Jean-Christophe Rufin, ein Wanderer der Académie française

Der Jakobsweg im neuen Licht

Von Isabelle VacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Isabelle Vacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nichts gesucht. Alles gefunden (Immortelle randonnée: Compostelle malgré moi) ist der Titel des neuen Buchs von Jean-Christophe Rufin, Mitglied der Académie française seit 2008. Der Bericht seiner Reise auf dem Jakobsweg erschien im Jahre 2013. Ehrlicherweise muss man sagen, dass der Titel zutrifft. Jean-Christophe Rufin erzählt uns, dass es nicht seine Absicht war, ein Buch über seine Reise zu schreiben, sondern dass er schließlich einer Idee des Verlags folgte und deswegen keine großen Ansprüche hatte. Und das ist gut so.

Viele Wege führen nach Rom oder auch zum Schreiben eines Buchs. Sogar gehobene Akademiker schreiben Reiseberichte. Man muss zugeben: Es ist sehr unterhaltsam. Die Selbstironie in diesem Bericht funktioniert wie ein Motor. Dem Leser wird es dadurch nicht langweilig, die Sprache ist sehr gepflegt und lässt Raum für eigene Bilder. Ein großes Lob muss an der Stelle auch an den Übersetzer Ralf Pannowitsch gehen, denn er versteht es, die wortgewaltige Beschreibung aufzunehmen und zu vermitteln.

Leider wirkt das Buch im Original sowie in der Übersetzung trotzdem sehr distanziert und kühl. Selten spricht der Autor in der reinen „Ich-Form“ des Erlebten, und der Leser bekommt am Ende der Lektüre der Eindruck, dass man die Gesellschaft stinkender Pilger besser vermeiden sollte. Weil Rufin als Eremit pilgern will, wandert auf dem weniger bekannten Camino del Norde. Die Nordroute ist sehr einsam, und Rufin sucht auch keinen Kontakt zu anderen Menschen. Meiner Meinung nach entgeht ihm aber genau dort ein Teil des Weges. Rufin geht einem wichtigen Teil der Reise aus dem Weg, denn auf dem Camino ist jeder Pilger gleich. Nur sehr selten kann man in unserer Gesellschaft eine solche Gleichheit erleben. Wenn ein Pilger einen anderen Pilger trifft, fragt er diesen zuerst, woher er kommt und wohin er geht. Es geht nicht darum, ob er ein Haus, ein Auto oder einen Beruf hat. Der Rang in der Gesellschaft spielt keine Rolle, wenn man pilgert. Berufliche oder namentliche Titel, die im deutschsprachigen Raum einen Mensch begleiten und seine gehobene Rolle in der Gesellschaft bezeichnen, kommen auf dem Jakobsweg nicht zum Tragen. Sie werden nie erwähnt, was sehr sympathisch ist, weil sie sehr oft eine Fassade darstellen, hinter der sich der Mensch verstecken kann. Wer pilgert, ist frei von Konventionen und diese Erkenntnis stellt eine Befreiung dar.

Das ist das Besondere am Camino de Compostela, und Rufin verpasst es, da er lieber allein im Freien zeltet und die Pilgerherbergen meidet. Er zieht es vor, in städtischen Hotels zu schlafen, um den ‚Komfort‘ der Herbergen nicht genießen zu müssen. Darin liegt der Fehler aus meiner Sicht. Der Pilger soll seine Komfortzone verlassen, um an seine Grenzen zu kommen. Er marschiert in der prallen Sonne, im strömenden Regen und wenn er unter Schlafmangel leidet. Diese Erfahrung führt ihn zur wesentlichen Erkenntnis der inneren Ruhe. Der Jakobsweg zwingt seinen Pilgern offenbar bestimmte Erleuchtungen auf, ob sie es nun wollen oder nicht. Rufin sind diese Erfahrungen entgangen.

Jean-Christophe Rufin ist einer der renommiertesten Schriftsteller Frankreichs, Prix Goncourt-Preisträger, aber auf den Jakobsweg treibt ihn nicht die Suche nach dem Anderen. Er meidet die Gesellschaft der Menschen und verpasst somit einen Aspekt des Pilgerns. Er ist dementsprechend mehr als Wanderer zu bezeichnen. Immer behält er eine skeptische Distanz zu sich und anderen.

Diese Skepsis durchzieht das ganze Buch. Rufin hat ständig schlechte Laune, hegt sehr oft Argwohn gegenüber Anderen und sieht in allem das Negative. Er öffnet sich der neuen Landschaft nicht, obwohl er die wunderschöne Nordroute durch Kantabrien und Asturien, die gebirgigen Meeresprovinzen am Atlantik, wählt. „Ich sage es lieber gleich: Kantabrien hat mir nicht gefallen.“ Diese Landschaften sprechen ihn nicht an, weil er sehr oft den Weg entlang der Autobahn erleben muss. „Hier ist der Jakobsweg nicht sehr schön: Er führt an Nationalstraßen entlang und quert moderne Kreuzungen.“ Er bleibt Skeptiker, er bleibt Atheist, er beobachtet, was mit seinem Körper und seiner Seele auf diesem Weg passiert, aber er wird nie positiv und dankbar. „Das Gefühl, der wilden Natur anzugehören, mit ihr zu verschmelzen, ihr zu widerstehen und dabei doch zu wissen, dass man sich, wenn sie darauf bestünde, von den Wellen wegtragen, von den Windstößen fortreißen ließe, ist ein seltener Hochgenuss. Nicht jeder mag ihn verspüren, aber die Rasse der Schlechtwetterpilger gibt es tatsächlich, und ich habe das Privileg, ihr anzugehören.“ Oder: „So zog ich aus dem Jakobsweg insgesamt nur allgemeine und ziemlich vage Lehren.“

Wörtlich könnte der französische Titel Immortelle randonnée, Compostelle malgré moi folgendermaßen übersetzt werden: „Unsterbliche Wanderung – Compostela wider Willen.“ Rufin sucht nichts und der Leser findet dementsprechend auch nicht so viel in diesem Buch. Nun also noch ein Pilger, der auf Aufforderung des Verlags zur Feder greift, wobei uns der Zweck des Vorhabens geheim bleibt. Der Leser wird getäuscht und enttäuscht sein. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jean-Christophe Rufin: Nichts gesucht. Alles gefunden. Meine Reise auf dem Jakobsweg.
Ralf Pannowitsch.
Penguin, München 2017.
256 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783328100638

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