Leichen im Keller

Birgit Müller-Wielands Familienroman „Flugschnee“ erkundet die Auswirkungen von Traumata

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Boom der Familienromane ist längst vorbei. Die Erforschung der Familiengeschichte und ihrer Traumata in den Nachkriegsgenerationen hat nach der Jahrtausendwende einige Regalmeter gefüllt. Romane und Erzählungen entwickelten aus dem Blickwinkel der Nachgeborenen eine neue Perspektive auf die private Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, an der sich die 1968er noch verbissen abarbeiteten. Spätestens mit Harald Welzers wegweisender Untersuchung Opa war kein Nazi (2002) haben auch die Autorinnen und Autoren einen liebevoll forschenden Blick auf das Familiengedächtnis geworfen. Dabei war es vor allem die Geschichte der Großeltern, die mit dem Wissen um die Verbrechen der Kriegsgeneration in Einklang gebracht werden musste. Aus dem Rückblick wurde der Krieg im Lebenslauf der gealterten Protagonisten verortet und die Auswirkungen auf das Leben in der Familie kritisch reflektiert. Lange totgeschwiegene Traumata der Kriegskinder wurden ebenso in Einzelschicksalen aufgearbeitet wie die Auswirkungen von Verrat, Flucht und Bombenkrieg für die familiäre Identitätsbildung herausgestellt. Dabei wurde meist eine junge Figur ins Zentrum des forschenden Erzählens gestellt, die auf der Suche nach der eigenen Identität ihren Platz in der Herkunftsfamilie neu definierten musste.

In dieser Tradition steht der Familienroman Flugschnee der österreichischen Autorin Birgit Müller-Wieland, der polyperspektivisch die verschiedenen Generationen zu Wort kommen lässt. Der Roman greift viele Elemente auf, die aus Romanen wie Tanja Dückers Himmelskörper (2003) oder Doris Konradis Fehlt denn jemand (2005) bereits bekannt sind. Was also hat dem Roman einen Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises beschert? Diese Frage begleitet beim Lesen und es gibt verschiedene Antwortmöglichkeiten.

Ein Traum quält die Germanistikstudentin Lucy. Sie befindet sich in einem blendend weißen Raum, ist orientierungslos und kann ihren Körper nicht spüren. Die Angst, die sich in ihr ausbreitet, kann sie sich nicht erklären, da ihr die Erinnerung an das Ereignis fehlt, das diesen Traum auslöst. „Nach Hause möchte ich.“ Dieser plakative Satz eröffnet den Roman und begleitet den Traum, aber wo ist dieses Zuhause? Im Haus der Großeltern in Hamburg? Eine Familienwohnung in Berlin gibt es nicht mehr, seit sich die Eltern Vera und Arnold getrennt haben. Das Thema der familiären Identitätssuche wird bereits auf den ersten Seiten des Romans eingeführt. Es weitet sich auch auf Lucys Bruder, den Politikstudenten Simon, aus. Dieser ist untergetaucht. Sein Verschwinden, für das die Familie keine Erklärung hat, verweist seine Schwester auf die Leerstelle in der familiären Vergangenheit, die sie nun bereit ist, zu erkunden. Denn das Geheimnis, das spürt Lucy, führt sie zu Simon und zu sich selbst. Bei ihren letzten Treffen blieb seine Frage nach ihrer Erinnerung an das letzte Weihnachtsfest bei den Großeltern unbeantwortet. Sie war damals zu jung, um sich an die Ereignisse erinnern zu können und doch bringen ihre Erinnerungsfetzen nach und nach die Erlebnisse des Wintertages in Hamburg zurück.

Lucy erkundet die Vergangenheit im Zwiegespräch mit ihrem Bruder. Der dialogische Stil scheint auch auf den Leser abzuzielen, dennoch kann er die Distanz zwischen der Figur und dem Leser nicht überwinden. Viele Leerstellen können nur tastend gefüllt werden. Das Verschwinden des Bruders bleibt lange ein Rätsel. Einfacher ist es hingegen, sich in die zweite Handlungsschicht einzufühlen, die die notwendigen Hintergrundinformationen zur Familiengeschichte liefert. Aus der Innenperspektive wird das Erleben der Eltern- und Großelterngeneration an einem Wintertag vor 20 Jahren beschrieben. Hier ruft die Autorin gekonnt die Merkmale des Familienromans auf und setzt sie zu einem Bild zusammen.

