Zurück in die Zukunft

Über die gar nicht so neuartige Musikalität des neo-afrikanischen frankophonen Romans

Von Thorsten SchüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schüller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Dank an Teresa Cordero Villar für inspirierende Gespräche

Nachdem der 2013 erschienene Roman Tram 83 des in Österreich lebenden und lehrenden Kongolesen Fiston Mwanza Mujila in der frankophonen Literaturwelt bereits für Aufruhr sorgte, ging ab Sommer 2016 nach Erscheinen der deutschsprachigen Übersetzung auch ein Raunen durch die hiesigen Feuilletons, durch TV- und Radio-Kultursendungen – etwas ganz Neuartiges sei hier entstanden, so der Tenor der Kritiker. Im Sommer 2017 machte der in Frankreich mehrfach preisgekrönte Roman wieder von sich reden, als den Übersetzerinnen ins Deutsche, Katharina Meyer und Lena Müller, völlig zu Recht der Internationale Literaturpreis für übersetzte Gegenwartsliteraturen verliehen wurde. Eine Hauptherausforderung für die Übersetzerinnen dürfte es gewesen sein, die immer wieder angesprochene Musikalität des französischen Originals in die rhythmisch völlig anders funktionierende deutsche Sprache zu überführen.

Das vorgebliche Innovationspotential einer solchen immer noch als ‚anders‘ wahrgenommenen neo-afrikanischen Literatur kann als Ausgangspunkt für Reflexionen über Literatur im Allgemeinen dienen, dabei insbesondere über das Verhältnis von Musik und Text. Der Vergleich zeigt einmal mehr, wie sehr auch europäische, oder ‚westliche‘ Literaturen im Spiegel des afrikanischen Schreibens ihre Charakteristika offenbaren. Denn so ‚neu‘ und ‚anders‘ ist das nicht, was uns die afrikanische Literatur – häufig in der Diaspora geschrieben – präsentiert. Die meisten breit rezipierten Autoren afrikanischer Herkunft leben und schreiben ohnehin in Europa oder Nordamerika, weswegen in der Folge der Hilfsbegriff ‚neo-afrikanisch‘ gebraucht werden soll (dieser soll ganz bewusst mit Bindestrich gebildet werden, um sich vom Konzept des Neoafrikanischen von Janheinz Jahn abzugrenzen, der diesen Begriff in den 1960er Jahren zur Beschreibung der damaligen afrikanischen Kulturszene gebrauchte).

Die Erfahrungen der Migration, der Diaspora oder des Exils führen wenig überraschend in den Texten zu einer Ausweitung der Referenzrahmen; Schriftsteller profitieren von neuen Eindrücken und Einflüssen. Neo-afrikanische Autoren nutzen die lebensweltliche Erfahrung der Globalisierung für ihre Roman-Ästhetik aus, in der ein binäres ‚Schwarz-Weiß-Denken‘ und auch postkoloniales Engagement keinen Platz mehr finden. Der in den USA lehrende Franko-Kongolese Alain Mabanckou (2015 – 2016 immerhin Mitglied des Collège de France und somit ein Teil der französischen intellektuellen Elite) zitiert in seinen Romanen Comics und Popmusik, aber auch afrikanische Fabeln oder James Baldwin; der in Paris lebende franko-senegalesische Filmemacher und Autor Mamadou Mahmoud N’Dongo verarbeitet unter anderem in einem seiner Texte Goethes „Erlkönig“ – dies nur willkürlich gewählte Beispiele für eine Ästhetik des anything goes im zeitgenössischen afrikanischen Diaspora-Roman.

