Keine Abenteuer

In „Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen“ erzählt Nina Bußmann von der Suche nach dem Weg, sich selbst zu verlieren

Von Nina HahneRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Hahne

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die junge Seismologin Nelly arbeitet in Nicaragua an einem Langzeitexperiment, das die Plattentektonik vor der Küste Mittelamerikas erforscht. Eines Tages stürzt sie an Bord eines Leichtmetallflugzeugs über Waldgebiet ab. Obgleich nach Monaten ein Flügel des Wracks entdeckt wird, bleiben die Körper der Insassen unauffindbar. Daheim in Deutschland beschließt eine entfernte Freundin: Wer verschwindet, will gesucht werden. In Nellys Spuren reist sie nach Nicaragua.

Wer vielleicht nach diesem Romanbeginn eine linear erzählte, klassische Abenteuergeschichte erwartet, in der eine junge Frau aufbricht, um ihre verschwundene Freundin in einem fernen Land wiederzufinden, wird schon nach kurzer Zeit eines Besseren belehrt. Denn eine tatsächliche Suche nach Nelly findet niemals statt. Zwar erwägt die Ich-Erzählerin zu Beginn, dass Nelly überlebt haben könnte, dass sie dringend Hilfe braucht oder sich irgendwo versteckt. Dennoch macht sie sich erst eineinhalb Jahre nach Nellys Verschwinden überhaupt auf den Weg. Im Anschluss an erste Erkundigungen in der Gegend der Absturzstelle strandet sie schon bald in der kleinen Stadt San Dionisio, an Nellys letztem bekanntem Aufenthaltsort. 

Wie schon in ihrem ersten Roman Große Ferien (2012) weckt Nina Bußmann in Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen anfangs eine bestimmte Erwartungshaltung, um sie dann gezielt nicht einzulösen. Kreiste dort alles um die Frage, was genau sich zwischen dem Lehrer Schramm und seinem Schüler Waidschmidt zugetragen hatte, wartet man hier darauf, dass Nelly endlich tot oder lebendig aufgefunden wird. Beide Romane nehmen ihren Ausgangspunkt von etwas Ungeklärtem, das nicht geklärt werden soll und auch nicht geklärt werden kann. Die Exposition des Romans malt eine kurze Historie in der Karibik verschollener Schiffe und Flugzeuge aus und spielt auf diese Weise geschickt mit dem längst untergegangenen Genre des Seefahrtsabenteuers. Doch alle Abenteuer, die es hier zu erleben gibt, finden ausschließlich in der Erinnerung statt. 

Schnell wird klar, dass Nelly und ihre namenlose Freundin als Gegensatzpaar angelegt sind. Während Nellys Charakter völlig überzeichnet wirkt, bleibt die Ich-Erzählerin seltsam diffus. Sie präsentiert Nelly zunächst als Idol, eine Art kindliche Superheldin, die von Erfolg zu Erfolg eilt und schier unerschöpfliche Kräfte besitzt. Nelly ist besessen von ihrer Arbeit, trifft sich mit Gleichgesinnten „zum Freistilringen und Wettrennen im Park“ und muss Ritalin einnehmen, um sich überhaupt länger auf eine Aktivität konzentrieren zu können. Bereits mit Anfang dreißig leitet sie als Juniorprofessorin ein eigenes Projekt und hat gerade ihre erste Eigentumswohnung erworben.

Dem gegenüber steht die etwa gleichaltrige Ich-Erzählerin, die nach ihrem Studium der Soziologie und einer soeben beendeten Promotion eher ziellos durch das Leben streift, offenbar gequält von finanziellen Nöten. Um sie herum befinden sich andere im freien Fall, Hausbesetzer und Unterbeschäftigte aus dem akademischen Prekariat. Während Nelly zur Hochform aufläuft, scheint die Ich-Erzählerin immer mehr zu verblassen, sie berichtet, dass sie sich nur noch in „weite Staubmäntel“ hüllt, um auf diese Weise unsichtbar zu werden.

