Der guatemaltekische Bürgerkrieg und dessen Wucherungen in der Gegenwart
„Die Rache der Mercedes Lima“ von Arnoldo Gálvez Juárez fragt nach den Möglichkeiten des Lebensentwurfes inmitten des Bürgerkrieges und erzählt von der Sehnsucht, die Wahrheit ans Licht zu bringen
Von Jana Fuchs
Arnoldo Gálvez Juárez aus Guatemala hat mit Die Rache der Mercedes Lima (spanischer Originaltitel: La otra fuente (2015)) einen Roman über das Begehren nach Wahrheit jener Menschen geschrieben, die den Bürgerkrieg im eigenen Land – in diesem Fall Guatemala – zwar selbst nicht miterlebten, aber in ihrem Alltag immer wieder mit den Täuschungen und Ungereimtheiten, die aus dieser Zeit hervorgehen, konfrontiert werden. Ab der ersten Seite entwickelt der Text einen ganz erstaunlichen Sog, der bis zum Ende anhält, da die beiden Zeitebenen, die 90er Jahre des guatemaltekischen Bürgerkrieges und die Gegenwart, so gekonnt ineinander verwoben werden, dass die Untrennbarkeit der Gegenwart mit der Vergangenheit den Lesern eindrücklich vor Augen geführt wird.
Obwohl der Autor nicht selbst den Bürgerkrieg in Guatemala miterlebte, ist es ihm gelungen, sich unter anderem mittels zweier Bücher und eines Gesprächs mit dem Historiker Otto Argueta in diese Zeit zu versetzen und eine authentische Sichtweise auf jene besondere politische und gesellschaftliche Situation zu erzeugen. Sogar jene Leser, die bisher kaum etwas über die genauen Umstände des Bürgerkrieges in Guatemala wussten, werden aus ihrer Örtlich- und Zeitlichkeit gelöst und in die Gegenwart bzw. die 90er Jahre Guatemalas versetzt; einer Zeit, in der täglich Menschen im Bürgerkrieg spurlos verschwinden und nur selten, tot oder lebendig, wiedergefunden werden. Gálvez Juárez vermag es außerdem, uns derart in seine Geschichte hineinzuziehen, dass wir uns selbst als der Protagonist Alberto auf die Suche nach den Gründen für die Ermordung des Geschichtsprofessors Daniel Rodríguez Mena, dem Vater Albertos, zu begeben scheinen.
Die Erzählperspektive verharrt jedoch nicht beim erwachsenen Alberto, der die Vergangenheit zu greifen versucht, indem er die anziehende Frau mit den langen schwarzen Haaren, Mercedes Lima, heimlich fotografiert. Es wird ebenfalls aus der Perspektive des kleinen Alberto erzählt, der von seinen Erinnerungen an seinen Vater kurz vor dessen Ermordung erzählt. Letzterer hatte eben jene junge Frau, die der erwachsene Alberto nun mit seiner Kamera verfolgt, schwanger bei sich aufgenommen und war nur kurz darauf ermordet worden. Da Gálvez Juárez jedoch nicht nur die kindliche und die erwachsene Perspektive Albertos einnimmt, sondern ebenfalls Passagen einstreut, die den Leser über Fakten aufklären, von denen wir glauben, dass Alberto noch nichts in Erfahrung gebracht hat, wird ein Effekt evoziert, den man als Ungleichzeitigkeit des Wissens bezeichnen könnte. Durch diese Technik gelingt es Gálvez Juárez, dass wir Leser manchmal mehr zu wissen scheinen als Alberto, mal weniger. Wir wollen ihm das gewonnene Wissen zurufen, nur um kurz darauf zu entdecken, dass er es ist, der an neue Informationen gekommen ist und also doch wir von seinen Entdeckungen abhängig sind.
Wer jedoch ebenfalls nur über die Entdeckungen und Schilderungen Albertos Stück für Stück zu erfahren scheint, was es mit Mercedes Lima, der Frau mit den langen, glänzenden schwarzen Haaren, auf sich hat, ist Albertos Bruder Daniel, der in Europa lebt und an dessen Leben Alberto nur mittels geposteter Fotos auf Facebook teilnimmt. An diesen und nicht an uns ist die Erzählung nämlich eigentlich gerichtet: „Findest du es nicht seltsam Daniel, dass wir uns nie gemeinsam an diese Dinge erinnert haben? Dass wir niemals in diesen zwanzig Jahren über unseren Vater geredet haben, über seine Ermordung?“ So wie Alberto es nicht begreifen kann, dass sich sein Bruder seiner eigenen Geschichte und den Ereignissen in seinem Land entzogen hat, so konnte ihr Vater nicht begreifen, wie er selbst in einer Zeit und einem Land, in dem alles nach Handlung schrie, untätig bleiben konnte: „Sie müssen handeln, Ihre bürgerliche Bequemlichkeit abschütteln, aufhören, nur Zuschauer zu sein. Tun Sie endlich was, Herr Dozent!“, sagte ihm eine junge Frau mit schönem schwarzem Haar, die nicht ohne Grund enorme Ähnlichkeiten mit Mercedes Lima aufweist. Das einzige, was er tat, war jedoch seine eigene Lust zu befriedigen, indem er – von der Schönheit und Tatenkraft dieser Frau angezogen – mit ihr schlief.