Tram 83 – ein musikalischer Kneipenroman

In den Besprechungen von Fiston Mwanza Mujilas Tram 83 wird immer wieder eine innovative Originalität des Textes hervorgehoben. Doch was macht den Roman so besonders? Eine kohärente Handlung ist nicht auszumachen: Zwei Freunde – einer ein windiger und krimineller Geschäftsmann, der andere ein grübelnder Schriftsteller – leben in einer fiktiven Stadt, die Kinshasa sehr ähnelt, und treffen sich regelmäßig im Tram 83, einer Mischung aus Bar, Bistro und Bordell. Die knapp 200 Seiten des Romans widmen sich der dort herrschenden Kakophonie aus Stimmen und Musik. Einem impressionistischen Gemälde gleich steht die Form über dem Inhalt; durch die Reproduktion der einzelnen akustischen Eindrücke versucht Mujila die Atmosphäre einer solchen Bar einzufangen. Gesellschaftliche Probleme wie Prostitution, Kriminalität und das harte Leben der Minenarbeiter schwingen nur implizit mit; die Rezensentin der Neuen Zürcher Zeitung hätte sich gerade für den Problembereich der Prostitution eine explizitere und engagierte Behandlung gewünscht. Die literarische Programmatik Mujilas ist allerdings eine andere.

Statt eine semantisch nachvollziehbare Handlung zu inszenieren, schafft er einen Resonanzraum, der es dem Leser – wie dem Hörer eines musikalischen Instrumentalstücks – erlaubt, selbst einen Sinn im Text zu entdecken. Tram 83 steht damit in der noch jungen Tradition der ‚musikalischen Kneipenromane‘, die ein Gesellschaftsbild abbilden, indem sie ungeordnete Stimmen und Musik als gemeinschaftsstiftende Elemente begreifen. Alain Mabanckou kann mit seinem Erfolgsroman Verre cassé (2005) als Vorreiter des Genres angesehen werden; Ausdruck der literarischen Wahlverwandtschaft zu Mujila ist sein freundschaftlich-wohlwollendes Vorwort zu Tram 83, in dem auch der Bezug zur Musikalität nicht fehlt.

Mabanckou selbst hat mit seinem Projekt Black Bazar die Nähe seiner Literatur zur Musik ausgedrückt. Dem Roman, der in großen Teilen in einer Pariser Bar spielt, wo der Protagonist die bezeichnenderweise als B-Seiten beschriebenen Hinterteile der weiblichen Gäste und Passantinnen begutachtet, folgt nämlich eine musikalische Ausarbeitung. Das gleichnamige Musikalbum und die Aufführungen dazu vertonen adaptierte Textversionen in einem stilistischen Mix aus Afro-Beat, Hip Hop und kongolesischer Rumba.

Den deutschsprachigen Feuilletonisten fällt diese Nähe zur Musik natürlich gleich auf, wenn es um Mujilas Roman geht. Laut Norbert Mappes-Niediek (Frankfurter Rundschau) handelt es sich im Falle von Tram 83 um ein neues Genre, um eine polyphone Literatur, die sich als Musik versteht. In keiner Rezension fehlt der Hinweis auf den Rhythmus, den „Drive“, der jazzartigen Schreibweise des Romans. Angela Schader von der NZZ, eine ausgewiesene Kennerin des afrikanischen Schreibens, sieht in dieser musikalischen Schreibweise gar eine Demontage des afrikanischen Romans.

Popliteratur in Afrika

Ein Paradigmenwechsel in der afrikanischen Romanliteratur lässt sich indes schon länger beobachten. Zudem lassen sich die Neuerungen leicht mit Jahrhunderte alten Traditionen afrikanischer Kunst verbinden. Seit den 1990er Jahren betreten AutorInnen die literarische Bühne, deren Texte sich durch eine ‚neue Leichtigkeit’ auszeichnen: In Texten von Abdourahman A. Waberi, Mamadou Mahmoud N’Dongo, Kossi Efoui, Kangni Alem, Tierno Monénembo oder Sami Tchak beispielsweise wird häufig eine urbane, von Jugendkultur geprägte Gegenwart inszeniert. Die literaturgeschichtlich relativ kurze Phase des modernen engagierten Romans scheint vorüber zu sein. Zwar sind politische Themen in manchen Fällen noch immer virulent und ist in einigen Fällen noch immer ein literarisches Engagement auszumachen, doch ist dieses Engagement in eine Roman-Szenographie eingebettet, die sich durch besagte Ausweitung der Bezugsrahmen und eine Fokussierung auf das Private auszeichnet – die Plattensammlungen der Romanfiguren sind dabei ein immer wiederkehrendes Merkmal zur Charakterisierung der Figuren und dem Schaffen von Atmosphäre.

