Irrgarten und Zauberwald

In charakteristischer Weise verknüpft die russische Dichterin Marina Zwetajewa Begriffe, Farben und Klänge zu verblüffenden Assoziationsketten

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Auftakt einer auf vier Bände veranschlagten Werkausgabe der russischen Schriftstellerin Marina Zwetajewa beginnt mit einer kleinen Sensation. Erstmals in deutscher Übersetzung liegen jetzt unter dem Titel Unsre Zeit ist die Kürze die „Unveröffentlichten Schreibhefte“ vor, in gewohnt umsichtiger Weise von Felix Philipp Ingold herausgegeben, übersetzt und mit weiterführenden Anmerkungen versehen.

Marina Zwetajewa (1892‑1941) gehört neben Anna Achmatowa (1889‑1966) zu den bedeutendsten russischen Schriftstellern im 20. Jahrhundert. Zugleich spiegelt ihr Lebenslauf die verheerende Dramatik ihrer Heimat wider. Bereits als Kind bürgerlicher Eltern – ihr Vater war Professor für Kunstgeschichte und Gründer des heutigen Puschkin-Museums in Moskau, die Mutter eine verhinderte Pianistin – hatte sie Europa kennengelernt. Es folgten eine frühe Heirat mit dem zaristischen Offizier Sergej Efron, der erste Gedichtband Abendalbum (1910), Revolution und Bürgerkrieg, Exil sowie eine mörderische Rückkehr in die Sowjetunion im Jahr 1939.

Die sich in den 1930er-Jahren abzeichnende Heimkehr in die Sowjetunion veranlasste Zwetajewa dazu, ihr Archiv zu ordnen. In vier Heften sammelte sie verstreute Notizen aus den 1920er- und 1930er-Jahren, die sie zum Teil noch im Nachhinein ergänzte oder kommentierte. Somit ist ein anregender Textkorpus entstanden, der in Briefe, Dialoge, Medaillons, Protokolle, Selbstbezichtigungen und Zurückweisungen unterteilt ist.

Es liegen keine manieristischen Selbstbespiegelungen vor, die sich im eitlen Wohlgefallen erschöpfen. Vielmehr beeindrucken die steten Versuche einer Vergewisserung über sich selbst angesichts der jähen existentiellen Abgründe, die uns unaufhörlich umgeben. Zwetajewas Temperament lässt sie zuweilen sich selbst ins Wort fallen und erspart ihr keine Tabus. Ihre weibliche Identität erlegte ihr ebenso eine immer wiederkehrende Herausforderung auf, wie ein grauer Alltag, der aus Kochen und Waschen besteht.

Überraschende Pointen ihrer Tochter Ariadna (Alja) und ihres Sohnes Georgij, den sie in Anlehnung an den deutschen Romantiker E.T.A. Hoffmann „Murr“ nannte, werden ebenso mitgeteilt, wie quälende Reflexionen zu Erwartungen über das eigene Leben. Dabei geht Zwetajewas Schreiben über eine lediglich genaue Darstellung des Erlebten weit hinaus. Einer ihrer Gedanken ermöglicht Aufschlüsse über ihre Schreibkonzeption:

Unsinnig, eine bereits existierende Sache ‚im Text‘ zu wiederholen (ein zweites Mal wiederzugeben). Eine Brücke zu beschreiben, auf der man steht. Man muss selbst zur Brücke werden, oder die Brücke wird zu einem selbst, man muss sich identifizieren oder man muss identifizieren. Immer – in Übertragung reden. Eine Sache sagen (darbieten) – und nicht etwa beschreiben.

Immer wieder widmet sich Zwetajewa dem Zusammenhang zwischen der Liebe und dem Schmerz. Ein geradezu mythomanisches Ringen um die richtig gesetzten Worte bezüglich letztlich unsagbarer Gefühle erinnert an Jakobs intensiven Kampf mit dem Engel am Fluss Jabbok im Alten Testament. Von „Seelenlieben“ ist dann die Rede, oder auch von „seelischen Leidenschaften“. In einer Notiz schreibt sie: „Gäbe es die Seele nicht, der Körper empfände keinen Schmerz. Für Freude mag er genügen“.

Es werden Korrespondenzen überliefert, die nicht frei von erotischen Anflügen sind. Bei aller Leidenschaft, zu der sich Zwetajewa durchaus hinreißen ließ, hatte sie sich ihrem selbst auferlegten Zweck des Schreibens als Lebensbewältigung unterworfen. Wichtig waren ihr der Austausch mit verehrten Dichtern wie Rainer Maria Rilke und Boris Pasternak oder auch etwa mit Alexander Puschkin, von dem sie Traumbegegnungen berichtet.

Zwetajewas Schicksal stand unter keinem guten Stern. Nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion waren ihr alle Wege verbaut. Eine Zeitlang konnte sie sich mit Übersetzungen über Wasser halten, die ihr Boris Pasternak vermittelt hatte. Der offizielle Schriftstellerverband und offiziöse Schriftsteller wie Alexander Fadejew rührten keinen Finger für sie. In auswegloser Situation nahm sich Zwetajewa am 31. August 1941 in Jelabuga/Tatarstan das Leben. Mit den Abschiedszeilen dieses Tages an ihren geliebten Sohn „Murr“, in denen sie von einer „Sackgasse“ spricht, endet dieser so bedrückende wie eindrucksvolle Band der „Unveröffentlichten Schreibhefte“.

Wie zu Lebzeiten Zwetajewas werden im heutigen Russland wieder die zahlreichen Feinde von außen sowie die Nestbeschmutzer und Verräter im Inneren des Landes dämonisiert. Der tragische Verlauf Zwetajewas Lebens führt hingegen anschaulich vor Augen, dass es die Tschekisten und ihre angepassten Mitläufer sind, die die Zerstörung Russlands und seiner einzigartigen Kultur zu verantworten haben.

Titelbild

Marina Zwetajewa: Unsre Zeit ist die Kürze. Unveröffentlichte Schreibhefte.
Herausgegeben und aus dem Russischen und Französischen übersetzt von Felix Philipp Ingold.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
319 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427682

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