Nachdem in der Zeitung ein Foto eben jener jungen Frau auftaucht, das sie ermordet mit anderen Widerstandskämpfern zeigt, lässt ihn der Satz der jungen Frau nicht mehr los. Wie ein Mantra scheint sich die Aufforderung der jungen Widerstandskämpferin immer und immer wieder in ihm zu wiederholen, so dass er letztlich ihrer Aufforderung, nicht in Untätigkeit zu verharren, sondern eine Position einzunehmen und sich zur schwindelnden Welt zu verhalten, nachkommt. Nicht nur für den Geschichtsdozenten wird dieser Satz zum Leitmotiv, sondern er schreibt sich auch in den gesamten Roman ein, wodurch implizit dem Gedanken Sartres Ausdruck verliehen wird, dass die menschliche Realität in der Lage sei, sich von dem Gegebenen zu lösen und andere Möglichkeiten, die wir bisher nicht in unseren Lebensentwurf integriert hatten, zu verwirklichen. Daniels Versuch, die schwangere Mercedes Lima bei sich aufzunehmen, ist ein solcher Versuch: Nachdem er sich zunächst passiv in die Umstände eingefügt hatte, versuchte er nun einen neuen Entwurf seiner Selbst zu realisieren und die eigene „bürgerliche Bequemlichkeit“ abzuschütteln.
Mit Alberto begeben wir uns also – meist durch die Linse seiner Kamera beobachtend – auf die Suche nach der Wahrheit über den Tod seines Vaters, der im Bürgerkrieg ermordet wurde und den Alberto das letzte Mal sieht, als er neben seiner Frau, Albertos Mutter, steht, die gerade das blutverschmierte Hemd ihres Mannes zu waschen versucht. Um den tatsächlichen Begebenheiten rund um die Ermordung seines Vaters näher zu kommen, müssen wir Mercedes Lima folgen, ihr in immer größeren, mutigeren Aufnahmen nachstellen, nur um schließlich von ihr entdeckt zu werden. Doch da innerhalb der Fiktion von Gálvez Juárez Entdeckung Begegnung bedeutet, kommen wir Mercedes Lima letztlich so nah, dass wir sie sogar mit Alberto an die Wand drücken, unsere/seine Hände um ihren Hals schlingen, um die vergangene Wirklichkeit aus ihr herauszupressen.
Auf welch’ enge Weise Alberto durch die Begegnung mit Mercedes Lima mit den Leidenschaften, Ängsten und dem am Ende doch mutigen Aufbegehren seines Vaters verbunden wurde, wird jedoch nicht Alberto selbst bewusst, sondern seinem Bruder, der plötzlich aus seiner Abwesenheit auftaucht. Und so ist es dann nicht Alberto selbst, sondern er, der letztlich den betörenden Schleier von Mercedes Lima hebt und darunter deren Rachegelüste, die Wirklichkeit, findet. Für Alberto bleibt die Wahrheit jedoch zunächst verschlossen, da sich seine eigenen Empfindungen für die einstige Geliebte seines Vaters vor die Wirklichkeit schieben: “Das ist nicht wahr! Mercedes würde mir so etwas nie antun. Mercedes liebt mich und ich liebe sie.“
“Me fui acercando, despacio, sin pensarlo, como si estuviese ella misma, su cuerpo, atrayéndome en contra de mi voluntad.“ schreibt Gálvez Juárez. „Ich näherte mich Mercedes Lima langsam, ohne nachzudenken, als wäre es sie selbst, ihr Körper, der mich gegen meinen Willen zu ihr zog.“ übersetzt Lutz Kliche. So wie sich Alberto der geheimnisvollen Frau mit den langen und glänzenden schwarzen Haaren nicht entziehen kann, so können wir uns dem Sog der Geschichte nicht entziehen. Und zwar unabhängig davon, in welcher Sprache uns der Text präsentiert wird: „atrayéndome“ oder „ihr Körper, der mich gegen meinen Willen zu ihr zog“. Es bleibt das, was es ist: ein faszinierender Roman, der uns die Bedeutung des guatemaltekischen Bürgerkriegs nicht nur verdeutlicht, sondern durchleben lässt. Wenn sich Sartre durch das Schreiben eine Existenz gegeben hat, dann hat Gálvez Juárez’ Roman die Leidenschaften für Mercedes Lima als auch den Bürgerkrieg in Guatemala für uns in wirkliches Sein verwandelt.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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