Dabei wird die explizite Auseinandersetzung mit der ehemaligen Kolonialsituation oder mit politischen Problemen der Postkolonie durch das Integrieren global zirkulierender Populärkultur überwunden. Dies macht sich auch in den Vermarktungsstrategien der Verlage bemerkbar: Der Roman Remington (2012) von Mamadou Mahmoud N’Dongo über einen in Paris lebenden Musik-Kritiker wird von Gallimard mit einer auffallenden Banderole versehen, auf der in großen Lettern – typographisch viel größer als der eigentliche Titel – ein „Roman Rock“ angekündigt wird.

Es sind nicht ausschließlich jüngere AutorInnen, deren Texte sich durch eine Inszenierung des Alltags auszeichnen: Im 1999 erschienenen Roman Trop de soleil tue l’amour von Mongo Beti (dt. Sonne Liebe Tod, 2000), einem Doyen der frankophonen afrikanischen Literaturen, zum Beispiel nimmt neben einer Schilderung schwieriger afrikanischer Realitäten auch die große CD-Sammlung des Protagonisten breiten Raum ein. Die häufige Evozierung der mehr als 100 Jazz-CDs und die Betrachtung von Einzeltiteln werden zwar symbolisch verknüpft mit ‚ernsten’ Themen, doch wird dadurch auch, in Verbindung mit dem Freizeitverhalten des Protagonisten, eine Atmosphäre des Alltags hergestellt. Zudem lehnt sich der Roman an Stereotype des populären Genres des Kriminalromans an. Dies erstaunt, weil Mongo Beti mit Romanen wie Le pauvre Christ de Bomba (1976, dt. Der arme Christ von Bomba, 2. Auflage 1995) oder Perpétué et l’habitude du malheur (1974, dt. Perpétué und die Gewöhnung ans Unglück, 1980) Paradebeispiele einer engagierten ‚ernsten‘ afrikanischen Literatur ablieferte.

Implizit schwingt natürlich doch ein verstecktes Engagement mit, wenn Autoren sich von westlicher Hochkultur ab- und zu globaler Populärkultur hinwenden. Abdourahman A. Waberis Erzählung „Petits morceaux pour lecteurs debout“ aus seinem Band Rift Routes Rails (2001) mag dies illustrieren. In diesem Text, der sinnigerweise wie eine Schallplatte in „Face A“ und „Face B“ unterteilt sowie durch mehrere „plages“ (Songs) strukturiert ist, berichtet ein junger Reggae-Musiker von seinen Einflüssen, nennt eine ganze Reihe von Künstlern (Bob Marley, Steel Pulse, Lucky Dube und viele andere) und betont: „Et jamais [nous] ne chanterions l’Oratorio de Noël de J.-S. Bach“. Diese dezidierte Ablehnung von Bachs Weihnachts-Oratorium, dem populäre ‚schwarze‘ Musik entgegengesetzt wird, lässt sich als engagiertes Statement lesen. Dass die zitierten schwarzen Musiker von drei Kontinenten stammen (Bob Marley war Jamaikaner, Steel Pulse ist eine englische Band und Lucky Dube war Südafrikaner), illustriert zudem das weltweite Zirkulieren ‚schwarzer‘ Kultur.

Der Sinn im Populären

Das offensichtlichste Auftauchen populärkultureller Elemente in zeitge­nössischen afrikanischen Texten ist das reine Zitieren von Musiktiteln, Filmen oder Comic-Helden im Sinne einer Einzelreferenz. Irina Rajewski unterscheidet in ihrem Standardwerk Intermedialität (2002) bekanntlich zwischen einer Einzelreferenz und einer Systemreferenz. Als Einzelreferenz bezeichnet sie das reine Zitieren eines Werks, das aus einem anderen Medium stammt. Wenn in literarischen Texten Opern, Lieder oder Werktitel zitiert werden, erhält der Text freilich auch eine andere Ebene, weil der Leser im besten Falle die genannten Bezüge kennt und diese bei der Lektüre ‚mitschwingen‘. Einen Schritt weiter aber geht die Systemreferenz: Der Text nimmt formale Eigenarten des anderen Mediums auf und versucht, wie in unserem Falle, zu Musik zu werden.  

