Trauer, Lerchen und ein roter Koffer

Yasmina Rezas „Babylon“

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein typischer Reza sei Rezas neuer Roman Babylon, da ist sich die Kritik weitgehend einig. Weniger einig ist man sich darüber, ob das eine gute Sache sei oder eher eine nicht so gute. Letzteres findet ganz offensichtlich Tilman Krause in der Welt, der Reza gleich im Titel auffordert, mal „die Masche zu wechseln“. Es fragt sich aber, was genau die Botschaft dieses charmanten Appells sein soll? Gewiss würde es einem nicht einfallen, Erfolgsautor*innen von Krimireihen oder anderen seriell angelegten Buchproduktionen zuzurufen, sie sollten doch mal die Masche wechseln. Insofern ließe sich Krauses Appell als Aussage über Rezas künstlerisches Potential deuten, das sie scheinbar nur unvollständig ausnutzt.

Ob sich Reza allerdings aufgrund solcher Kritiken zu größeren ‚Leistungen‘ wird bewegen lassen, steht zu bezweifeln. Zumal sie selbst bereitwillig zugibt, immer um dieselben Themen zu kreisen, immer dieselben Phänomene zu behandeln. Und zu diesen zählt keineswegs nur die Inszenierung der Zerbrechlichkeit ‚bürgerlicher‘ Ordnung, wie häufig zu lesen ist, sondern der Mensch als Teil der ‚Landschaft‘, des „paysage“. Dass darunter im Falle Rezas nicht primär Naturlandschaften, sondern vielmehr ‚Interieurs‘ zu verstehen sind, liegt auf der Hand, ändert aber nichts an der Bedeutung, die Szenerien für die Autorin haben. Wobei Szenerie das falsche Wort sein mag, erweckt es doch allzu sehr den Eindruck einer stereotypen Kulisse für vorhersehbare Abläufe und Konnotationen, auf die Reza zwar naturgemäß zurückgreifen muss, auf die sie ihre ‚Landschaften‘ aber gerade nicht reduziert.

Ein Treppenhaus mit Aufzug in einem mehrstöckigen Mietshaus eines (nicht prekären) Pariser Vorortes, „Deuil-l’Alouette“ (bereits der Name ist reinste Poesie und wurde von den Übersetzern verständlicherweise nicht übertragen, ist doch „Trauer-die-Lerche“ im Deutschen kaum als Ortsname vorstellbar) – dies dürfte wohl das Interieur sein, das dem Leser von Babylon am nachhaltigsten in Erinnerung bleibt. Und zwar nicht nur, weil es zum Schauplatz unerhörter Ereignisse wird, sondern weil es diese Ereignisse und ihre Protagonisten mit der den Dingen eigenen ‚Stoik‘ trägt und erträgt.

Denn es braucht schon eine gewisse Stoik, wenn man Elisabeth, die Ich-Erzählerin des Romans, dabei beobachtet, wie sie in Kunstfell-Pantoffeln und einem aus Hello Kitty-Oberteil und karierter Flanellhose bestehenden Schlafanzug bekleidet, ihrem Nachbarn Jean-Lino von ‚obendrüber‘ dabei hilft, eine Leiche wegzuschaffen, die die beiden in einem großen roten Koffer verstaut haben, den Elisabeth dafür aus dem Keller befördert hat und mit dem die beiden jetzt, ganz unauffällig, das Haus verlassen wollen. Ein verwegener Plan, der natürlich nicht gelingt, handelt es sich bei Elisabeth und Jean-Lino doch um keine Profi-Kriminellen, sondern um ‚ganz gewöhnliche‘ Menschen Anfang 60, sie Patent-Ingenieurin, er pensionierter Elektrohändler, der gerade seine Frau Lydie umgebracht hat. Warum? Nun ja, der Roman gibt gewisse Hinweise, da ist z.B. Rémi, der Sohn von Lydies Tochter aus erster Ehe, um den sich Jean-Lino wie um einen eigenen Enkel kümmert, was an seiner Außenseiterstellung in der Familie jedoch nichts ändert. Eine Außenseiterstellung, die Jean-Lino wohl auch ein wenig mit in die Wiege gelegt ist, aus einer traurigen Kindheit erinnert er nur den Psalm „An den Wassern zu Babylon saßen wir und weineten, wenn wir an Zion gedachten“, ‚Verse‘, die ihm sein Vater, ein aus Italien emigrierter Jude, vorlas und die er nie wirklich begriff, die ihm aber als Bild von grollendem Wasser und gegeneinanderschlagenden Ästen in Erinnerung blieben. Auch hier sind es also ‚Landschaften‘, die zusammenhalten, was schon lange haltlos geworden ist und es ist Jean-Linos Einheit mit der ‚Landschaft‘, seine Art, diese in sich zu tragen, ohne sich zu wehren, die Elisabeth so an ihm schätzt.

