Geschichtserfahrung als hermeneutische Kategorie

Über Hélène Cixous’ und Cécile Wajsbrots „Une autobiographie allemande“

Von Susanne Zepp-ZwirnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Zepp-Zwirner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2016 ist im Verlag Christian Bourgois das Buch Une autobiographie allemande von Hélène Cixous und Cécile Wajsbrot erschienen. In der Form eines Briefdialogs entfalten die beiden Autorinnen eine beeindruckende literarische Vergegenwärtigung deutscher und französischer Geschichte. Hélène Cixous wurde 1937 in Algerien geboren, in der damals multikulturellen und vielsprachigen Stadt Oran. Sie war das erste Kind von Eve Cixous, 1910 in Osnabrück als Eva Klein geboren, und von Georges Cixous. Der Vater war Arzt und hatte seine Doktorarbeit über Tuberkulose geschrieben – eben jene Krankheit, der er 1948 erliegen sollte. Hélène Cixous hat die ihrer Lebensgeschichte inhärente Konstellation von Deutschland, Algerien und Frankreich immer wieder als Fluchtpunkte ihres Schreibens bezeichnet. Dabei spielen weniger national oder religiös zu fassende Zugehörigkeiten eine Rolle als der Zustand eines Dazwischen, der mehrfachen Herkünfte, einer Vielfalt der eigenen Existenz. Das ist eine bewusst eingenommene Haltung, kein intellektueller Luxus: Cixous hat die Mechanismen von Ausgrenzung am eigenen Leib immer wieder erfahren, sei es in der Schulzeit in Algerien, sei es während des Studiums in Paris, wo sie ab 1955 lebte. Im Vorbereitungsjahr für die Hochschulaufnahmeprüfungen war sie nicht nur die einzige Schülerin jüdischer, sondern auch die einzige nordafrikanischer Herkunft.[1]

Cécile Wajsbrot wurde 1954 in Paris geboren. Die Schriftstellerin erinnert in ihren zahlreichen Büchern und auch mit ihrer Streitschrift Pour la littérature daran, die Ethik erzählter Geschichte ernst zu nehmen. Jüngst wurde Cécile Wajsbrot der Prix de l’Académie de Berlin 2016 verliehen. In der Laudatio hieß es, dass Cécile Wajsbrot in eindringlicher und poetischer Sprache ihren Lesern die Augen für die vielfach überschriebenen Spuren der Vergangenheit in Paris und in Berlin öffne.[2] Cécile Wajsbrot befasst sich in ihrem literarischen Werk mit Fragen des historischen Gedächtnisses, und zwar aus Sorge um Gegenwart und Zukunft. Sie lebt und arbeitet in Paris und in Berlin, und diese doppelte Perspektive hat sich ihrem künstlerischen Werk eingeschrieben. Dazu gehört auch ihr genauer Blick auf die Abgründe der französischen und der deutschen Geschichte und ihr großes Vermögen, in poetischer, atmosphärisch dichter Sprache über die Untiefen der Vergangenheit und verdrängte Verantwortung nachzudenken.

Das gemeinsame Buch Une autobiographie allemande macht nachvollziehbar, wie für beide Schriftstellerinnen Literatur Medium und Modus eines sich zwischen Geschichtserfahrung und Gegenwart entwerfenden Erschließens ist. So schreibt Hélène Cixous an einer Stelle: „Nous sommes re-mis aux mondes, portés, poussés, rappelés par des forces invisibles et très puissantes.“ Und etwas weiter: „Il y eut, entre Cécile et moi, un pacte qui n’a jamais fait loi, suscité par l’amour de la littérature et ses corollaires: l’amour de l’autre, le goût vital de la mémoire et l’espoir.“ („Wir sind wieder in der Welt, getragen, geschoben, beständig erinnert an unsichtbare und sehr mächtige Kräfte. […] Zwischen Cécile und mir gab es einen Pakt, der auf der Liebe zur Literatur beruht und zu dem, was mit ihr verbunden ist: der Liebe zueinander und zu den Mitmenschen, das lebenswichtige Verlangen nach Erinnerung und die Hoffnung.“)