Ein Bündel von – nicht nur musikalischen – Einzelreferenzen aus der Populärkultur kann dabei eine Alltagsatmosphäre erschaffen, die es zugleich ermöglicht, einen Roman mentalitätsgeschichtlich zu positionieren und die auftretenden Figuren zu charakterisieren. Die Identität der Figuren konstituiert sich folglich durch den alltäglichen Konsum von Unterhaltungskultur.

Der Roman Cinéma (1997, dt. Cinema 1999) von Tierno Monénembo, dessen Handlung in Guinea kurz vor der Unabhängigkeit angesiedelt ist, kann beispielhaft stehen für literarisierten Alltag, der aus Populärkultur gespeist wird. In diesem Roman tritt das Musikalische zurück und macht Platz für das gesprochene Wort, ob aus Film oder Fernsehen. Auch mit weniger musikalischen Einflüssen kann ein Roman also polyphon werden und zur Performanz einladen. Alle Handlungen finden auf der Folie von Westernfilmen statt; die Filme liefern Identifi­kationsmomente für die im Roman auftretenden Jugendlichen, die sich Handlungsstereotype spielerisch aneignen. Die Hauptfiguren des Romans geben sich die Namen von Westernhelden und richten ihre Aktionen an den Kino-Vorbildern aus. Im lebendigen Treiben einer Großstadt, in der sich die politischen Umbrüche der Unabhängigkeit ankündigen, leben die jugendlichen Protagonisten in einer von bewegten Bildern beeinflussten Parallelwelt. Die im Kino oder vor dem Bildschirm rezipierten Bilderwelten werden in das alltägliche Leben integriert; man unterhält sich über Fußball, über SchauspielerInnen und über Episoden von Fernsehserien; die Figuren übernehmen die Sprache und Stereotype aus Western- und Kriminalfilmen; immer wieder werden Markennamen genannt, wird die Vorliebe für US-amerikanische Zigaretten betont und werden Songtitel zitiert; Vergleichs­momente zur Bewältigung von Alltagsproblemen werden aus Filmen herangezogen – um nur wenige Beispiele zu nennen.

Das Integrieren von Konsum und Popkultur ist dabei nicht beliebig. Die Vorliebe der Figuren für Western und andere populärkulturelle Diskurse Nordamerikas literarisiert eine allgemeine Begeisterung für die USA. Da der Inhalt des Romans gegen Ende der 1950er Jahre angesiedelt ist, lässt sich daraus eine atmosphärische Umbruchsstimmung herauslesen. Zusätzlich zur freudig ausgelebten USA-Begeisterung begrüßen die Figuren, dass sich die lang­jährige Vorherrschaft französischer Marken und Konsumgüter dem Ende neigt. Somit wird durch die Ansammlung von Einzelreferenzen die Binarität des postkolonialen Verhältnisses aufgebrochen.

Die Thematisierung von Populär- und Alltagskultur transportiert also geschichtliches Wissen. Im Sinne einer literarisierten Mentalitätsgeschichte erfährt der Leser, wie sich die Unabhängigkeitsbestrebungen im alltäglichen und privaten Leben einiger Jugendlicher widerspiegeln. Die Geschichts­schreibung des Romans stellt sich dabei im wahrsten Wortsinne als eine Historiographie ‚von unten’ heraus. Die Perspektive der Jugendlichen und die Fokussierung auf scheinbar banale Alltagsphänomene kontrastieren dabei mit der ‚offiziellen’ Historiographie oder auch mit einem historischen Roman wie Ahmadou Kouroumas En attendant le vote des bêtes sauvages (1998, dt. Die Nächte des großen Jägers, 2002), in dem ein Panorama gesamtafrikanischer Geschichte im 20. Jahrhundert mit Hilfe von Diktatorenbiographien erstellt wird – und nicht anhand zitierter Musik-, Film- oder Comictitel.