Was diese Einheit mit der Landschaft meint, erläutert der Roman nicht, führt es aber vor, indem er uns Elisabeths Weltsicht nachvollziehen lässt, die zugleich liebevoll und völlig unsentimental ist. Wir alle landen irgendwann vielleicht nicht im Koffer, aber doch im Sarg, und das relativiert so einiges. Das Mobiliar, so ließe sich sagen, ist beständiger als wir. Und deshalb kann man es für verrückt halten, wenn sich Elisabeth nach Jean-Linos Verhaftung unbedingt um dessen Blumen kümmern möchte und mit einem anderen Nachbarn eine komplizierte Gießvorrichtung konstruiert, die das Gießen auch ohne Betreten der polizeilich gesicherten Wohnung ermöglicht, man kann darin aber, nach Lektüre von Babylon, auch eine Form von ‚Weisheit‘ erkennen. Jedenfalls aber sind es solche Details, die Rezas Kunst ausmachen und die sie von dem unterscheiden, was in Babylon „soziologische Fingerübung“ genannt wird.

Was nicht heißt, dass Reza solche Übungen nicht beherrschte: Mühelos gelingt es ihr, die „feinen Unterschiede“ zu markieren, die Jean-Lino und Lydie „soziologisch“ von Elisabeths Umfeld trennen, in das die beiden anlässlich eines „Frühlingsfests“ eingelassen werden müssen, da sie Elisabeth ihre zur Ausrichtung des Fests nötigen Klappstühle zur Verfügung stellen. Und dass die Beschreibung einer Party und ihrer Gäste ohnehin eine ideale Bühne für Rezas lächelnd-entlarvenden Umgang mit bürgerlichem Publikum darstellt, braucht kaum erwähnt zu werden. Mit unnachahmlicher Nonchalance lässt sie ihre Figuren über Bio-Huhn und nicht mehr vorhandene, auch gar nicht vermisste linke Weltansichten ‚diskutieren‘, ohne diese Fragen je zum reinen Klischee verkommen zu lassen.

Denn in der kleinen Partygesellschaft wird das Öffentliche sozusagen privat, Lydies Empathie für das Bio-Huhn zum Anlass für Jean-Lino, seine Frau vor versammelter Gesellschaft bloßzustellen. Nicht etwa, weil er kein Herz für Tiere besäße, sein (nur Italienisch verstehender) Kater Eduardo ist ihm fast das wichtigste auf der Welt, sondern weil Lydies militanter Tierschutz-Diskurs geradezu dazu einlädt, ihr Inkonsequenz vorzuwerfen. Und so verstärkt ihre Empathie mit dem Huhn nachträglich jede ihrer Unachtsamkeiten gegenüber Jean-Lino, nach einer dieser schrägen Aufrechnungen, die Partnerschaften von außen betrachtet bisweilen so kurios erscheinen lassen. Was folgt, verlässt dann aber sowohl den Boden des Psychologischen als auch des Soziologischen: Es ist die Stunde des roten Koffers und des Treppenhauses mit Aufzug in „Deuil-l’Alouette“…

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Yasmina Reza: Babylon. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel.
Hanser Berlin, Berlin 2017.
219 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256514

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