Der Schein jedoch trügt. Obgleich die beiden Frauen, die sich während ihres Studiums eher zufällig kennengelernt haben und dann aus unerfindlichen Gründen in Verbindung geblieben sind, auf den ersten Blick nichts gemeinsam haben, sind sie auf einer tieferen Ebene eng miteinander verbunden. Der teils geschmolzene Erdmantel des Romantitels wird dabei zum Symbol für eine existenzielle Angst, für die Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Indem Nelly als Seismologin die Ursachen für Erdbeben erforscht, widmet sie sich indirekt der Erforschung dieser existenziellen Angst.

Erscheint Nelly also zunächst als Überfliegerin, so wird dieser erste Eindruck in der Folge Schritt für Schritt dekonstruiert, indem die Erzählerin episodisch von ihren Erlebnissen mit der Verschwundenen berichtet, von ihren Briefen aus Nicaragua oder den gemeinsamen Telefongesprächen. Außerdem spricht sie mit zahlreichen Menschen, zu denen Nelly vor ihrem Verschwinden eine engere Beziehung hatte. Den Höhepunkt dieser Nachforschungen markiert ein Gespräch mit Nellys Mutter, das tiefe Einblicke in die schwierige Kindheit und Familiensituation der Verschollenen gewährt. Langsam formt sich aus den Erinnerungen das Bild einer Frau, die einerseits ein sehr selbstbestimmtes und zielstrebiges Leben führte, andererseits jedoch von furchtbaren Zweifeln gequält wurde und sich zeitweise sogar für eine Hochstaplerin hielt. Kurz vor ihrem Verschwinden hatte sie zudem erfahren, dass sie keine Kinder zur Welt bringen konnte und spielte nun mit dem Gedanken, ihr gesamtes Leben noch einmal neu zu überdenken, den Beruf zu wechseln – sie wollte Lehrerin werden – und in Nicaragua ein Kind zu adoptieren.

Je mehr die Ich-Erzählerin über Nelly erfährt, desto ferner rückt diese. Sie wird diffus wie die Erzählerin selbst, wodurch beide Charaktere sich wiederum angleichen. Diese Annäherung durch Entfernung drückt sich auch in der doppelten Vermittlung der Zeugenschaft aus. Berichtet die Erzählerin zunächst noch von ihren eigenen Erinnerungen an Nelly, so erzählt sie später all das nach, was ihr von Dritten über Nelly berichtet wurde. Ihre viel zu detaillierten Schilderungen konkreter Situationen machen jedoch deutlich, dass sie vieles ausschmückt und in ihrem Sinne interpretiert. Durch diese Einfühlung wirkt ihr Bericht zunehmend unzuverlässig. 

Das grundlegende Prinzip der Reise ist somit nicht die Suche, sondern die Imitation. Die Erzählerin ahmt die Verschwundene nach, begibt sich an die gleichen Orte wie sie und freundet sich mit Nellys ehemaligen Bekannten an. Sie schläft sogar mit Nellys Freund Jakob, mit dem sie auch zunächst gemeinsam in Nicaragua nach Nelly suchen will. In San Dionisio kehrt die Erzählerin in das gleiche Haus ein, in dem die Verschwundene gewohnt hat. Sie beginnt, deren Kleider zu tragen, ganz so, als wolle sie Nellys leeren Platz einnehmen. Zugleich verdichten sich die Indizien, dass es sich bei dem Flugzeugabsturz nicht um einen Unfall gehandelt haben könnte. So vermutet Fatima, die Frau des Ingenieurs Tito, der mit in dem verunglückten Flugzeug saß, dass Nelly Selbstmord begangen habe, indem sie als Pilotin das Flugzeug zum Absturz brachte: „[…] [I]ch hänge ganz an ihr und kriege diese Frage nicht aus dem Kopf, wie mag sie sich gefühlt haben, als sie die Kontrolle verlor, die Kontrolle über sich und dann über das Flugzeug, wie fühlt sich das an, einen Impuls zu spüren und ihm nachzugeben im nächsten Moment? Wie wenn man auf einem Turm steht und gepackt wird vom Drang, zu springen, mit aller Macht angezogen von der Erde?“

Versuchte Nelly also, mithilfe eines inszenierten Unfalls unbemerkt aus ihrem Leben zu schlüpfen? Zum Ende des Romans hin wird es immer wahrscheinlicher, dass die Erzählerin konsequent sein und Nelly auch in diesem Punkt folgen wird. Sie schwimmt auf das offene Meer hinaus und begibt sich dabei in Lebensgefahr. Wäre sie ertrunken, hätte sich niemals klären lassen, ob es sich um einen Unfall oder um Selbstmord handelte. Offen bleibt, ob die Nachahmung der Verschwundenen damit abgeschlossen ist und die Erzählerin wieder in ihr altes Leben zurückkehrt, oder ob auch sie in Nicaragua einfach irgendwann verschwinden wird.