Der Band, dessen Anstoß ein zwischen Mai und November 2012 entstandenes Gespräch für die Zeitschrift Sinn und Form[3] war, besteht aus Briefen der beiden Autorinnen. Dabei handelt es sich um einen Dialog mit einer ganz eigenen zeitlichen Signatur, der markiert ist von Vertrauen und Nähe. Denn die Befassung mit Deutschland bedeutet für beide Autorinnen immer auch eine Beschäftigung mit der Geschichte ihrer Familien. Es ist alles andere als Zufall, dass sich dies in der Sprache austrägt: Für Hélène Cixous ist das Deutsche Muttersprache im Wortsinne, und ihre Bezüge auf deutschsprachige Autoren wie Kleist, Kafka, Rilke, Thomas Bernhard oder Goethe sind auch ein Dialog mit den Schriftstellern, die ihre Mutter Eve Cixous verehrte, und in gewisser Weise auch ein Dialog zwischen Paris und Osnabrück über die Zeiten hinweg: „Si, l’Algérie, j’y suis née, l’Allemagne, j’en suis née, j’en ai été environée dès ma naissance, j’ai appris à penser, à faire de phrases, à lire le monde, dans l’univers Allemagne qui était logé dans la sphère Algérie. Cependant, Oran, ma ville natale, était dans Osnabrück, la ville de ma mère.“ („Ja, in Algerien bin ich geboren, von Deutschland aus wurde ich geboren, seit meiner Geburt war ich davon umgeben, darin habe ich gelernt, zu denken, Sätze zu bilden, die Welt zu lesen. Deutschland war eine Welt, die in Algerien untergebracht war. Oran, meine Heimatstadt, war in Osnabrück, der Stadt meiner Mutter, mit enthalten.“)

Mehrere Aspekte sind auffällig in diesem Passus: Hélène Cixous verschmilzt nicht nur Zeiten, sondern auch Räume zu einer biographischen Denkfigur, die über das Individuelle hinaus weist. Diese Denkfigur wird im sprachlichen Spiel mit den gleichlautenden Anfangssilben der französischen Namen der so unterschiedlichen mit dem eigenen Leben verbundenen Länder Allemagne und Algérie aufgehoben. Und dieses Lesen der eigenen Zeiten im Raum bestimmt die Struktur des gesamten Buches, in dem durch sehr persönliche Fotografien aus dem Familienarchiv Akzente gesetzt werden: Die erste Abbildung zeigt das Kaufhaus am Nikolaiort 2 in Osnabrück, das der mütterlichen Familie bis zur Enteignung gehört hatte, das zweite Bild hat die Place d’Armes in Oran als Motiv und damit den Ort, an dem der Großvater Samuel väterlicherseits ein kleines Geschäft hatte, das dritte Foto ist ein Porträt der Großmutter von Eve Cixous, Helene Jonas, nach der die Autorin benannt wurde, das vierte Bild zeigt den Urgroßvater Abraham Jonas. Es folgen Schnappschüsse der beiden Schwestern Eri und Eva Klein als junge Frauen 1929 in Osnabrück und von einer Klassenfahrt, ein Bild von der Hochzeitsreise der Eltern nach Marokko im Jahr 1935, dann sehen wir den Vater in der Uniform der französischen Armee 1939, kurz bevor ihm durch das Vichy-Regime die französische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde; und das letzte Bild des Bandes zeigt eine im Spiel im Garten versunkene sieben- oder achtjährige Hélène Cixous, mit der Bildunterschrift, dass sie hier in einem Alter zu sehen sei, in dem sie begonnen habe, in ihrer Familie von den Lagern sprechen zu hören, von den Geschwistern ihrer Großmutter in Theresienstadt, von den Cousinen und Cousins der Mutter in Auschwitz.

Die Bilder und die dazugehörigen Texte erinnern an die Abgründe der Moderne, doch sie verknüpfen diese Vergangenheit auch mit der Gegenwart. Denn was wir in diesem Buch verbunden sehen mit der Reflexion von Geschichte ist eine dezidierte Hinwendung beider Autorinnen zur Literatur, zum Wortkunstwerk. In den Worten von Hélène Cixous lautet dies wie folgt: „Je m’y suis rendue par la littérature, dans et par Osnabrück, le livre-de-ma-mère“. („Ich habe mich durch die Literatur dorthin begeben, in und aufgrund von Osnabrück, dem Buch meiner Mutter“.).

