Kühn erzählt?

Gerhard Falkner schickt in seinem Roman „Romeo oder Julia“ einen Schriftseller auf Lesereise und konfrontiert ihn mit sich selbst

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein „ungewöhnlich seltsamer Vorfall“ steht am Anfang von Gerhard Falkners Roman Romeo oder Julia. In das Hotelzimmer des Autors Kurt Prinzhorn wird eingebrochen. Allerdings werden neben einem Schlüsselbund keine Wertgegenstände gestohlen. Stattdessen hat der ungebetene Gast ein Schaumbad genommen und in der Wanne lange, schwarze Haare zurückgelassen. Damit liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine Einbrecherin handelt, deren Beweggründe nicht ökonomischer Natur sind. Die Autorinnen und Autoren, die sich in Innsbruck zu einem Kongress treffen und unter denen sich das Ereignis schnell herumspricht, diskutieren die für den Leser offensichtlichen Implikationen der Tat: Einerseits fasziniert die sexuelle Konnotation des Badens, andererseits die Entwendung der Schlüssel, die einen Zugang zu intimen Bereichen im Leben des Autors ermöglichen. Auf beides wäre der Leser selbst gekommen, nur Prinzhorn will noch nicht einsehen, dass die Spur zur Täterin nur über die eigene Vergangenheit auszumachen ist.

Auch auf den weiteren Stationen seiner Reise – Moskau und Madrid – kommt es zu ungewöhnlichen Vorfällen. Der Roman spielt mit verschiedenen Versatzstücken des Kriminalromans, wobei der Autor Falkner ein Netz aus Andeutungen auswirft und zugleich den Eindruck zu erwecken sucht, dass die Bemühungen Prinzhorns um die Aufklärung gering sind. Dem widerspricht die zunehmende Verunsicherung seines Ich-Erzählers, die Falkner minutiös beschreibt. Mit der „Kamera in seinem Kopf“ sucht er seine Umgebung bei Spaziergängen durch die Städte ab. Das Gefühl der Bedrohung, das in Zeiten von Terroranschlägen in großen europäischen Städten bei dem einen oder anderen aufkommen mag, nimmt Kurt Prinzhorn in Besitz. Sicherheit bieten auch seine Hotelzimmer nicht, ungewöhnliche Geräusche nehmen ihm den Schlaf, und so streift er statt durch seine Erinnerungen ruhelos durch die nächtliche Stadt. Dabei wird er immer wieder von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt, etwa wenn für ihn an der Rezeption seines Hotels in Madrid eine von ihm selbst entworfene Postkarte mit einer „Einladung zum Orgasmusfrühstück“ hinterlegt wird. Welche Empfängerin dieser provokativen Karte ihn verfolgt, erahnt er nicht und so irrt er weiter schlaflos durch die Stadt. So viel zum zentralen Handlungsstrang des Romans, denn Falkner will mehr als ein Psychogramm seiner Hauptfigur zeichnen. 

Eine weitere Facette der Erzählung ist die satirische Beschreibung des Literaturbetriebs. Obwohl der Autor auf Leserreise ist, wird keine einzige Lesung beschrieben. Exemplarisch ist vielmehr die Veranstaltung in Russland, bei der die deutschen Autoren zwar anwesend sind, die aber zur russischen Selbstinszenierung dient. Die Gäste aus Deutschland und Israel werden auf den obersten Rängen des Saales untergebracht und ihren Gedichten werden lediglich wenige Minuten zugestanden. Auf die Bühne gelangen die Autoren nicht. Eindrücklicher kann man nicht zeigen, dass sich der Literaturbetrieb nur um sich selbst dreht. Aber auch das Bild des Autors wird demontiert, wenn Prinzhorn bekennt:

Der Rausch, sich nach jahrelangen Tagen und Nächten endlich einem Text gegenüberzusehen, den es vor dem Zurückstellen erquicklicherer und einträglicherer Beschäftigungen nicht gegeben hatte, dauerte bei mir nur kurz. Ein paar selig vernebelte Jahre um die zwanzig. Dann war er ausgestanden. Danach ernüchterte sich das Schreiben zu einer Art von gehobenem Selbstmord.