Großvater und Großmutter kommen aus einflussreichen Familien. Sein älterer Bruder, ein überzeugter Nationalsozialist, fiel an der Front, während die Mutter bei einem Bombenangriff ums Leben kam, weil sie den schützenden Keller verlassen hat, um ihren Strickkorb zu holen und für den jüngsten Sohn ein paar Socken zu stricken. Obwohl Lorenz erfolgreicher Mediziner wurde, beschäftigt ihn seine emotionale Schuld am Tod der Mutter und das Kriegserlebnis bis ins hohe Alter. Zwar ist auch seine Frau Helene ein Kriegskind, sie wird aber von den Kindern als liebevolle Großmutter und großartige Erzählerin geliebt. Mit ihren Geschichten und aufgrund ihrer Fabulierlust kann die alte Dame ihre fortschreitende Demenz eine Zeit lang verheimlichen. Das Ringen um die eigene Geschichte, der Versuch, das Vergessen aufzuhalten, ermöglicht es dem Leser, einen Einblick in ihr Innenleben und die Geheimnisse der Familie zu werfen. Das Familiengedächtnis, repräsentiert durch die Ahnengalerie und die Erzählungen der Großmutter, wird brüchig. Der Versuch, die Toten zu erinnern, indem die Kinder ihre Namen erhalten, kann als ein Sinnbild für die Weitergabe von Traumata innerhalb der Familie gelesen werden. Harmonie oder gar ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entsteht dadurch nicht. Es stimmt etwas nicht in dieser Familie. Harmonie stellt sich keine ein, auch wenn der Familientisch liebevoll gedeckt wird. Spielt der Keller bereits beim Tod der Urgroßmutter eine Rolle, so birgt dieser Raum, den die Kinder nicht betreten dürfen, wohl weitere Geheimnisse. Bedrohen diese den Zusammenhalt der Familie und ihr Glück? 

Weiß die Großelterngeneration Momente des Glücks zu schätzen und festzuhalten, so ist die Elterngeneration von den Problemen des Alltags so sehr eingenommen, dass für ein glückliches Innehalten keine Zeit zu sein scheint. Die Künstlerin Vera befindet sich aufgrund der familiären Belastung in einer Schaffenskrise. Zudem hat sie gerade ohne Wissen ihres Mannes eine Abtreibung hinter sich, weil sie die Freuden und Schrecken der Elternschaft nicht ein weiteres Mal tragen möchte. Die Entscheidung dafür wird sie viel später einholen. Ihr Mann Arnold ist so sehr mit universitären Intrigen und dem täglichen Kampf mit seinen beiden eigenwilligen Kindern beschäftigt, dass er seine Frau im Alltag nicht mehr wahrnimmt. Er betrügt sie mit einer Kollegin auf einer Dienstreise, ohne dabei Schuldgefühle zu empfinden. Sexualität bekommt den gleichen Stellenwert wie ein gemeinsames Abendessen. Dass seine Kollegin das anders sieht, nimmt der Historiker mit Verwunderung wahr. Die Kluft zwischen dem Ehepaar steht in Kontrast zur gelebten Symbiose der Großeltern, die einander blind zu verstehen scheinen. Sind es die Geheimnisse des Alltags, die das jüngere Paar trennen? Das Muster des Familienromans ist erkennbar. Die schonungslose Sezierung der traditionellen Kleinfamilie, die zerfällt wie ein Schneemann in der Sonne, ist nicht neu und doch ist der Grund für den kategorialen Unterschied zwischen den Generationen in Müller-Wielands Roman schwer auszumachen. Bietet die Kälte des Steins, den die Bildhauerin Vera bearbeitet, eine Erklärung für ihre Unnahbarkeit? Ist es die emotionale Nähe der Sprache, mit der sich die Großmutter in Liedern und Erzählungen der Welt zuwendet, die die Brücke zu den Mitmenschen spannt? Die Differenz zwischen den Künsten als Thema ist angedeutet, aber wird im Verlauf des Romans nicht weiter verfolgt.

Nicht nur in Bezug auf den Familienroman arbeitet die Autorin mit bekannten Versatzstücken und Motiven, die der Leser entschlüsseln muss. Dass sie ihr Handwerk beherrscht, zeigt sie auch, wenn sie eine Spur mit intertextuellen Bezugnahmen auf das Werk von Peter Weiss legt. Seine Ästhetik des Widerstands brachte Vera nach dem Verlust der Eltern bei einem Erdrutsch zur Kunst, während die Erzählungen aus Berlin der dementen Helene das Lebensgefühl ihrer Kindheit zurückbringen. Der Abschied von den Eltern ist hingegen der Text, der für Simon und Lucy mehr Bedeutung erhält. Ob die beiden ihn tatsächlich gelesen haben, bleibt offen, seine Botschaft wird allerdings verinnerlicht.

Müller-Wielands Roman spannt verschiedene Fäden und webt langsam das Bild einer Familie. Eine neue Facette im Genre des Familienromans entwickelt er dabei allerdings nicht, sondern zeichnet sich lediglich durch gekonntes Erzählen und die Kombination bekannter Elemente aus. Dazu gehört auch das Motiv des von der Familie gefürchteten Schnees, der dem Roman seinen Titel gibt. Ob Traumata tatsächlich vererbbar sind oder ob nicht jede Generation sich ihren ganz eigenen Problemen stellen muss, das muss der Leser selbst entscheiden, wenn alle Leichen im Keller gefunden sind.

Titelbild

Birgit Müller-Wieland: Flugschnee. Roman.
Otto Müller Verlag, Salzburg 2017.
343 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783701312481

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