An dieser Stelle wird eine Besonderheit der afrikanischen Form von Popliteratur deutlich. Das Integrieren alltags- und populärkultureller Ele­mente impliziert im afrikanischen Kontext mehr als nur den komplizen­haften Versuch seitens des Autors/der Autorin, Identifikationsmomente mit einer gleich­altrigen Leserschaft zu erschaffen, eine Strategie, die man europäischen Popliteraten unterstellen könnte. In zahlreichen jüngeren afrika­nischen Romanen französischer Sprache wird das Zitieren von Populär­kultur ganz im Gegensatz dazu mit bedeutenden Problemen wie Migra­tionsschicksalen oder weltgeschichtlichen Ereignissen wie der Unab­hängigkeit oder dem Ende des Kalten Krieges konfrontiert.

In dieser Perspektive transportiert in Sami Tchaks Place des fêtes (2001) die ständige Nennung von Songtiteln und Künstlern stets eine Aussage. Vor allem die Anspielungen auf die franko-tunesische Sängerin Lââm sind bedeutungsvoll: Der Roman inszeniert die Sängerin als Symbolfigur, die es, obwohl aus einem Immigrantenumfeld stammend, in Frankreich ‚geschafft hat’.

Kangni Alems Cola Cola Jazz (2002) ist ein weiteres Beispiel für das häufige bedeutungstragende Zitieren von Popmusik. Kangni Alem beschreibt unter anderem den Aufenthalt der Protagonistin in einem Hotel, in dem sich zahlreiche Durchreisende aufhalten, die lautstark ihre Lieblingspophits spielen, um damit andere Hotelgäste zu übertönen. Die Nennung der Lieder drückt dabei die Entwurzelung der Reisenden aus und ihren Versuch, eine virtuelle Heimat im Sinne einer Heimatprothese zu inszenieren. Als Heimatprothese bezeichnet Immacolata Amodeo in ihrem Buch Die Heimat heißt Babylon (1996) symbolische Erinnerungen an die verlassene Heimat, indem die „Heimat in der Fremde“ simuliert wird. Ein Popsong kann folglich Ausdruck einer Identität sein.

Das Motiv des Jazz

Von allen Musikformen, die in afrikanischen Texten literarisiert werden, ist der Jazz sicherlich die beständigste, auch im vorgeblich neuartigen Roman Mujilas ist die Musik John Coltranes omnipräsent. Das Zitieren von Jazztiteln erweist sich allerdings bereits seit Jahrzehnten als sinnstiftend. Von den frühen Gedichten des senegalesischen Académie française-Mitglieds Léopold Sédar Senghors (z.B. „Joal“, „À New York“) über Novellen des Kongolesen Emmanuel Dongala (Jazz et vin de palme) bis zu den Texten Kangni Alems (Togo, vor allem Cola Cola Jazz) wird seit Jahrzehnten immer wieder motivisch auf Jazz rekurriert. Dabei lässt sich in den jüngeren popliterarischen Texten ein Wandel im Umgang mit Jazz entdecken. Dieser wird verständlich, wenn man einen Blick auf ältere Literarisierungen des Jazz wirft.

In frühen Texten transportiert das Nennen der Musikform oft ein Engagement, das zum einen an die konfliktreiche Geschichte Afrikas, dabei vor allem den Sklavenhandel, erinnert, und das zum anderen ein afrikanisches Emanzipationsbestreben unterstützt. Jazz ist in dieser Pers­pektive eine aus Afrika stammende, deterritorialisierte Kunstform, die sich vor allem in den USA mit anderen Musikformen (wie der Marschmusik) vermischt, die zu einem Sinnbild schwarzer Diaspora avanciert und die Fähigkeit ‚schwarzer’ Kultur illustriert, sich zu neuen hybriden Formen zu entwickeln und andere Kulturen zu beeinflussen. In Senghors Gedicht „À New York“ (mit dem Untertitel „pour un orchestre de jazz: solo de trompette“) aus dem Band Éthiopiques wird beispiels­weise eine vom New Yorker Stadtteil Harlem ausgehende neue Welt­ordnung imaginiert, die sich wie der Jazz aus ‚schwarzer’ Kultur speist.

