Ohne Vater kann keiner leben

„Die rothaarige Frau“ von Nobelpreisträger Orhan Pamuk leidet etwas unter dem symbolischen Ballast

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem viele Romane gelesen wurden. Mein Vater hatte eine umfangreiche Bibliothek und erzählte von den großen Schriftstellern wie Thomas Mann, Kafka, Dostojewski oder Tolstoi. Schon als Kind waren für mich all diese Romane und Autoren eins mit dem Begriff Europa“, erklärte Orhan Pamuk einst in einem Interview. Doch trotz dieser frühen Affinität zur großen europäischen Literatur hat der Nobelpreisträger von 2006, der im Juni seinen 65. Geburtstag gefeiert hat, in seinen eigenen Werken stets den Spagat zwischen Tradition und Moderne, zwischen Orient und Okzident versucht. In seiner Heimat ist Orhan Pamuk, dessen Bücher in mehr als 35 Sprachen übersetzt wurden, keineswegs unumstritten. Wegen „Herabwürdigung des Türkentums“ wurde der Autor 2005 sogar vor Gericht gestellt. Im Frühjahr war ein großes Interview, das Pamuk der Zeitung „Hürriyet“ gegeben hatte, der Zensur zum Opfer gefallen, weil sich der Autor kritisch über die Erdogan-Politik geäußert hatte.

Und mit etwas metaphorischer Dechiffrierungsgabe lässt sich der aktuelle Konflikt in der türkischen Gesellschaft auch im neuen Roman Die rothaarige Frau herauslesen. Es geht um Väter und Söhne, um Tradition und Moderne, um Schuld und Sühne und um reichlich Symbolik aus der griechischen Antike und der persischen Sagenwelt. Das hört sich wahnsinnig kompliziert an, aber Pamuk schlägt immer wieder auch den Bogen in den realen Alltag – zu Bestechung, Korruption und Immobilienspekulationen während der Griechenlandkrise.

Im Mittelpunkt des Romans stehen der Brunnenbaumeister Mahmut und sein Lehrling Cem, belesener Sohn eines Apothekers, dessen Familie auseinandergefallen ist. Mahmut übernimmt für Cem Celik die Rolle eines verständnisvollen, aber strengen Ersatzvaters. Pamuks ausschweifender Erzählbogen reicht von den 1980er-Jahren bis nahe an die Gegenwart. Aus dem sprunghaften Teenager Cem wird in dieser Zeit ein rücksichtsloser und auf den eigenen Erfolg bedachter Bauingenieur und Immobilienspekulant.

Und dann gibt es da noch diesen verhängnisvollen, leicht mysteriösen Unfall: Cem entgleitet in einem Moment der Unaufmerksamkeit eine Seilwinde, während sich sein Ausbilder und Ersatzvater Mahmut noch im Schacht befindet. Die unten zuvor freigeschlagene Ladung Gestein stürzt ungebremst zurück in die Tiefe. Cem hört noch einen Schrei, dann verlässt er wie in Trance – ohne Hilfe zu holen – den Ort des Unglücks. Unfall? Oder Absicht? War es vielleicht sogar eine Stellvertretertat des jungen Cem, dessen leiblicher Vater als politischer Häftling einsaß, sich später eine Geliebte hielt und selten für die Familie da war?

Ein kurzes flüchtiges Glück findet Cem bei Gülcihan, einer Schauspielern mit leuchtend roten Haaren, die gleichermaßen als erotisches wie politisches Symbol fungieren sollen, doch nicht alle Anspielungen sind Pamuk tatsächlich geglückt. Cem verbringt eine (wie sich später herausstellt) folgenreiche Nacht mit der rothaarigen Gülcihan, die den Kern dieses Romans treffend auf den Punkt bringt: „An Vätern mangelt es nicht in diesem Land. Vater Staat. Gottvater. Die Generäle spielen sich als Väter auf, und sogar die Mafia. Ohne Vater kann hier keiner leben.“

Aber mit Vater lässt es sich manchmal – und da ist wieder die Brücke zu Ödipus geschlagen – auch nicht aushalten. Cem lernt in einem Varieté das persische Nationalepos kennen, quasi eine Umkehrung der Ödipus-Sage, in der der Vater Rostam seinen nicht erkannten Sohn Sohrab erschlägt. Das alles ist für Pamuks kompliziert konstruierten und mit zahllosen symbolischen Erzählschlenkern ausstaffierten Roman wichtig, denn der fast fließende Übergang zwischen Vater-und-Sohn-Rollen zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung.

Mit einer zerschmetterten Schulter hat Mahmut das Unglück in der Brunnenbaustelle vor den Toren Istanbuls überlebt. Cems Schuldgefühle wachsen von Tag zu Tag, und auch die Nachricht, dass er einen leiblichen Sohn hat (allerdings nicht aus seiner Ehe) bringt ihn aus dem seelischen Gleichgewicht. Enver heißt der junge Steuerberater, der aus der Affäre mit der rothaarigen Frau hervorgegangen ist, sich als sein Sprössling mit markigen Worten zu erkennen gibt und den „Individualismusfimmel“ seines Vater geißelt: „Im Glauben dagegen steckt, dass man genauso ist wie alle anderen.“

Plötzlich sieht sich Cem nicht mehr in der Rolle des Sohnes, sondern in der des Vaters, der zum Handeln gezwungen ist. Söhne morden ihre Väter, Väter ihre Söhne. Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden.

Ein Land im Umbruch, entzweite Familien, innerlich zerrissene Individuen allenthalben: Orhan Pamuk hat dies äußerst kunstvoll arrangiert, aber die erzählerische Vitalität aus früheren Werken, die nicht selten Sogwirkung entfachte, leidet unter dem aufgeblähten symbolischen Ballast erheblich. Im Fall der rothaarigen Frau wäre weniger mehr gewesen.

Wie schnörkellos einfach hat vor mehr als 150 Jahren Iwan Turgenjew in seinem Roman Väter und Söhne Generationskonflikte im Spannungsfeld großer politisch-gesellschaftlicher Veränderungen beschrieben. Ein Buch, auf das man nach der Pamuk-Lektüre wieder richtig Lust bekommt.

Titelbild

Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau. Roman.
Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Hanser Berlin, Berlin 2017.
272 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256484

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