Vom Mädchen, das ein Junge werden sollte

Mit „Wer fürchtet den Tod“ ist ein zweiter Roman von Nnedi Okorafor, der Meisterin des Afrofuturismus, ins Deutsche übersetzt worden

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch eine Rape-Revenge-Story? Das klingt langweilig. Gibt es doch schon Tausende oder zumindest Hunderte davon. In den DVD-Abteilungen der einschlägigen Märkte ebenso wie in den Regalreihen der Buchhandlungen. Warum also eine weitere? Weil diese eine ganz anders ist als alle bisherigen und sie aus der Masse hervorsticht wie nur wenige sonst.

Sie trägt den Titel Wer fürchtet den Tod und wurde von Nnedi Okorafor verfasst, von der nach Lagune nun der zweite Roman in deutscher Übersetzung vorliegt. Die amerikanische Originalausgabe ist allerdings bereits 2010 und somit vier Jahre vor derjenigen Lagunes erschienen. Drei Dinge haben beide Werke gemeinsam: Sie sind dem Genre des Afrofuturismus zuzuordnen, sie handeln in Afrika und sie sind gleichermaßen originell. Nun, vielleicht sind es sogar vier Gemeinsamkeiten, denn in beiden Romanen versteht es die Autorin, von Beginn an das Interesse der Lesenden zu wecken.

Anders als in Lagune beschränkt sich der Handlungsraum diesmal nicht auf eine einzige, reale und bis ins Detail beschriebene Stadt, sondern erstreckt sich über ein größeres Gebiet und bleibt relativ vage. Sicher ist nur, dass er irgendwo in Afrika liegt, wobei es zahlreiche Anhaltspunkte dafür gibt, dass er sich auf West- und Zentralafrika einschränken lässt. So werden etwa die Speisen Fufu, Egusi- und Pfeffersuppe erwähnt, der Zauber Juju, der nur in dieser Region wachsende Irokobaum oder ein Spiel, das seinen Namen mit dem einer nigerianischen Stadt teilt. Auf den Südosten Nigerias deutet zudem der aus dem Igbo stammende Begriff „Ifunanya“ hin, der im Roman ebenfalls fällt. Auch wird wiederholt Ani angerufen, eine Alushi und die wichtigste Göttin im Pantheon der Igbo-Mystik. Die Maskerade der Feuerspuckerin „kponyungo“ wiederum verweist auf das im Grenzgebiet von Burkina Faso, Mali und der Elfenbeinküste angesiedelte Volk der Senufo, dem die Mutter der Protagonistin entstammen könnte. Zu der Annahme, das Geschehen spiele sich in dieser Region ab, scheint allerdings die sich über den gesamten Handlungsraum erstreckende Wüste mit ihren Kamelen nicht so recht zu passen. Aber offenbar hat sich das Klima grundlegend verändert, es herrscht allgegenwärtige Dürre und die Sahara hat sich nach Süden hin ausgebreitet. Möglicherweise sind sogar die Ozeane ausgetrocknet, oder zumindest geschrumpft.

Auch die Zeit, in welcher der Roman spielt, lässt sich nicht genau fassen. Der Beruf des Schmiedes etwa ist ebenso selbstverständlich wie die Verwendung von Laserskalpellen. Die maroden PCs, Schusswaffen und die Motorroller lassen vermuten, dass die Handlung in einer nicht allzu fernen Zukunft angesiedelt ist. Andererseits sind Tiger schon seit Jahrzehnten ausgestorben, und vor allem gibt es die beiden Ethnien der Nuru und der Okeke, die sich kaum in sonderlich kurzer Zeit entwickelt haben können. Letztere besitzen „dunkelbraune Haut, breite Nasen, dicke Lippen und dichtes schwarzes Haar wie Schafwolle“, während die Haut der Nuru von „gelbbrauner“ Farbe ist und ihre schwarzen Haare sich „wie eine gut gestriegelte Mähne eines Pferdes“ anfühlen. Möglicherweise stammen die Okeke also von Schwarzafrikanern und die Nuru von arabischen Völkern ab. Dazu würde auch passen, dass die Okeke dem Volksglauben zufolge vor den Nuru da waren, letztere also aus dem Norden eingefallen sein könnten.