In anderen Texten erinnert die Nennung des Jazz an ‚schwarze’ Diaspora- und Exil-Erfahrungen und ist mit Schmerz- und Verlustbeschreibungen verbunden. Eine Zeile des Gedichts „Joal“ aus dem Gedichtband Chants d’ombres (1945, dt. Schattengesänge in Botschaft und Anruf 2006) illustriert dies allein durch die Wortwahl: „Ma tête rythmant/Quelle marche lasse le long des jours d’Europe où parfois/Apparaît un jazz orphelin qui sanglote sanglote sanglote“ (“und es klopft mein Kopf/Seinen müden Marsch die Tage Europas entlang wo manchmal/Ein verwaister Jazz auftaucht und schluchzt und schluchzt und schluchzt…“). Das lyrische Ich flaniert in diesem Gedicht durch die als feindlich und kalt empfundenen Straßen der französischen Hauptstadt, erinnert sich an das idyllische afrikanische Dorf seiner Kindheit und imaginiert Jazzmusik. Worte wie „orphelin“ und „sangloter“ bebildern dabei Trauer und Verlust. Bis heute finden sich musikalische Adaptionen von Senghors Gedichten, bis heute touren griots durch die ganze Welt, deklamieren oder singen Senghors Texte und tragen dem Performanzgedanken des Senghor’schen Schreibens Rechnung.

In neueren Texten verliert der Jazz seine Konnotationen der Trauer. Wird ungefähr 50 Jahre später Jazz-Musik in Kangni Alems Cola Cola Jazz (2002) erwähnt, dann ist diese in Wortfelder eingebettet, die positiv konnotiert sind. Kangni Alems Roman verarbeitet vor allem die von Duke Ellington 1971 eingespielte Togo Brava Suite, die der US-amerikanische Komponist und Bandleader dem Land Togo widmete. Abdourahman A. Waberis kurzer Artikel über Kangni Alems Cola Cola Jazz in Le Monde diplomatique ist überschrieben mit „Sur un rythme de jazz au Togo“ (ungefähr: „im Rhythmus des Jazz in Togo“). Diese Gleichsetzungen von formaler Romanästhetik und Strukturen des Jazz sind sicherlich schwer zu beweisen, wichtiger sind aber ohnehin die inhaltlichen Implikationen, die mit der Evozierung des Jazz einhergehen. Die Togo Brava Suite verleiht nicht nur der fiktiven quirligen Stadt der Romanhandlungen (TiBrava) ihren Namen. Wird in Cola Cola Jazz die Togo Brava Suite in die Romanhandlung integriert, dann wird ausgelassen zu ihr getanzt.

Die Hinwendung zur Jazz-Musik in ihrem positiven Aspekt hat für viele jüngere AutorInnen einen programmatischen Charakter. Die so genannten „Kinder der Postkolonie“ sehen sowohl in Exil- und Diaspora-Erfahrungen als auch der Entwicklung der Jazzmusik positives Potential. Jazz hat seine Wurzeln in Afrika (bzw. wurde von Afrikanern in der Diaspora erfunden) und gilt als ‚schwarze’ Musik. Dennoch findet er seine größte Ausbreitung durch US-amerikanische Interpretinnen und Interpreten und wird zu einem westlichen Kunst-Diskurs. Dieser deterritorialisierte Charakter des ‚schwarzen’ Jazz, der sich in westlichen Kunstdiskur­sen weiter entwickelt, gibt der Musikform einen Symbolgehalt, der in neueren Texten dezidiert positiv gedeutet wird. Zwar transportiert auch Senghors Jazz-Lyrik stets eine Hoffnung, doch sind Wortwahl und thematisches Umfeld der Anspielungen auf Jazz weit davon entfernt, Leich­tigkeit auszudrücken.

Musikalisches Schreiben?

