Von der Macht verdorben

In John Boynes Roman „Der Junge auf dem Berg“ erlebt ein französischer Waisenjunge die Verführungskraft des Bösen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich heißt er Pierrot, hat einen deutschen Vater, eine französische Mutter und lebt Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts in Paris. Doch als ihm zwei Schicksalsschläge kurz hintereinander beide Eltern nehmen, landet er – nach einem kurzen, aber prägenden Intermezzo in einem Waisenhaus – schließlich bei der Schwester seines Vaters in Deutschland. Dass Tante Beatrix als Hauswirtschafterin an einem ganz besonderen Ort ihr Auskommen gefunden hat, begreift das Kind erst nach und nach. Denn der Herr und die Herrin des so weitläufigen wie abgeschiedenen Anwesens in den Bayerischen Alpen nahe dem Marktflecken Berchtesgaden finden nur selten die Zeit, einen Abstecher aus Berlin in ihr bayerisches Domizil zu machen. Als Pierrot Weber jenem Mann freilich zum ersten Mal Auge in Auge gegenübersteht, hat er sich bereits an seinen neuen Namen Peter gewöhnt. Und Adolf Hitler gefällt der naive, leicht formbare und zu begeisternde Junge, den seine Haushälterin zu sich auf den Berghof geholt hat, augenblicklich.

Mit Der Junge im gestreiften Pyjama – unter der Regie von Mark Herman 2007 auch verfilmt – gelang dem 1971 in Dublin geborenen John Boyne 2006 ein Welterfolg. Die Geschichte des arglosen deutschen Jungen Bruno, dessen Vater als Lagerkommandant nach Auschwitz („Aus-Wisch“ versteht das Kind im Roman) geschickt wird, um bei der Judenvernichtung eine führende Rolle zu spielen, wurde inzwischen in mehr als 50 Sprachen übersetzt. Sie verfehlt, obwohl eigentlich für Kinder und Jugendliche geschrieben, ihre Wirkung auch auf Erwachsene nicht. Denn das Thema „Holocaust“ wird hier aus der Sicht eines naiven, achtjährigen Kindes beschrieben, das zu jung ist, um zu begreifen, was es in einem Vernichtungslager täglich sieht, und das, weil es einem jüdischen Jungen helfen möchte, dessen Vater wiederzufinden, schließlich selbst, zur Tarnung einen Häftlingsanzug tragend, in den Gaskammern endet.

In einer kurzen Episode seines neuen Buchs lässt Boyne Pierrots Weg den von Bruno kreuzen. Er ist unterwegs nach Salzburg, wo seine Tante ihn erwartet, als ihm Brunos Familie auf dem Mannheimer Bahnhof begegnet und er zum ersten Mal mit der Brutalität und Verachtung eines jener „Herrenmenschen“ konfrontiert wird, die seit drei Jahren Deutschland beherrschen. An seinem Ziel angekommen, wird er freilich einen ganz anderen Weg einschlagen als der Held des elf Jahre älteren Romans.

Denn die Herablassung des SS-Offiziers, den er absichtslos angerempelt hatte und der dem vor ihm liegenden Kind daraufhin mit sadistischer Freude auf die Hand trat, sowie die folgende Begegnung mit einer Gruppe sich großspurig gebender Hitlerjungen lassen Pierrot nicht nur irritiert, sondern auf gefährliche Weise auch fasziniert zurück. Sich alles herausnehmen können, was man sich herausnehmen möchte, ohne Rücksicht auf andere – solche Macht zu haben, kommt ihm zunehmend großartig vor. Und jede Begegnung, die er in den folgenden Monaten und Jahren mit Adolf Hitler hat, bestärkt ihn in dieser Meinung, macht ihn sicherer, zu einer „Herrenrasse“ zu gehören, deren historische Pflicht und Aufgabe es ist, sich die Welt zu unterwerfen.

