Vietnam – Kanada nonstop

In Kim Thúys Roman „Die vielen Namen der Liebe“ geht es wieder einmal um Flucht, Familie und die Konfrontation von Ost und West

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der aktuellen Fluchtliteratur oder auch der transkulturellen Literatur – um den unpassenden Begriff der Migrationsliteratur zu vermeiden – stellen die Romane der vietnamesisch-kanadischen Autorin Kim Thúy zweifellos etwas Besonderes dar. Im Mittelpunkt steht stets eine autobiografisch inspirierte Protagonistin, die sich an ihre Fluchterfahrungen von Vietnam nach Kanada erinnert, die unterschiedlichen Lebensweisen in beiden Ländern miteinander konfrontiert und von Familie und nicht zuletzt von Liebe erzählt. Es ist vor allem Thúys bildstarke, eindringliche und stets liebevolle Beschreibung von Details, die ihren Texten eine poetische Aura verleiht. Auch die formale Gestaltung zeichnet sich durch den eigentümlichen Kim Thúy-Stil aus: Es sind kurze kapitelartige Texte, die keine Überschriften tragen, aber mit einem vietnamesischen, in Rot gedruckten Begriff seitlich des Texts und manchmal auch mit dessen wörtlicher und sinnhafter Übersetzung ins Deutsche versehen sind.

Thúys neuer Roman Die vielen Namen der Liebe, der im französischsprachigen Original den schlichten Titel und Namen der Protagonistin Vi trägt (und hier fragt man sich, warum die deutsche Übersetzung einen so kitschigen Titel hat), berichtet aus Vis Perspektive von der Flucht mit ihrer Mutter und ihren Brüdern aus Vietnam, über ein Flüchtlingslager in Malaysia nach Kanada. Als die nordvietnamesischen Kommunisten 1975 als Sieger aus dem Vietnamkrieg hervorgingen, ergriffen viele Vietnamesen – später als Boatpeople bezeichnet – die Flucht, denn Besitzenden drohte die Enteignung, Intellektuellen das Lager und Männern, die ihre Haare so lang trugen wie die Kapitalisten galten als aufmüpfig – ein Grund für Inhaftierung.

Vi erzählt von der Liebe und ihren unterschiedlichen Ausprägungen, die sie zwischen Vietnam und Kanada kennenlernt. Sechs Varianten hat das Wort „lieben“ bereits auf Vietnamesisch: „[B]is zum Wahnsinn lieben, lieben bis man Wurzeln schlägt wie ein Baum, rauschhaft lieben, bis zur Bewusstlosigkeit, bis zur Erschöpfung, bis zur Selbstaufgabe lieben.“ Vi berichtet, wie sich ihre Großeltern noch während der französischen Kolonialherrschaft  – es sind die schmalen anmutigen Finger der Großmutter, die den Großvater bezaubern – auf dem schwimmenden Markt an einem der Arme des Mekong begegneten und wie schließlich ihre Eltern zusammenfanden – dank eines von der Mutter aufgebrühten Kaffees:

Überrascht von dem besonderen, samtigen Geschmack des Kaffees, schaute er meine Mutter an. Sie verriet ihm das Geheimnis, indem sie ihm eine unförmige kleine Kugel mit Kaffeebohnen darin zeigte, wie sie in der Gegend der Plantagen von Buôn Mê Thuộ gesammelt werden. Diese Kugeln sind der Kot der wilden Zibetkatze, die reife Kaffeekirschen fressen und die Bohnen nach der Verdauung vollständig ausscheiden. Da die Kulis kein Recht auf die Früchte hatten, die sie auf Rechnung der Grundbesitzer pflückten, nutzen sie die Bohnen aus diesen Exkrementen, die sich als köstlicher und vor allem seltener als die normal geernteten erwiesen.

Wird der Kaffee hier also zum Auslöser für die Begegnung von Vis Eltern, so demonstriert der Prozess der Zubereitung auch eine geschickte Aneignung der eigentlich verbotenen Früchte durch die Arbeiter mit dem Resultat eines wohlschmeckenderen Kaffees und der darauffolgenden Appropriation durch Nicht-Arbeiter, wie die Zubereitung in der durchaus wohlhabenden Familie von Vis Mutter zeigt.

Bereits in ihrem Roman Der Geschmack der Sehnsucht hat Thúy, die auch als Gastronomin und Gastrokritikerin für Radio und Fernsehen gearbeitet hat, der Zubereitung und dem Genuss von kulinarischen Spezialitäten eine poetische und symbolische Dimension verliehen. Das Essen ausgewählter Speisen kann bestimmte Erinnerungen auslösen, spezifische Essverhalten können sogar Machtgefälle widerspiegeln und hybride Gerichte scheinen geradezu eine Brücke zwischen Ost und West zu schlagen. In Die vielen Namen der Liebe lernt man dann auch einiges über kulinarische Spezialitäten und Bräuche, unter anderem, dass Glutamat während des Krieges eine wertvolle Zutat war, die sich leider auch Jahrzehnte später in den mobilen vietnamesischen Garküchen aus lauter Gewohnheit erhalten hat. 

Die Unterschiede zwischen Ost und West beschäftigen Thúy und ihre Protagonistinnen. Immer wieder ziehen sie Vergleiche zwischen dem Osten, nämlich Vietnam, und dem Westen, Kanada. So heißt es zum Beispiel in Die vielen Namen der Liebe: „Im Gegensatz zur westlichen Kultur, die den Ausdruck von Gefühlen und Meinungen fördert, hüten Vietnamesen diese eifersüchtig oder äußern sie nur mit größter Zurückhaltung, denn dieser innere Raum ist der einzige Ort, der anderen nicht zugänglich ist. Der Rest, von Schulnoten über den Schlaf bis zum Gehalt, ist öffentlich, auch die Liebe.“

Ihre große Liebe trifft Vi schließlich in Vietnam, als sie als erwachsene Frau zum ersten Mal in die Heimat zurückkehrt. Doch genau an dieser Stelle rutscht der Roman in eine leicht kitschige Liebesgeschichte ab. Und selbst die Tatsache, dass Vincent verreist und einfach nicht mehr wiederkehrt, rettet den Schluss des Romans nicht: Das Ende ist schleppend und wirkt wie ein überflüssiger Annex.

Thúys drei ins Deutsche übersetzte Romane könnten fast eine Trilogie sein, thematisch, stilistisch und formal stimmen sie überein. Wer in Die vielen Namen der Liebe etwas Neues sucht, wird enttäuscht werden: Kim Thúy bleibt ihren Themen und ihrem Stil treu.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Kim Thúy: Die vielen Namen der Liebe. Roman.
Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Alvermann und Brigitte Große.
Verlag Antje Kunstmann, München 2017.
139 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783956141683

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