Dass Literatur über die Papierseiten hinausgeht, ist nichts Neues. Schon immer gab es Schreibexperimente, die sich als musikalisch verstanden: von griechischen Rhapsoden über afrikanische Oralliteraturen hin zu Experimenten der europäischen Moderne- und Avantgarde-Strömungen (man denke hier an Tristan Tzaras Simultangedichte oder an Alfred Döblins Versuch, großstädtische Polyphonie unter anderem durch Rhythmus und Klang auszudrücken). In jüngerer Zeit ist eine wahre Mode der intermedialen Literatur entstanden. Poetry slams und Songtexte werden längst als künstlerische Artefakte wahrgenommen, die es mit ‚klassischer‘ Literatur aufnehmen können – und ein Singer-Songwriter, der von seiner Arbeit behauptet, die gedruckte und nicht ‚performte‘ Version eines Songtextes sei defizitär, kann den Literatur-Nobelpreis erhalten.

Der oben erwähnte Roman Tram 83 entfaltet seine künstlerischen Qualitäten gleichfalls erst im Vortrag von Mujila, der wahrlich zum Schauspieler wird. Wie zahlreiche Mitschnitte seiner Lesungen auf youtube dokumentieren, ist es seine Vortragsweise, sein Schreien, sein Flüstern, sein Deklamieren, sein Gestikulieren, kurz seine Performanz, die den Text komplettiert und aus der geschriebenen Version eine Art Partitur macht.

Doch wie schreibt man eigentlich musikalisch? Einzelreferenzen auf Jazz-Titel – vor allem Hinweise auf John Coltrane – finden sich nicht nur in Tram 83 zuhauf. Somit schreibt sich der Roman in die oben besprochene Tradition schwarzafrikanischen Schreibens ein und unterstreicht die sozio-historische Symbolik des Jazz. Aber allein John Coltrane zu nennen, macht den Text noch lange nicht ‚jazzy‘ im Sinne einer Systemreferenz. Dies wird durch andere Techniken erreicht: Die geschriebene Version von Tram 83 wartet mit zahlreichen Wortwiederholungen und unvermittelt auftauchenden Leitmotiven auf. Die immer wieder eingestreute Frage nach der Uhrzeit, die keiner konkreten Romanfigur zuzuordnen ist, lässt sich als eine Art Refrain begreifen. Dass dieses refrainartige Leitmotiv ohne semantischen Wert sehr unregelmäßig auftaucht, kann man als Referenz an typische Synkopen in vielen Jazz-Stilen deuten. Tram 83 ist also ein Roman, der semantische Kohärenz vermeidet, um mit Formen und Ausdrucksmöglichkeiten zu spielen. Trotz allem: Ein Text bleibt immer ein Text, da ihm das Zeichensystem des Performativen fehlt; die eigentliche Musikalität entsteht durch Stimme und Aufführung des laut Vortragenden. 

Wie oben erwähnt ist diese Strategie vor allem in afrikanischen Literaturen nicht neu. Beeinflusst von der langen Tradition des gesungenen und deklamierten Wortes können einige modernere Formen als Fortführen des ‚Alten‘ angesehen werden. Als poetry slammer avant la lettre kann der Südafrikaner Lesego Rampolokeng angeführt werden, im Bereich des Theaters die westafrikanischen concert parties, in denen die Trennung von Bühne und Publikum aufgehoben wird – und in der Jetztzeit eben ein Roman wie Fiston Mwanza Mujilas Tram 83.

Die concert party, eine bis heute populäre Art Volksoper, bei der Musiker zugleich Schauspieler sind und mit dem Publikum interagieren, ist ein besonderes Beispiel dafür, dass afrikanische Kulturen zwar oft als ‚exotisch‘ wahrgenommen werden, dass es ähnliche Phänomene aber auch in Europa gab oder gibt. Der im Bayreuther Exil lebende togolesische Dramaturg und Schriftsteller Sénouvo Zinsou verkörpert mit seinem Schaffen diese Nähe. Die schriftlich fixierten Theaterstücke werden sowohl in Europa als auch in Westafrika mit Gesang und Trommeln dargeboten, das Publikum klatscht und singt und ruft dazwischen. Dies ist zum Beispiel mittelalterlichen europäischen Literaturen nicht unähnlich. Dass Zinsou auch wichtige Novellen schrieb, die von einem Stil der Mündlichkeit geprägt sind und sich als Weiterentwicklung des Theatralischen begreifen lassen, ist eine weitere Parallele zu europäischen Literaturentwicklungen.