Der Junge auf dem Berg zeigt beispielhaft, wie Verführung funktioniert. Vom ersten Hitlergruß des Achtjährigen über das Tragen einer ihm vom Herrn des Berghofs geschenkten Jungvolkuniform, vom begeistert geleisteten Schwur, mit seinem Leben für die nationalsozialistische Bewegung einzustehen, bis zum späteren Verrat an Berchtesgadener Schulfreunden und deren Eltern, einer ersten Jugendliebe und schließlich an der eigenen Tante, die schon bald nach seiner Ankunft bereut, ihn zu sich in die Umgebung Adolf Hitlers geholt zu haben, verläuft die Entwicklung Peter Webers mit erschreckender Konsequenz. Je mehr er sich auf Adolf Hitler einlässt, desto mehr entfremdet er sich, ohne es selbst zu merken, von anderen Menschen, die bisher für ihn wichtig waren. Seinem einzigen Freund aus Pariser Tagen, einem von Geburt an tauben Juden, mit dem er gemeinsam aufwuchs und dem er beim Abschied ewige Freundschaft versprochen hatte, wird er genauso untreu wie den Angestellten des Berghofs, denen er umso herrischer begegnet, je mehr die Gedanken Hitlers von ihm Besitz ergreifen.

John Boyne hat seinen Roman in drei Teile – im Mittelpunkt des ersten stehen die Jahre in Frankreich, der zweite umfasst die Zeit von 1937 bis 1940, Teil drei schließlich endet mit dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands – und einen in der Nachkriegszeit spielenden Epilog unterteilt. Geplagt von seinem Gewissen und sich seiner Schuld bewusst, findet sein Held nach Kriegsschluss lange Zeit keinen Platz in einer Welt, der die Vergangenheit ihre schrecklichen Spuren auf ewig eingebrannt zu haben scheint. Immer wieder erinnern den ruhelos von Ort zu Ort Irrenden Begegnungen mit anderen Menschen daran, was er getan hat und dass es dafür keine Vergebung gibt.

Am Ende schließlich führt ihn sein Weg zurück an den Pariser Ausgangspunkt seiner Lebensreise. Dort findet er auch seinen Freund aus Kindheitstagen, Anshel Bronstein, wieder. Der hat den Holocaust als Einziger aus seiner Familie überlebt und ist inzwischen – was er sich schon als kleiner Junge vorgenommen hatte – Schriftsteller geworden. Ihm erzählt Peter Weber „die Geschichte eines Jungen, der Verbrechen begangen hatte, mit denen er für immer würde leben müssen; ein Junge, der Menschen, die ihn liebten, geschadet hatte, und sich am Töten derjenigen beteiligt hatte, die immer nur freundlich zu ihm gewesen waren“. Er tut das ganz bewusst und ohne etwas zu verschweigen, auf dass diese Geschichte zum Grundstein eines Buches wird, das helfen soll, alle zukünftig Lebenden davon abzuhalten, sich verführerisch gebenden, in ihrem Kern aber menschenverachtenden Ideologien auf den Leim zu gehen. Wenn drei Seiten vor dem Ende die Erzählperspektive plötzlich wechselt und der Schriftsteller Anshel Bronstein das Wort ergreift, merkt der Leser schnell, dass er das Buch, welches aus der ehrlichen Erzählung eines Menschen hervorgegangen ist, der sich der Verführung durch den Nationalsozialismus nicht zu entziehen vermochte, soeben gelesen hat.

Genauso wie der ein Jahrzehnt vorher entstandene Roman Der Junge im gestreiften Pyjama wendet sich  Der Junge auf dem Berg an ein überwiegend junges Publikum. Seine Kernbotschaft, nicht zu vergessen und sich gegen diejenigen zu stellen, die behaupten, sie hätten von den geschehenen Verbrechen nichts gewusst, ist heute aktueller denn je. Damit die Frage, die er gegen Schluss stellt – „Ist es für unschuldige Kinder wirklich so einfach, verdorben zu werden?“ ‑, keine Frage ist, die sich nur allzuleicht mit „Ja“ beantworten lässt, bedarf es der Aufklärung darüber, was geschehen kann, wenn man einer Anschauung folgt, die aus Unterschieden zwischen den Menschen auf die Überlegenheit der einen über die anderen schließt und ihnen das Recht gibt, ihren aus dieser Unterschiedlichkeit scheinbar resultierenden Machtanspruch mit allen, auch den verbrecherischsten Mitteln durchzusetzen. Dieser Aufklärung fühlt sich John Boyne mit seinem Buch zuallererst verpflichtet.

Titelbild

John Boyne: Der Junge auf dem Berg.
Übersetzt aus dem Englischen von Ilse Layer.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
316 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783737340625

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