Eine hybride Geschichte aus vergangenen Tagen

Uwe Tellkamps Erzählung „Die Carus-Sachen“ vermag zu begeistern

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die mit Die Carus-Sachen überschriebene Erzählung Uwe Tellkamps kreist um eine Vater-Sohn-Beziehung in Dresden. Die „Carus-Sachen“, das sind einerseits konkrete Dinge: „vor allem zwei Bücher aus dem Wolfgang Jess Verlag, Dresden, eine Goethe-Biographie, die Carus geschrieben hatte, und eine Landschaftsmalerei, die Vater besonders liebte“. Anderseits verweisen sie auf die romantisch gestimmte Carusʼsche Idee, die unabschließbare Zusammenschau der Phänomene zu suchen, um den Sinn des Lebens und das Rätsel des Menschen zu begreifen. Konkret und ideell geben diejenigen „Sachen“, die alle eng mit Carl Gustav Carus (1789–1869) verbunden sind, Tellkamps Erzählung Struktur.

Auf den gerade einmal 50 Textseiten verknüpft der Autor die Geschichte von Vater und Sohn im Umfeld der DDR-Intelligenz mit Carus. Sohn Fabian erinnert sich daran, wie sein Vater, der Arzt Hans Hoffmann, morgens, wenn er zur Arbeit in die Medizinische Akademie Carl Gustav Carus ging, sagte, er mache sich jetzt auf den Weg zu Carus. Carus war ein 1789 in Leipzig geborener multitalentierter Universalgelehrter des 19. Jahrhunderts, der in Beziehungen zu Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm von Humboldt, Caspar David Friedrich, Ludwig Tieck und anderen bekannten Zeitgenossen stand und 55 Jahre als Arzt, Naturforscher, Naturphilosoph, Maler und Literat in der Elbmetropole wirkte.

Uwe Tellkamp selbst gehört zu Dresden wie die Elbe und der Stadtteil Weißer Hirsch, das wird vor allem in seinem von der eigenen Biografie geprägten und im selben Wohnviertel angesiedelten DDR-Endzeitroman Der Turm (2008) deutlich. Dessen Atmosphäre und das Bildungsmilieu wetterleuchten in der Erzählung; dort wie hier wohnen die Menschen in Villen, sind Ärzte, Akademiker, Theologen und Künstler, verhalten sich in der Mangelgesellschaft solidarisch zueinander und haben sich in einem Mikrokosmos relativer Autonomie eingerichtet. Der aktuelle Text bereichert mit Carus das fiktive wie biografische Universum Tellkamps, der sich mit Fabian als mögliches Alter Ego ins Figurenensemble eingeschrieben hat (Fabian und seine Schwester Muriel, die ebenfalls vorkommt, sind keine Unbekannten, sie treten auch im Turm und in der Erzählung Der Schlaf in den Uhren von 2004 auf).

Es ist nicht immer klar, wer spricht. Im ersten Abschnitt etwa wechselt die Erzählstimme geschickt zwischen indirekter und direkter Rede, die artikulierte Erinnerung Fabians eingeschlossen, die zu einer quasi-auktorialen Auskunft wird, bevor ein Abschnittswechsel abrupt zu einer beige eingefärbten Passage überleitet. In ihr wird so etwas wie ein Lexikoneintrag zu Carl Gustav Carus geboten. Allerdings wird das Biogramm des großen Mannes in dritter Person nicht einfach abgespult, sondern wird mit historischen und zeitgenössischen Orten in Dresden überblendet. Insgesamt sechs solcher beigefarbenen Einschübe mit Hintergrundinformationen, Erläuterungen, aber auch in Ich-Form vorgetragenen Reflexionen gibt es, keiner länger als zwei Seiten. Sie objektivieren oder relativieren das, was Fabian in seinen eigenen Erinnerungen mitteilt, was durch ihn als Erinnerungs-Organon vom Vater zu hören ist, der wiederum weitere Personen aufruft, die auch etwas zu sagen haben. W.G. Sebald lässt grüßen.

