Neue Analysen zur Aufarbeitung der RAF-Geschichte

Wolfgang Kraushaar schärft die Wahrnehmung für im Dunkeln gebliebene Aspekte des Linksterrorismus

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den 40 Jahren nach dem „Deutschen Herbst“, der in der Entführung und Ermordung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die Rote Armee Fraktion gipfelte und zu einer tiefen innenpolitischen Staatskrise führte, sind zahlreiche Untersuchungen und Reportagen zur Geschichte der RAF erschienen. Ein Teil dieser Geschichte kann demnach als gut erforscht gelten. Dennoch liegen zahlreiche Aspekte bis heute im Dunkeln, was nicht unwesentlich zur Mythenbildung beitrug: Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz, der mit Peter Urbach nachweislich einen Agent Provocateur in die Reihen der RAF eingeschleust hatte? Welche Rolle spielte die DDR, die zahlreichen Terroristen in den 1980er-Jahren eine neue Identität und ein Leben im anderen Deutschland bot? Von welchem Interesse war sie getrieben? Und blieb ihr Agieren tatsächlich den bundesrepublikanischen Fahndern und Geheimdiensten verborgen? Wurden die Gefangenen der ersten RAF-Generation in Stammheim abgehört, wofür es einige Indizien gibt, und erfolgten ihre Selbstmorde gar mit Wissen der Exekutive? Wer erschoss Schleyer, wer Siegfried Buback?

Die Reihe an Fragen ließe sich nahezu endlos fortsetzen. Antworten auf manche dieser Fragen gäbe es, wenn heute noch lebende Akteure, nicht nur ehemalige RAF-Mitglieder wie Irmgard Möller oder Stefan Wisniewski, sondern auch damalige Anwälte wie Siegfried Haag oder Otto Schily, ihr Schweigen brechen und staatlicherseits immer noch unter Verschluss gehaltene Akten zugänglich gemacht würden. Andere Umstände dagegen lassen sich eher durch Analysen bislang nicht beachteter Zusammenhänge oder neue methodische Zugriffe erhellen. Genau dieses Ziel verfolgt Wolfgang Kraushaar in seinem Buch Die blinden Flecken der RAF: Die „blinden Flecken“ beziehen sich weniger auf die im kriminologischen Sinn ungeklärten Begebenheiten und ihre etwaige Aufklärung, sondern auf analytische Defizite, die dafür sorgten, dass manche Themenkomplexe rund um die RAF unklar blieben. Entweder waren diese Defizite auf ideologisch geprägte Deutungen oder schlicht auf Missverständnisse zurückzuführen.

Kraushaar ist renommierter Politikwissenschaftler, langjähriger Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung und ausgewiesener Kenner der 68er-Bewegung sowie der RAF-Geschichte. In der Einleitung von Die blinden Flecken der RAF skizziert er das Terrorismus-Phänomen generell und schlägt den Bogen in die heutige Zeit, indem er sich mit der vereinfachenden Gleichsetzung des Linksterrorismus der 1970er-Jahre und dem aktuellen, religiös verbrämten IS-Terrorismus beschäftigt. Vor allem geht es ihm darum, auf die grundlegenden Unterschiede in Motivation, Umsetzung und Ziel hinzuweisen, um zugleich die heutige inflationäre Verwendung des Begriffs „Terrorismus“ zu konstatieren. Dass einige Themenbereiche des Linksterrorismus, wie er sich in der RAF manifestierte, im Dunkeln liegen, sieht Kraushaar hauptsächlich in drei Faktoren begründet: im hartnäckigen Schweigen ehemaliger RAF-Mitglieder, in der durch die Strafverfolgung angenommenen Kollektivität der Straftaten, welche dazu führte, dass der individuelle Schuldfaktor und seine juristische Aufarbeitung in den Hintergrund rückten, sowie in der Verstrickung der Geheimdienste.

Nicht aufgearbeitete Nazi-Vergangenheit, Außerparlamentarische Opposition (APO), Schah-Besuch, Benno Ohnesorg, Vietnam, RAF – diese Kette an Schlagworten beschreibt die Entwicklung zum Linksterrorismus zwar grundsätzlich zutreffend, die Entstehungsbedingungen sind jedoch durchaus komplex. Kraushaar weist auf die sogenannten Halbstarkenkrawalle der 1950er- und 60er-Jahre hin, auf das anfängliche Anarchismus-Bekenntnis des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), auf das von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl verfasste „Organisationsreferat“, in dem der SDS aufgerufen wurde, zukünftig als Guerilla aufzutreten, und auf die theoretische Fundierung von letzterem in der Fokustheorie von Che Guevara sowie in Carl Schmitts Theorie des Partisanen (1963). Im Zuge dessen entwickelten sich eine Vielzahl gewaltbereiter Anarcho- und Terrorgruppen wie die „Tupamaros West-Berlin“, die „Revolutionären Zellen“, die „Bewegung 2. Juni“ oder eben auch die RAF.

