bevorzugte, die Möglichkeit differenzierte Auffassungen beständiger Prüfung zu unterziehen. Auch bleibt mit Lukács festzuhalten, dass der Essay wissenschaftlicher Betrachtung geradezu konträr entgegensteht. Theodor W. Adorno hingegen lehnte die Auffassung des ungarischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers ab, im Falle der Essays handle es sich um ein reines Kunstwerk. „Der Essay läßt sich sein Ressort nicht vorschreiben […] Glück und Spiel sind ihm wesentlich“, so Adorno.

Hier stellt sich die Frage, ob Adorno nicht das Wort „Kunstform“ missversteht und an diesem Punkt der Darstellung nicht eine kritische Auseinandersetzung mit dieser verengenden Perspektive lohnend gewesen wäre, obgleich die Betrachtungen zum Essay insgesamt etwas zu ausschweifend erscheinen. Zum einen bietet Egel eine gute Zusammenfassung wesentlicher Elemente des Essays, die ausgereicht hätte, Montaignes Schreiben auszuloten und zum anderen bleibt unklar, warum Egel nur Adorno und Lukács zu Kronzeugen des Essays wählt. Ein wenig Kritik sei eben in Anbetracht der insgesamt sehr lohnenden Lektüre doch gestattet. Wenn Egel zusammenfassend erklärt, Essays seien Versuche, Fragen aufzuwerfen, zu vertiefen, zuzuspitzen und dennoch das Ergebnis des Denkens offen zu lassen, so genügt dies vollauf, zu verstehen, warum der große französische Denker dieses Mittel wählt, seine Gegenwart und sein Denken zu reflektieren.

„Der Essay ist grundsätzlich systemfeindlich und geplant planlos“. Diese Aussage Egels lässt sich auf seinen eigenen Versuch über Montaigne nur bedingt übertragen. Er besitzt System im Sinne einer klaren Struktur, ist jedoch durchaus ein gelungener Versuch, einen Weg zu einer selbstbestimmten Geisteshaltung aufzuzeigen. Er ist so mithin systemfeindlich in aktuellem Sinne. Denn es ist weniger Montaigne, der aus seinen Essays zu uns spricht, als vielmehr Egel, der den Franzosen zum Anlass eigenen Denkens nimmt. Dies ist kein Nachteil, sondern ehrt das Werk, dessen Autor mit ihm eingesteht: Der Mittelpunkt meines Denkens bin ich selbst.

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Nikolaus Egel: Montaigne – Bilder einer fließenden Welt. Zur Lebenswelt und den Essais Michel de Montaignes.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2017.
187 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783826061776

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