Kleine Form? Feuilleton? Kurzessay?

Eike Rautenstrauch versucht einen Neuansatz zur „Kleinen Form“ der 1920er-Jahre

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hat sich in der Literaturwissenschaft eingebürgert, für kurze Texte, die in den 1920er-Jahren in Zeitschriften und Zeitungen erschienen, die Begriffe „Kleine Form“ oder „Feuilleton“ zu verwenden. Eike Rautenstrauch plädiert in seiner 2016 erschienenen Dissertation Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik dafür, stattdessen den Begriff „Kurzessay“ zu verwenden. Er sieht sich darin dadurch bestärkt (was er allerdings lediglich in einigen Fußnoten offenlegt, statt dies, wo es hingehörte, im Hauptteil zu diskutieren), dass in der Forschung Texte etwa Siegfried Kracauers als Kurzessays charakterisiert worden seien. Da er zuvor den Abhandlungscharakter der Textsorte Essay (allerdings sehr kursorisch und apodiktisch) vorgestellt hat, dabei allerdings betont, dass es dieser an methodischer Strenge mangele, trifft er sogar eine nachvollziehbare Wahl. Er übersieht dabei aber geflissentlich, dass damit die formale Vielfalt der Kleinen Form deutlich einschränkt wird.

Das wird auch in seinen vorbereitenden Überlegungen erkennbar, in denen Rautenstrauch zwar die „Flaneurstexte“ etwa Franz Hessels erwähnt, sie aber vor allem als „Reproduktion von Großstadterfahrung“ charakterisiert (während ja die Kurzessays Urbanität reflektierten, was immerhin ein Unterschied ist). Die generös vorgetragene Wendung von der Entsprechung des „Formenspiels des Feuilletons“, das mit dem „Gedankenspiel des Feuilletonisten“ ebenso korrespondiere wie die Begriffe Essayist und Essay miteinander, mag zwar wohlklingend sein, deren Argumentationstiefe erschließt sich aber nicht. Texte lassen keine Schlüsse über das Innenleben von Autoren zu, die auch nur einigermaßen belastbar wären.

Bemerkenswert ist zudem, dass er zwar eine Typologie des Essays, jedoch nicht des Kurzessays vorlegt, was angesichts der kurzen Skizze der jeweiligen Auszeichnungen, die nur mit Großformen agiert, misstrauisch macht. Dass er sich dabei auf ein eher grobes Schema beschränkt ‑ kulturkonservativ, kulturprogressiv, synthetisch ‑, scheint angesichts der Gemengelagen der 1920er-Jahre, die eindeutige Zuordnungen erschwert (abgesehen davon, dass sie vor allem a posteriori vorgenommen werden), nicht angemessen und redundant: Wenn sich Essays aus der Sicht Rautenstrauchs grundsätzlich mit kulturellen Phänomenen beschäftigen, dann erübrigen sich solche Zusätze.

Terminologisch zeigt Rautenstrauch einige Manierismen und Schwankungen wie etwa die Bezeichnung von Joseph Roths Feuilletons als „kurzessayistische Feuilletonprosa“ oder die Charakterisierung der „Feuilletonprosa“ Kracauers als „kulturkritische Kurzessayistik“ respektive „kurzessayistisches Feuilletonwerk“. Die „Edition“ von Kracauers Beiträgen für die Frankfurter Zeitung, die von Inka Mülder-Bach bei Suhrkamp betreut wird, bezeichnet Rautenstrauch beiläufig als „Redaktion“, was – bei allem Verständnis für banale Verschreiber – das Vertrauen in die terminologische Genauigkeit weiter erschüttert. Dass zudem ein anachronistischer Terminus wie „Geist“ wieder in das Vokabular einer literaturwissenschaftlichen Studie aufgenommen wird (etwa als „geistiger“ Widerstand gegen den Nationalsozialismus) löst Verwunderung aus. Einmal soweit gekommen, nimmt man es hin, wenn Wirklichkeit nebenbei als Konstruktion des kollektiven Unterbewusstseins bezeichnet wird.

Auf der Sachebene finden sich weitere Ungenauigkeiten oder Widersprüche: Rautenstrauch führt die Attraktivität journalistischer Tätigkeiten kurzschlüssig auf die Festanstellung zurück. Freie Autorinnen und Autoren, die deutlich weniger abgesichert waren und zumeist einen schlechteren Zugriff auf Publikationsmöglichkeiten hatten, unterschlägt er schlichtweg passagenweise, auch wenn ihm die Freiberuflichkeit von Autoren an anderen Stellen durchaus bewusst ist. Mit Roth, Kracauer und Bernard von Brentano hat er zudem genau solche Autoren ausgewählt, die wenigstens zeitweise über feste Korrespondentenverträge oder Redakteursposten verfügten. Ein Blick auf so prominente Autoren wie Walter Benjamin, der sich als freier Autor zu behaupten versuchte, oder Franz Hessel, der als Lektor des Rowohlt-Verlags sein Auskommen suchte, hätte ihn etwas zurückhaltender die „materiellen Vorteile“ einer „journalistischen Betätigung“ beurteilen lassen, die eben nicht identisch ist mit einer Festanstellung. Dass es im Rahmen der Konjunktur der Presse wie auch des gesamten kulturellen Sektors zu einer Ausweitung von im weiteren Sinne literarischen Tätigkeiten gekommen ist, bleibt davon unbenommen.

Die terminologische Wahl Rautenstrauchs zugunsten des Kurzessays ist mithin zwar legitim, die Forschungsschelte, die dem vorangeht, ist unnötig, die methodischen Überlegungen, die ihn dazu führen, sind nicht hinreichend strukturiert und durchgearbeitet. Zudem sind sie zum Teil unzulässig in die Fußnoten verschoben. Der Sachbericht erscheint wenigstens in Teilen unzureichend.

Unter solchen Schräglagen leiden auch Rautenstrauchs Hauptteile, in denen er sich mit den Feuilletons Roths, Brentanos und Kracauers beschäftigt. Roths Zuweisung zum „kulturkonservativen“ Kurzessay mag sich hinreichend aus den zu Rate gezogenen Texten ergeben. Allerdings erscheinen die von Rautenstrauch herausgestellten Passagen zur Unterhaltungskultur wie eine Vorwegnahme von Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Kritik der Konsumkultur und Freizeitindustrie in der Dialektik der Aufklärung (eine Schrift, die in Rautenstrauchs Literaturliste nicht zu finden ist), so dass also auch eine andere Zuordnung möglich gewesen wäre. Der ironischen Lektüre etwa des immer wieder hervorgeholten Textes „Gleisdreieck“ ließe sich zweifelsfrei zustimmen, und niemand wird aus Roth einen bedingungslosen Apologeten der Moderne stricken wollen. Dennoch ist seine reibungslose Einordnung ins Kulturkonservative kaum möglich, wie auch seine vor kurzem erschienenen Feuilletons zum Film und seine Russland-Reportagen zeigen (Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos, 2014 und Reisen in die Ukraine und nach Russland, 2015).

Bemerkenswert ist zudem, dass Rautenstrauchs Hauptzeugen allesamt Beiträger der Frankfurter Zeitung waren, einem im Kulturteil liberalen Blatt, das in der von Berlin aus dominierten Zeitungslandschaft der Weimarer Republik (und des NS-Regimes) einen prominenten Platz erobert hatte. Das „konservatives Bildungsbürgertum“ Roths scheint mithin dasselbe Blatt zu lesen wie das „städtische Proletariat“ und die „Heerscharen der Angestellten“ Brentanos. Zugleich wird der Frankfurter Zeitung eine „bürgerlich-liberale Stammleserschaft“ zugeschrieben, von der sich der „geistige Mittelstand, unstreitig gerade die beste Schicht Deutschlands“, wie Rautenstrauch Kracauer zitiert, anscheinend abgrenzen lässt. Eine solch multiple Leserschaft kann jedoch kaum plausibel gemacht werden.

Selbst wo Rautenstrauch sich auf frühe Texte bezieht wie im Fall Roth, ist seine Adressierung nicht nachvollziehbar, da Roth in seinen frühen Jahren vor allem in der sozialdemokratischen österreichischen Presse publizierte. Die Behauptung Roths, er habe nie die „,Weltanschauung‘ irgendeiner Zeitung“, in der er gedruckt worden sei, geteilt oder sie repräsentiert – ein Zitat aus dem Jahr 1929 –, sollte nicht akzeptiert, sondern hinterfragt werden.

Auch sonst sind Rautenstrauchs Thesen nicht ausreichend ausgearbeitet: Zweifellos war der Stand Kracauers in der Frankfurter Zeitung nicht gesichert, auch wenn Kracauer heute zu ihren zentralen Autoren und Redakteuren gezählt wird. Dabei wird seine politische Position – im übrigen auch ein Problem Brentanos – als Ursache mitbedacht werden müssen. Man wird die von Rautenstrauch berichtete Einflussnahme der I.G. Farben auf die Unternehmenspolitik der Frankfurter Zeitung gar als skandalös empfinden. Dass sich Kracauers Texte allerdings als „Provokation“ erwiesen hätten, die sich gegen die „öffentliche Meinung der Masse“ gerichtet habe (womit sich dann seine Entlassung begründen lasse, die auf der anderen Seite der I.G. Farben angelastet wird), scheint spätestens dann zweifelhaft, wenn Rautenstrauch an anderer Stelle berichtet, dass sich die „Konkurrenzblätter“ um Kracauers „scharfsinnige FZ-Beiträge“ „gerissen“ und sie nachgedruckt hätten. Entweder war Kracauer für die Presse ein attraktiver Autor oder eben nicht. Eine Gleichschaltung zum NS-System für die Frankfurter Zeitung vor 1933 nahezulegen, erscheint zudem übereilt.

Es ist auch keine Überraschung, wenn Kracauer bereits um 1930 vor dem aufsteigenden Nationalsozialismus gewarnt hat. Immerhin konnte es einem einigermaßen aufmerksamen Intellektuellen 1930 bekannt sein, dass es einen italienischen Faschismus gibt, dessen Vorbild die deutschen Nationalsozialisten nacheiferten (um ihn schließlich noch zu übertreffen). Der Aufstieg des Nationalsozialismus beginnt zudem in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, war also deutlich früher wahrnehmbar – und wurde wahrgenommen. Nimmt man den „Neuen Nationalismus“, für den Ernst Jünger oder Franz Schauwecker stehen und der Ende der 1920er-Jahre eine verstärkte Aufmerksamkeit auch im liberalen Feuilleton auf sich zog, noch hinzu, dann können Kracauers Warnungen aus dem Jahr 1930 kaum als frühzeitig bezeichnet werden. Sie bestärken stattdessen die Einschätzung, dass Kracauer ein aufmerksamer Beobachter der zeitgenössischen Gesellschaft war (eine Einschränkung auf Kultur lässt sich in seinem Fall kaum begründen) und dies in seinen Texten erkennen lässt. Dass sie für unsere Wahrnehmung der Weimarer Republik immer noch aufschlussreich sind, verweist auf ihre Qualität. Rautenstrauchs Studie wird dem jedoch nicht gerecht. Seine terminologische Klarstellung füllt mithin keine Lücke. Zugegeben, die Moden auch der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts bilden Schwerpunkte und lassen Lücken, aber weder ist die „Kleine Form“ derart vernachlässigt worden, wie dies Rautenstrauch betont, noch lassen sich Ermüdungserscheinungen bei der Erforschung der Literatur dieses Zeitraums erkennen.

Titelbild

Eike Rautenstrauch: Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik. Zur Kulturkritik in den Kurzessays von Joseph Roth, Bernard von Brentano und Siegfried Kracauer.
Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
382 Seiten, 44,99 EUR.
ISBN-13: 9783837635935

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