Nina Bußmanns zweiter Roman ist wie schon sein Vorgänger detailverliebt und atmosphärisch dicht. Die Landschaft und Kultur Nicaraguas werden mit ausgesprochen gekonntem Naturalismus erlebbar gemacht, während die Motive der in loser Reihe vorüberziehenden Charaktere zumeist im Dunklen bleiben. Durch die kleinteilige Absatzstruktur und das häufige Springen zwischen Zeiten und Orten entsteht ein offenbar beabsichtigter Orientierungsverlust, der die psychische Dissoziation der Erzählerin unterstreicht.

Nicaragua als Verheißung großer Freiheit begegnete schon in Große Ferien. Hier verbrachte der Bruder des Protagonisten Schramm Jahre in einem Armenkrankenhaus in Nicaragua und entfloh auf diese Weise seinen beengten Familienverhältnissen. In Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen erscheint Nicaragua zudem als Ort des schlechten Gewissens, an dem sich wohlstandsverwöhnte Mitteleuropäer, die vor dem gesellschaftlichen Abstieg zittern, davon überzeugen können, dass alles noch viel schlimmer sein könnte. Auf diese Weise wird das Land zu einer Folie, vor der gegenwartsdiagnostisch die Probleme einer Generation beschrieben werden, der alle Sicherheiten abhandengekommen sind. Vor allem in dieser Verschränkung individueller Konfliktsituationen liegt die Originalität des Romans. 

Bereits in Große Ferien verfolgte Nina Bußmann die Strategie, wichtige Informationen zu den Charakteren und Hintergründen der Handlung zunächst zurückzuhalten, um sie dann nach und nach preiszugeben. Die Leser*innen folgen den Gedanken der Erzählerin und müssen sich die Zusammenhänge daraus selbst zusammensetzen. An manchen Stellen wird die psychologische Plausibilität dieser Erzählstrategie jedoch untergraben, da grundlegende Informationen ohne ersichtliche Notwendigkeit zurückgehalten und dann – teils beinahe ärgerlich spät – plötzlich nachgereicht werden. In solchen Fällen scheint die Taktik der Spannungserzeugung zu stark hindurch.

Da der Roman größtenteils aus einer Aneinanderreihung von Berichten zusammengesetzt ist, dominiert das Prinzip der Rückblende. Die Nacherzählung des Vergangenen im Plusquamperfekt ist jedoch so zäh wie das Plusquamperfekt in der deutschen Sprache unelegant (hatte gesagt, hatte gedacht, hatte geglaubt). In einem anderen Zusammenhang wird diese Problematik von der Erzählerin selbst thematisiert. So sinniert sie über ihre wiederholte Feststellung, dass man Nelly vielleicht noch hätte helfen können:  „Schon vor ihrem Verschwinden hätte man sich Sorgen machen müssen. Hätte, dann. Ich habe genug von dieser Grammatikstruktur.“ Zu fragen bliebe, ob der Autorin entgangen ist, dass das permanente „hatte“ der Rückblenden auf die Leser*innen einen ähnlichen Effekt haben könnte. 

In den zahlreichen positiven Rezensionen des Romans wird immer wieder die intelligente Konstruktion der Romane von Nina Bußmann lobend hervorgehoben. Ohne Zweifel ist Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen ebenfalls sehr intelligent angelegt und überzeugt vor allem dadurch, dass er beinahe unendlich viele Deutungsmöglichkeiten der Geschehnisse eröffnet. Dennoch sollte man immerhin berücksichtigen, dass Konstruktionsprinzipien sich auch problematisieren lassen, vor allem dann, wenn sie beim Lesen zuweilen sehr stark ins Auge fallen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Nina Bußmann: Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
329 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425800

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