Die Carus-Sachen ist ein schmales Buch, das viel bietet. Vater Hans und Sohn Fabian, kaum plastisch modelliert, werden zu aufgeladenen Figuren aufgrund dessen, was sie berichten, wo und wie sie leben, worüber sie nachdenken, was sie begeistert und in welchem Umfeld sie sich aufhalten. Sie repräsentieren eine Mentalität und einen epistemischen Status in den 1980er Jahren in Dresden. Zusammen mit Carus, seinem medizinpraktischen und naturphilosophischen Werk und den Carusianern als Gruppe Gleichgesinnter wird eine weitere Vorstellung über die Dresdener Intelligenz im „Turm-Viertel“ mit ihren Helden, Vorlieben und ihrem Personenbestand inszeniert. Die zahlreichen Ortsverweise und die Bewegungen des Vaters mit seinem Sohn durch die Stadt sorgen dafür, dass ihr eine der Hauptrollen zukommt.

Ästhetisch ist das Buch als wunderbares Text-Bild-Konvolut komponiert. Die Erzählung wird gerahmt von zwei Abteilungen mit (scheinbar) einfachen und relativ elaborierten Bleistiftzeichnungen, die Skizzencharakter besitzen. Andreas Töpfer hat sie auf einer Reise in die sächsische Hauptstadt im Frühjahr 2017 angefertigt. In den Einbanddeckeln vorn und hinten finden sich freihändige grobkörnige Überblickskarten der Stadt. Plätze, Gebäude, Forschungs- und andere Einrichtungen, die im Text vorkommen, sind durch kleine Ziffern (die wie mit Bleistift geschrieben anmuten) auf die entsprechend durchnummerierten Zeichnungen verlinkt: Man hält einen Ministadtführer Dresdens in der Hand. Und es wird auch Erzählkino geboten: Grandios, wie Tellkamp den jungen Arzt Hans Hoffmann „in der nicht endenwollenden Nachkriegs- oder überhaupt einfach Ander- und Außerzeit der ländlichen Gebiete“ bei Schneesturm und in Finsternis zu einem abgeschiedenen Gehöft entsendet. Dort wird der Anfänger, ohne erst den Pschyrembel konsultieren zu können, mit einer komplizierten Geburt konfrontiert. So mag es einst auch Carus als angehendem Geburtshelfer ergangen sein, denkt sich Hoffmann. Er wird gleich helfen, ein quer zum Geburtskanal liegendes Baby gesund auf die Welt zu bringen, ohne Kaiserschnitt-Option, ohne Hebamme, dafür mit dem Vater des Kindes und dem Großvater, die sturztrunken in der Nebenkammer liegen, und mit einer Großmutter, die unter seiner Anleitung im Funzellicht mit zittrigen Fingern, Schweinebauchnadel und Katzendarmfaden notdürftig den Dammriss der Gebärenden zunäht. Kann das gelingen?

Das Buch passt hervorragend als Diskussionsgrundlage in einen nach wie vor angesagten Diskurs der Geisteswissenschaften. Der will wissen: Wie plausibel ist der Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften? Wie berechtigt ist eine ehedem als irrationales Anhängsel kleingeredete oder ausgeblendete Naturphilosophie? Zu welcher Erkenntnis gereichen zeichnerische Übungen, die als visuelle Aneignungs- und Wiedergabeformen von Realität und Ideen keinen Anspruch auf Vollendung erheben, die in ihrer Vorläufigkeit vielmehr dem Impuls der Suche, des Probierens und der Möglichkeit Ausdruck verleihen? Schließlich die Frage, wie die Synthese aussehen kann, in der sich Natur und Geist vereinen, in der sich die Kluft zwischen Natur und Kultur aufhebt und die medizinische Bemühung wissenschaftliche Expertise, Seelenkunde und ein ästhetisches Gespür umfasst? Aber das Buch ist viel mehr: eine hybride Geschichte aus vergangenen Tagen, große Literatur, tolle et lege.

Titelbild

Uwe Tellkamp: Die Carus-Sachen.
Illustriert von Andreas Töpfer.
Edition Eichthal, Eckernförde 2017.
96 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783981706635

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