Musikalität in europäischen Literaturen

Perfomative Kunst, die unter Umständen das Publikum mit einbezieht, findet sich in der mittelalterlichen Literatur der jongleurs, der Farce oder der commedia dell‘arte. Geschichten wurden auf der Straße und auf Marktplätzen dargeboten, was man den schriftlichen Zeugnissen mit ihren Publikumsadressen, Exklamationen und ihrer Rhythmisierung deutlich anmerkt. Literaten waren oft auch Schauspieler und Sänger; sie verstanden sich als namenlose und improvisierende Medien, die im Dienste einer meist stereotypen Geschichte stehen. Auch in der Gattung der Novelle, vom Novellino über Bocaccio bis zu Marguerite de Navarre, die mediengeschichtlich eine Etappe zur Schriftlichkeit und Autorschaft darstellt, sind im Schriftlichen Spuren des Performativen auszumachen. Andere Jahrhunderte und Gattungen zeichnen sich gleichfalls durch eine Nähe zur Musik aus. Die Komparatistin Immacolata Amodeo spricht im Zusammenhang mit italienischer Literatur oder Literatur, die sich Italien widmet, gar vom „Opernhaften“ als Charakteristikum, um nur ein Beispiel zu nennen. Dabei werden nicht nur Bezüge zur mittelalterlichen Spektakel-Kultur hergestellt, das Opernhafte lässt sich laut Amodeo bis weit ins 20. Jahrhundert verfolgen.    

Neu ist diese Strategie, musikalisch zu schreiben, also weder in afrikanischen noch in europäischen Literaturen. Populärkulturelle Einzelreferenzen erfuhren in den letzten Jahrzehnten einen Boom; für die französische Literatur mag Virginie Despentes dafür exemplarisch stehen. Die erhöhte Aufmerksamkeit, die HipHop-Texten oder Slammern entgegengebracht wird, zeigt gleichfalls die Wahlverwandtschaft von Literatur und Musik. Die traditionell eher konservative Literaturszene Frankreichs öffnet sich immer neugieriger den Texten eines HipHoppers wie Kery James oder des Slammers Grand Corps Malade.

Der staunende Blick auf vorgeblich andere Literaturen extrapoliert nur den Blick auf das eigene, gewohnte Schreiben und Lesen; die Neuartigkeit und Originalität liegt eher in der Wahrnehmung der Rezipienten. Die ‚neue Leichtigkeit’ der afrikanischen Literaturen lässt sich nicht nur als Ausdruck einer Popliteratur, sondern auch als Kennzeichen einer weltweiten postmo­dernen Literatur im Sinne Leslie Fiedlers lesen. „Schluss mit dem Gejammer, es ist höchste Zeit fürs Sakrileg!“, so seine program­matische Forderung. Als nachzuahmendes Bei­spiel führt er den Detektivroman J’irai cracher sur vos tombes (1946) von Boris Vian an, der mit diesem Text die Lücke zwischen belles-lettres und pop art schließe, in seinen Texten Bezug auf Jazz-Stars nehme und der neben seiner schriftstellerischen Arbeit Verfasser von Popsongs und Jazztrompeter war. Die Charakteristika, die Fiedler aus Vians Texten herausarbeitet – die An­klänge an Detektivgeschichten und das Nutzbarmachen des Jazz als Binde­glied zwischen Hoch- und Populärkultur, die Annäherung an die Verei­nigten Staaten als Generator einer postmodernen Kultur –, sind Elemente, die aus zeitgenössischen afrikanischen Literaturen vertraut scheinen.

Für den Forscher afrikanischer Literaturen ist die Musikalität des geschriebenen Wortes und die Annäherung von E- und U-Kultur ein alter Hut: Die Zukunft lag in Afrika.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Fiston Mwanza Mujila: Tram 83. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Katharina Meyer und Lena Mülle.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016.
207 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783552057975

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