Verspielt und grausam wie das Leben
Boris Vians „L’Écume des jours“ neu übersetzt
Von Ines Kremer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSie scheinen ein Phänomen unserer Zeit zu sein: Nicht mehr ganz so junge Männer, die in einer fantastischen Welt voller Freunde, Spaß und Abenteuer leben – ohne die Last der Verantwortung, für ihren Lebensunterhalt oder Familienangehörige aufkommen und sorgen zu müssen, trudeln sie durch eine Welt, in der man nur an etwas glauben muss, damit es wahr wird. Erwachsen werden? Später! Skateboard-Fahrer mit irritierenden Lachfältchen um die Augen, die sich noch als Mittdreißiger von ihrer Mutter die bunten Socken waschen lassen und auf dem Balkon heimlich Cannabis anbauen, bezaubern durch ihren jungenhaften Charme – in der Psychologie ist das Phänomen des Kind-Mannes mittlerweile als Peter-Pan-Syndrom bekannt. Auch Colin, Protagonist von Boris Vians L’Écume des jours (1947, dt. Die Gischt der Tage), führt eine solch sorglose Existenz: Umsorgt und bekocht von Nicolas, seinem Hausangestellten und Vertrauten, bedient sich der junge Mann einer scheinbar unerschöpflichen Menge an Gold-Doublonen, die einen geregelten Arbeitsalltag obsolet werden lassen. Die Mäuse spielen im Hausflur mit den Strahlen von gleich zwei Sonnen, während Colin und sein Freund Chick einen Aperitif vom Pianocktail nehmen, Jazzplatten hören und von der Liebe träumen: „Chick setzte sich ans Klavier. Am Ende des Stücks rasselte ein Teil der Vorderwand herunter, und eine Reihe Gläser tauchte auf. Zwei davon waren randvoll mit einem appetitlichen Mix.“ Nichts scheint die makellose Märchenhaftigkeit zu trüben, selbst die Mitesser ziehen sich bei Colins Blick in den Vergrößerungsspiegel freiwillig zurück: „Um die Nasenflügel sprangen ihm einige Mitesser entgegen. Als sie im Vergrößerungsspiegel sahen, wie hässlich sie waren, verkrochen sie sich schnurstracks wieder unter der Haut, und Colin löschte befriedigt die Lampe.“ Als sie sich in zwei bezaubernde junge Frauen verlieben, scheint das Glück der Freunde perfekt: Chick findet mit Alise eine Seelenverwandte, die seine unmäßige Begeisterung für den Philosophen Jean-Sol Partre teilt. Und auch Colin gelingt es schließlich, die so tugendhafte wie anziehende Chloé zu erobern: „Sie hatte die Platte passend gewählt: Chloé, arrangiert von Duke Ellington. Colin knabberte an Chloés Haaren, nicht weit vom Ohr, und flüsterte: ‚Genau so sind Sie.‘“
Aus heutiger Sicht schuf Boris Vian mit L’Écume des jours ein Kultbuch, das das Lebensgefühl einer ganzen Epoche widerspiegelt: Nach den entbehrungsreichen Jahren des Zweiten Weltkrieges eroberten Jazz und Existentialismus die Cafés und Kneipen von Paris, das rasch wieder zu einem der Zentren des künstlerischen und intellektuellen Lebens in Europa wurde. Im Dunstkreis des Skandalpaares Sartre und Beauvoir stieg Vian, ausgebildeter Ingenieur, Musiker, Sänger und Schauspieler, zum „Prinzen von Saint-Germain-des-Prés“ auf. Um seine Anerkennung als Literat rang Vian jedoch Zeit seines Lebens: Die verspielte Sinnlichkeit seiner Romane passte nicht in die Zeit politisch engagierter Literatur im Sinne Sartres. Endgültig unmöglich machte sich Vian mit seinen Sex-and-Crime-Parodien, die er unter dem Pseudonym Vernon Sullivan veröffentlichte. Die blutrünstigen Krimis im amerikanischen Stil fanden reißenden Absatz, die Literaturkritik schäumte und strafte Vian fortan mit Missachtung.
Eine Ahnung der düsteren Szenarien, die Vian in seinen Krimis entfaltete, durchzieht auch L’Écume des jours, denn selbst in dieser besten aller möglichen Romanwelten öffnet sich bald ein Abgrund: Die Hochzeit mit Chloé markiert für Colin den Eintritt in das Erwachsenenalter und den Beginn einer sorgenvollen Existenz. Chloé wird krank, eine Seerose wächst in ihrer Lunge und nimmt ihr die Atemluft. Die Therapiekosten verschlingen die verbleibenden Gold-Doublonen; erstmals in seinem jungen Leben muss Colin nach Arbeit suchen. Chick und Alise steuern ebenfalls auf eine Katastrophe zu: Als fanatischer Partre-Anhänger gibt Chick all sein Geld für seine Sammelleidenschaft aus, anstatt die Verbindung mit Alise zu legalisieren – selbst das Geld, das Colin ihm für die Hochzeit geliehen hat, investiert er in eine wertvolle Partre-Ausgabe: „‘Schau mal, hier, das habe ich gestern gefunden. Ist es nicht wundervoll?‘ Es handelte sich um Lasst Blumen rülpsen, in gekörntes Saffianleder gebunden, mit Kierkegaard-Faksimile.“ Schließlich verliert Alise die Nerven: In ihrer Verzweiflung zieht sie mordend durch die Buchläden, ein Showdown, neben dem selbst Tarantino verblasst: „Sie näherte sich dem Mann und ließ ihr Taschentuch fallen. Er bückte sich mit knackenden Knochen, um es aufzuheben, und sie rammte ihm mit einer schnellen Bewegung den Herzausreißer in den Rücken […].“ Nach dem Tod der beiden Frauen und Chicks, der von Steuereintreibern liquidiert wird, ist Colin so verzweifelt, dass sein Anblick gar sein liebstes Haustier in den Suizid treibt: Die kleine graue Maus mit den schwarzen Schnurrhaaren legt freiwillig ihren Kopf in das Maul eines Katers.
Erst einige Zeit nach dem frühen Tod Vians, der 1959 im Alter von 39 Jahren starb, wurde L’Écume des jours von einem breiteren Publikum entdeckt. Die Neuverfilmung von 2013, mit Audrey Tautou und Romain Duris in den Hauptrollen, berührte Zuschauerinnen und Zuschauer weit über die Grenzen Frankreichs hinaus. Jetzt ist der Roman in einer Neuübersetzung von Frank Heibert beim Wagenbach Verlag erschienen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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