So steht es auch im offenbar recht alten ‚Großen Buch’, das einen Ursprungsmythos bietet und von einer in mythische Form gekleideten Apokalypse berichtet. Die Hautfarbe und Herkunft der Nuru wird dort jedoch anders erklärt: „Sie kamen von den Sternen, deshalb hatte ihre Haut die Farbe der Sonne.“ Auch wird in der heiligen Schrift berichtet, „dass die Okeke dazu bestimmt waren, die Sklaven der Nuru zu sein“. Hierin ließe sich ebenfalls ein Hinweis auf die beiden vermuteten Abstammungen finden, pflegten arabische Völker doch über Jahrtausende hinweg SchwarzafrikanerInnen zu versklaven, wofür sie spätestens seit dem 11. Jahrhundert rassistische Begründungen heranzogen. Das Große Buch der Nuru und Okeke wiederum rechtfertigt die Versklavung letzterer damit, dass sie sich „während der altafrikanischen Ära“ etwas Entsetzliches zu Schulden kommen ließen, sodass Ani ihnen diese „Bürde“ auferlegte. Man könnte fast meinen, ein Nuru habe es verfasst. Onyesonwu jedenfalls, die Protagonistin des Romans, glaubt nicht an Ani, die Göttin des Großen Buches, sondern hält sie für nichts weiter als eine „machtlose, menschliche Erfindung“. Dafür aber begegnet sie dem „Schöpfer“.

Mag der Roman nun in einer fernen oder nicht so fernen Zukunft spielen, so kann man doch sicher sein, dass er von einer Parallelwelt handelt, da zum weiteren Setting übernatürliche Fähigkeiten zählen, die in geringer Ausprägung keineswegs sonderlich außergewöhnlich sind, da viele Menschen kleinere Zaubertricks beherrschen. Wirklich mächtige ZaubererInnen aber sind höchst selten und fast ausschließlich männlichen Geschlechts, denn die Meisterzauberer weigern sich, Frauen auszubilden.

Neben Okeke und Nuru gibt es noch die sogenannten Ewu und Noah. Während Noah „aus einer verbotenen Liebe zwischen einem Nuru und einer Okeke hervorgehen“ und „ohne Farbe“ zur Welt kommen, werden Ewu während der Vergewaltigung einer Okekefrau durch einen Nuru gezeugt. Ein Verbrechen, das sehr häufig begangen wird, da Nuru gezielt Okeke-Frauen vergewaltigen, um Kinder zu zeugen. Denn einerseits wird eine Okeke „niemals ein Kind töten, das in ihr heranwächst“, andererseits „aber gilt ein Kind traditionell als das Kind des Vaters“, sodass die Mutter einer Ewu für immer an den Vater gebunden ist. Im Grunde geht es bei diesen Vergewaltigungen darum, „Okeke-Familien an der Wurzel auszumerzen“. Es lässt sich also sagen, dass die Nuru Vergewaltigungen als Instrument des Völkermords einsetzen.

Ewu sind leicht an ihrem Aussehen zu erkennen. Ihre Haut hat „die Farbe des Sands“ und sie bekommen zahlreiche Sommersprossen. Damit gleichen sie weder Okeke noch Nuru, sondern sehen eher wie „Wüstengeister“ aus. Von den Okeke werden sie gefürchtet, denn es heißt, dass sie irgendwann gewalttätig werden würden, da sie mit Gewalt gezeugt wurden. Eine solche Ewu ist Onyesonwu, Protagonistin und Ich-Erzählerin der Geschichte, deren Name zugleich den Titel des Buches stiftet, denn er bedeutet nichts anderes als Wer fürchtet den Tod. Onye, wie sie genannt wird, diktiert ihre Geschichte einem stummen Zuhörer in den PC. Dass dies nicht immer chronologisch geschieht und ihre Erzählung gelegentlich durch Erinnerungen ihrer Mutter unterbrochen wird, die sie wiederum Onye erzählt, sorgt für zusätzliche Spannungsbögen. So hebt die Erzählung der zwanzigjährigen Ich-Erzählerin damit an, wie ihr Vater vor vier Jahren starb. Dies ist der Tag,  an dem sie zu einem anderen, wie sie sagt, „weniger menschlichen“ Wesen wurde, und an dem „alles, was später geschah“, anfing. Erst danach erzählt sie, wie sie ihn kennen lernte, und es stellt sich heraus, dass nicht von ihrem leiblichen, sondern von ihrem sozialen Vater die Rede ist. Denn ihre Mutter wurde nach der Vergewaltigung durch einen mächtigen Nuru-Zauberer, der einen Sohn zeugen wollte, als ‚entehrte Frauʹ von ihrem Ehemann verstoßen, lebte lange Jahre in der Wüste und schlug sich zu einem kleinen Ort im Osten durch. Ihre Tochter Onye ist nicht nur eine Ewu, sondern auch eine Eshu, denn sie kann jedes Tier werden, das sie einmal berührt hat. Dabei nimmt sie nicht nur dessen Gestalt an, sondern auch dessen Wahrnehmungsfähigkeiten, Empfinden, Fühlen und wohl auch Wesen, ohne allerdings ihre Identität als Onyesonwu zu verlieren.