Und die Literatur kenne nie nur eine Sprache, eine Nation, eine Herkunft. Aber dies ist kein spielerischer Gestus vielsprachiger Leichtigkeit. In einem Brief von Cécile Wajsbrot lesen wir über die tiefe Einschreibung des Jiddischen in ihrem Denken und Schreiben und werden auch an die schmerzhaften Seiten des Zwischen-den-Sprachen-Seins erinnert – so nennt sie es, „je suis dans un entre-deux langues“. Cécile Wajsbrot hat Deutsch zunächst gelernt, um das Jiddische zu verstehen, das Deutsche, die Sprache der Täter, die das Jiddische fast gänzlich zerstört haben. Hélène Cixous erinnert an das Deutsch, das sie in Oran gehört hat: Es war eine Sprache, die Geflüchtete gesprochen haben. Und Sprachen zu können, mehr als nur eine, das habe vor allem eines bedeutet: „La langue a toujours signifié: liberté. Saute-frontière“. („Sprache, das hat immer bedeutet: Freiheit. Grenzüberschreiterin.“)

Diese existentielle Bedeutung von Mehrsprachigkeit ist eine aus der eigenen Biographie entnommene Herausforderung, die beide Autorinnen als zentral für unsere Gegenwart und Zukunft markieren: „Je suis ardemment pour le polylinguisme.“ („Ich setze mich brennend für die Vielsprachigkeit ein.“) Hélène Cixous erinnert an ihre Arbeit als Hochschullehrerin an der Reformuniversität Paris VIII: „Dès que j’ai crée Paris 8, donc 68-69, j’ai instauré le polylinguisme littéraire, dans mon territoire libéré.“ („Ich habe die literarische Vielsprachigkeit institutionell begründet, auf meinem befreiten Gebiet, nachdem ich Paris VIII um 1968/69 gegründet hatte.“)

Dieses Buch fordert dazu auf, sich den Abgründen der Geschichte zu stellen, erinnert an die Erschütterungen der Dritten Republik, die Dreyfus-Affäre, die Untiefen des Vichy-Regimes, die Verwerfungen der Kolonialgeschichte, an den Zivilisationsbruch, und versteht dabei den literarischen Text als den Ort, an dem die Herausforderungen der Geschichte als eine zu übernehmende Verantwortung für unsere Gegenwart verstanden werden können. Denn das im Buch entfaltete Konzept eines polylinguisme bezieht sich nicht allein auf das Sprechen vieler Sprachen, sondern auf die Ausbildung einer Sensibilität der Vielfalt auch in der einen, etwa der eigenen Sprache. So schreibt Cixous: „Si seulement ces obtusément nationalistes comprenaient qu’ils ne prononcent pas une phrase qui ne soit pas de poly-origine, qu’il y a de l’arabe sur leur langue! Mon français a des oreilles d’or. Il entend passer les autres vivants à des kilomètres.“ („Wenn nur diese unglückseligen stumpfen  Nationalisten endlich verstünden, dass sie keinen Satz aussprechen, der nicht vielfache Zugehörigkeiten in sich trägt, dass es das Arabische in ihrer Sprache schon gibt! Mein Französisch hat goldene Ohren. Er erspürt andere Lebende über Kilometer.“) Diese Engführung ist der ethische Kern des Buches Une autobiographie allemande. Viel-Sprachigkeit, eine durch das Wortkunstwerk beförderte Sensibilität für die mehrfachen Herkünfte auch unserer eigenen Sprachen, so die These, macht Literatur zum Ort, an dem verschiedene Erfahrungsgeschichten von Menschen unterschiedlichster Zugehörigkeiten und Sprachen miteinander in Beziehung gesetzt und als solche nachvollzogen werden können.

Dem Buch gelingt es, durch die Entfaltung sprachkünstlerischer Perspektiven auf die Vergangenheit komplexe Zusammenhänge anzusprechen, die für die Fragen unserer Gegenwart wesentlich sind. Die dezidiert integrative Perspektive des Bandes zwischen französischer, algerischer, jüdischer und deutscher Geschichtserfahrung zielt darauf, historisches Verstehen auszubilden. Une autobiographie allemande von Hélène Cixous und Cécile Wajsbrot ist auch Dokument des Erkenntnispotentials von Erfahrungsgeschichte, die in ihrer literarischen Gestalt zum Modus werden kann, isolierende Betrachtungsweisen abzuwehren, um globale Prozesse denken und verstehen zu können. Umso mehr wäre zu wünschen, dass bald eine Übersetzung das Buch auch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht.

[1] Ich stütze mich hier auf den Eintrag von Carola Hilfrich (Hebräische Universität Jerusalem) in der Enzyklopädie des Jewish Women Archive: https://jwa.org/encyclopedia/article/cixous-helene

[2] Die vollständige Laudatio von Patricia Oster-Stierle ist auf der Seite der Académie de Berlin zu lesen: http://www.academie-de-berlin.de/prix/laudationes

[3] Abgedruckt in Heft 2/2014.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hélène Cixous / Cécile Wajsbrot: Une autobiographie allemande.
Christian Bourgois Éditeur, Paris 2016.
112 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9782267029413

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