Der Glaube an die Kraft der eigenen Texte wird als Jugendsünde abgetan. Schreiben wird zum Handwerk. Dass sich Prinzhorn hier selbst belügt, ist nicht zu übersehen. Alle Autoren werden als gekonnte Selbstdarsteller gezeichnet. Zudem greift Falkner in der Beschreibung des Literaturbetriebs auf weitere Klischees zurück: Der Alkohol fließt in Strömen und die sexuelle Anziehung der Geschlechter provoziert zu verbalen Höchstleistungen. Damit sind wir im geheimen Zentrum des Romans angelangt, der um die Verführung durch Sprache kreist. Besonders explizit wird dies in der Innsbruck-Episode ausgeführt. Das erste Treffen der Autoren des Kongresses, mit dem Kurt Prinzhorn als Figur eingeführt wird, gleicht nicht einem kollegialen Plausch, sondern erinnert vielmehr an ein Speed Dating. Zwei junge Damen werden nach ihrer sexuellen Ausstrahlung bewertet. Die von Prinzhorn allein aufgrund ihres Aussehens als lasterhaft beschriebene Sally erweckt seine Aufmerksamkeit. Der folgende Dialog, dessen sexuelle Eindeutigkeit selbst den Ich-Erzähler Prinzhorn überrascht, lässt den Lyriker im Romancier erkennen. Falkner zieht hier alle Register der verbalen Verführung und lässt doch keinen Zweifel daran, dass es bei diesem Flirt nur um das Eine geht. „So etwas konnte man nicht einfach sagen, ohne im Grunde genommen ein Schwein zu sein“, kommentiert der Erzähler sein Verhalten selbst. Kurt Prinzhorn ist kein Romeo, sondern ein Macho auf Frauenfang. Romeo und Julia, eines der bedeutendsten Liebespaare der Weltliteratur, haben dem Roman seinen Namen gegeben. Ein verbindendes ‚und‘ ist in Falkners Roman jedoch fehl am Platz. Diese Diagnose wird im letzten Teil noch einmal bekräftigt, wenn sich Prinzhorn in Madrid mit einer Geliebten trifft. Der körperlichen folgt keine emotionale Nähe. Das liegt nicht daran, dass Elsa Maria, die eine wahnsinnige Angst vor Schmutz hat, diese nicht zulassen könnte. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass Prinzhorn keine dauerhafte Bindung wünscht, weil er die Konfrontation, die der Alltag mit sich bringt, scheut.

Das hier Schmutz wieder eine Rolle spielt, ist charakteristisch für die Erzählweise des Romans, denn Falkner spielt damit nicht nur auf die Verunreinigung der Badewanne im Hotel in Innsbruck an. Bevor Prinzhorn sich auf Lesereise begibt, renoviert er in einem Ort ohne Eigenschaften in der Nähe von Nürnberg alleine ein Haus. Es ist bereits völlig geräumt, die Armaturen im Bad hat er abmontiert, Waschbecken und Wanne zerschlagen. Kurz vor seiner Abreise arbeitete er teilweise knietief in der Erde. Er legt das Haus rundum frei. Mit welcher Absicht er dies tut, wird nicht erläutert. Der Weg zu den eigenen Wurzeln und zu Unbewusstem ist damit aber ebenso vorgezeichnet wie die Tatsache, dass hierbei der Wahnsinn in irgendeiner Weise eine Rolle spielt. Diese Vermutung legt auch der Name Prinzhorn nahe. Verweist doch der Name des Ich-Erzählers auf den Heidelberger Arzt und Kunsthistoriker  Hans Prinzhorn, der im Jahr 1922 mit der Untersuchung Bildnerei der Geisteskranken nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Bewertung der Kreativität psychisch kranker Menschen leistete, sondern damit zugleich zahlreiche bildenden Künstler seiner Zeit zu einer neuen Sicht auf die Wirklichkeit anregte. Eine solche Leistung ist vom Erzähler nicht zu erwarten, da er sich viel zu sehr um sich selbst dreht. Die Frauen, die kurze Zeit den Platz an seiner Seite einnehmen, um dann in seinen Texten ihre Spuren zu hinterlassen, aber ansonsten lautlos aus seinem Leben zu verschwinden, nimmt er kaum wahr. So findet er den Schlüssel zu den ungewöhnlichen und seltsamen Vorfällen nur auf einem Umweg.

Im Roman stellt sich zunehmend die Frage, wer wahnsinnig ist. Die Frau, die Prinzhorn verfolgt, oder der Autor selbst, dessen Handlungen etwas Schlafwandlerisches erhalten. So schließt er in Moskau mit einem Hund Freundschaft, dem er den bedeutungsschwangeren Namen Raskolnikow gibt und den er bis zu seiner Abreise mit Wurst vom Hotelbuffet füttert. Hat der Autor Schuld auf sich geladen oder ist es lediglich der Russlandaufenthalt, der ihn zu dieser spontanen Namensgebung anregt?

„Das Ziel dieser Dichtung ist die Entschuldigung ihrer Kühnheit“, schreibt der Erzähler in Kapitel 13 des zweiten Teils, das als kleines Experiment aus dem Erzählfluss ausbricht. In einem Stream of subconciousness – die Schreibweise ist wohl weniger ein Ausdruck von Kühnheit als ein Versäumnis des Lektorats – werden verschiedene Motivstränge in einer Art Traumprotokoll zusammengeführt. Trotz des narrativen Ausbruchs muss der Leser am Ende feststellen: Kühn ist dieser Roman nicht. Aber seine überraschenden Sprachbilder und sein dichtes Geflecht aus Bezügen quer durch die Kunst- und Literaturgeschichte bieten Unterhaltung auf höchstem Niveau, die das unmotivierte Ende vergessen lässt.

Titelbild

Gerhard Falkner: Romeo oder Julia. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2017.
269 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827013583

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