Seit dem gemeinsam durchlittenen „Ritual des Elften Jahres“ ist sie mit ihren drei Freundinnen Luyu, Diti und Binta verbunden, die denkbar unterschiedlichen Charakters sind. Da in Rezensionen eines solchen, nicht zuletzt spannenden Buches vermieden werden sollte zu spoilern, sei hier nur noch verraten, dass es Onye gelingt, sich zur Zauberin ausbilden zu lassen und sie sich daraufhin gemeinsam mit ihren Freundinnen, dem geheimnisvollen und „so gut aussehenden“ Heiler Mwita, sowie einem weiteren jungen Mann auf die beschwerliche und gefahrvolle Reise nach Westen begibt, um ihren leiblichen Vater zu töten. Nicht alle werden diese Reise beenden und nicht alle werden sie überleben.

Auch das klingt nicht besonders originell. Ist es aber. Entscheidend hierfür ist nicht nur – wie stets – wie, sondern auch was erzählt wird. Denn schließlich gilt es, diesen relativ schlichten Plot mit Inhalt zu füllen. Aber auch über ihn sei hier nicht allzu viel verraten. Vielleicht, dass die jungen Frauen und Männer dabei allerlei Begegnungen haben, sich mit einem Kamel anfreunden, einen Ort betreten, in dem die Menschen mit Blindheit geschlagen sind, und in einen Sandsturm geraten, in dem das Rote Volk lebt. Wichtiger aber noch als das, was geschieht, ist, wovon der Roman handelt. Denn das kann noch mal etwas ganz anderes sein. So handelt Wer fürchtet den Tod vor allem davon, wie Menschen zu dem werden, was sie sind, wenngleich, wie es einmal heißt, nur letzteres „zählt“. Außerdem handelt er von Vergewaltigungen, weiblicher Genitalverstümmelung, Kindesmissbrauch, misogynen Strukturen und individueller Frauenfeindlichkeit, von Promiskuität und von Eifersucht, von traditionellen Geschlechterrollen und der Diskriminierung von Minderheiten, von gelingender und scheiternder Emanzipation und schließlich davon, dass Opfer keinesfalls wehrlos oder passiv sind. Aber er handelt auch von Partner- und Freundschaften, die, wie man weiß, keineswegs immer spannungsfrei verlaufen. Auch so etwas wie eine ideale Gesellschaft kommt vor. Zudem zeigt er, dass sich nicht nur Zauberinnen heldenhaft verhalten können, denn gerade eine Frau, die nicht über die geringsten magischen Fähigkeiten verfügt, erweist sich als besonders selbstbestimmt und mutig, ohne allerdings fehlerfrei oder gar vollkommen zu sein. Das ist keine der Figuren, auch keine der Identifikationsfiguren, zu denen allen voran Onye zählt.

Rape-Revenge-Storys sind nicht nur zahlreich, wie zu Beginn erwähnt, sondern haben ebenso wie Krimi, Western oder Science-Fiktion ein eigenes Genre mit bestimmten Konventionen herausgebildet. Ebenso wie manche Erzeugnisse dieser Genres ist auch mancher Rape-Revenge-Roman der Lektüre wert. Und das gilt erst recht für diejenigen des Afrofuturismus. Ob dies aber der Fall ist, hängt neben anderen Faktoren wie etwa der Fertigkeit der jeweiligen AutorIn insbesondere davon ab, ob und wie die Genre-Konventionen unterlaufen und neue Perspektiven eröffnet werden. Dem Roman Wer fürchtet den Tod gelingt dies auf überaus unterhaltsame Weise, denn nicht nur Onye, auch die Autorin hat magische Kräfte, sie zaubert die Lesenden in eine fantastische Welt.

Postskriptum: Serien-Junkies seien noch darauf hingewiesen, dass HBO eine Adaptation des Romans plant, die kein geringerer als George R. R. Martin produzieren soll.

Titelbild

Nnedi Okorafor: Wer fürchtet den Tod.
Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Kern.
Cross Cult Verlag, Asperg 2017.
512 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783959811866

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