Dieter Kunzelmann, Mitbegründer der „Kommune 1“ und Kopf der „Tupamaros West-Berlin“, Rudi Dutschke, intellektueller Kopf der Studentenbewegung, dem Konzept des bewaffneten Kampfs zugeneigt, die RAF jedoch ablehnend, sowie Horst Mahler, Anwalt, RAF-Gründer und später zum Rechtsradikalismus konvertiert, waren wesentliche Akteure und Ideengeber in der Entstehungsgeschichte des Linksterrorismus. Ihre jeweils unterschiedliche, jedoch bedeutsame Rolle beleuchtet Kraushaar mit Sinn für wesentliche und nicht alltägliche Details. An anderer Stelle illustriert er, welche Bedeutung logistische Prozesse und darin involvierte Schlüsselfiguren für die Entstehung und Fortführung der RAF hatten: Der bereits erwähnte Verfassungsschutz-Mitarbeiter Peter Urbach besorgte die ersten Waffen, der Anwalt Christian Ströbele organisierte das geheime „Info-System“, das zunächst dem Austausch zwischen Anwälten und Inhaftierten dienen sollte, während Wilfried Böse als Kurier und Waffen- und Sprengstoffbeschaffer im Hintergrund ebenso umtriebig wie effektiv agierte.

Schaut man auf die Phänomenologie der RAF, könnte man sie knapp mit „gebildet, protestantisch geprägte Sozialisation, Helferberuf, weiblich“ beschreiben. Ein überwiegender Teil der Hauptakteure entsprach dieser Typologie. Kraushaar benennt ein übersteigertes Empathie-Vermögen (freilich nicht mit den RAF-Opfern) unter Ausprägung einer eigenen Moralkategorie, die zeitbedingte Erziehung von Mädchen zu einer bedingungslosen Einfügung in eine Lebensgemeinschaft sowie einen inhaltsleeren Protestantismus, der durch Ideologien ersetzt wird, die ebenfalls unerschütterliche Überzeugung und kategorisches Handeln in den Mittelpunkt stellen, als Faktoren, die das Phänomen konstituieren. Diese führen in der Folge zu einer offenkundigen „Abweichung vom normativen Gesellschaftsbild der Weiblichkeit“.

Das Verhältnis von Linksterrorismus und Antisemitismus thematisierend, macht Kraushaar auf einen ideologischen Widerspruch aufmerksam: Einerseits speiste sich die Triebkraft der RAF aus den Nachwirkungen des Holocaust und der tabuisierten Nazi-Vergangenheit, andererseits war der Linksterrorismus vom Hass auf Israel geprägt, zumal viele RAF-Mitglieder in Camps von antisemitischen palästinensischen Gruppen ausgebildet wurden. Ulrike Meinhof gar begrüßte das palästinensische Attentat 1972 auf israelische Olympia-Sportler und war überzeugt, das „deutsche Volk“ als Kollektiv treffe keine Schuld am Nationalsozialismus: „Ohne dass wir das deutsche Volk vom Faschismus freisprechen […] können wir es nicht für unseren revolutionären Kampf mobilisieren.“ Anders als andere RAF-Experten, etwa Stefan Aust, sieht Wolfgang Kraushaar eine latente, aber vorhandene Prägung des Linksterrorismus durch Antizionismus und Antisemitismus.

Im letzten Teil seines Buchs befasst sich Kraushaar mit dem Gebäudekomplex des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim und dessen Zukunft. Er plädiert für einen Abriss des Hauptgebäudes, in dem die RAF-Häftlinge untergebracht waren, um es nicht zu einer Kultstätte werden zu lassen, und favorisiert dagegen einen musealen Ausstellungsbereich in dem Gebäude, das 1975 eigens für die RAF-Gerichtsverhandlung gebaut worden war. (Mittlerweile haben sich diese Überlegungen erledigt und der Haupttrakt bleibt erhalten; es fehlen schlicht Gefängnisplätze in Baden-Württemberg.)

Kraushaars Buch, in dem der Autor Kernpunkte früherer Publikationen aufgreift und im Kontext neu bewertet, besticht durch eine Fülle gut aufbereiteter Informationen und überzeugt insbesondere durch die gekonnte Verschränkung von politologischen, historiografischen und soziologischen Analysen mit fraglos erhellenden Ergebnissen. Erfreulicherweise wird hier nicht zum x-ten Mal die RAF-Geschichte mit Ausflügen in aufklärungsbedürftige Themenbereiche referiert, auch Kenner der Geschichte des Linksterrorismus können das Buch mit Gewinn lesen. Selbstverständlich sind auch mit Kraushaars Buch nicht alle „blinden Flecken“ benannt und die zugrunde liegenden Vorkommnisse analytisch aufgearbeitet. Weitere Bücher mit diesem Anspruch werden hoffentlich folgen – auch das ist Teil des Mythos um die RAF und zugleich ein Beitrag zu dessen Dekonstruktion.

Titelbild

Wolfgang Kraushaar: Die blinden Flecken der RAF.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017.
423 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783608981407

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch