Von Weltmeistern, Helden des Antifaschismus und grünen Revolutionären

Der Begleitband zur Ausstellung „Deutsche Mythen seit 1945“ durchleuchtet anschaulich den deutschen Mythenhaushalt seit 1945 und fragt nach Wandel, Kontinuität und Zukunft tradierter Heldenerzählungen

Von Eleonore AsmuthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eleonore Asmuth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ausstellung „Deutsche Mythen seit 1945“ lockte vom 15. Juni 2016 bis 15. Januar 2017 zahlreiche Besucher ins Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig. Anliegen der Kuratoren war es, einige der wichtigsten Mythen der Deutschen seit 1945 zu beschreiben und zu analysieren, nicht jedoch, „historische Irrtümer“ aufzudecken und mythische Erzählungen mit den „Ansprüchen wissenschaftlicher Geschichtsdarstellungen“ kritisch zu hinterfragen. Dies – das verdeutlicht jedenfalls der zur Ausstellung erschienene gleichnamige Sammelband – ist gelungen: Auf knapp 200 Seiten vereint das Buch Beiträge namhafter Historiker, die aus je unterschiedlicher Perspektive einen Blick auf deutsche Mythen, ihre Entwicklung und Bedeutung in der Gesellschaft werfen.

Am Beginn des Buches steht die Frage, wie Mythen überhaupt entstehen: Warum erinnert sich eine ganze Nation an bestimmte Ereignisse, obwohl die Mehrheit gar nicht beteiligt, mitunter noch gar nicht geboren war? Wie prägen mythische Erzählungen das Selbstverständnis einer Nation, was tragen sie zur Identitätsbildung bei und wie entsteht ein kollektives Gedächtnis? Mythen werden mit dem Historiker Pierre Nora als „Erinnerungsorte“ einer Nation gedacht. „Sie verdichten, ordnen und vereinfachen das kaum überschaubare Geschehen der Geschichte zu sinnstiftenden Narrativen“. Sie sind weder „wahr“ noch „unwahr“, sind tradierte Erzählungen, die auf unterschiedlichsten Kommunikationswegen weitergetragen werden und in offenen, demokratischen Gesellschaften wandelbar sind.

Die kurze definitorische Annäherung an den Mythenbegriff bildet den Hintergrund, vor dem sukzessive einzelne Mythenerzählungen der Deutschen aufgefächert werden. Ausgangspunkt ist dabei der sogenannte Mythenschnitt von 1945: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die politische Instrumentalisierung und der Missbrauch von alten Helden- und Mythenerzählungen durch die Nationalsozialisten offenbar. Eine Distanzierung von althergebrachten Traditionen wurde unausweichlich, neue Mythen ebneten den Weg für ein neues Selbstverständnis einer von den Erlebnissen des Nationalsozialismus traumatisierten Nation. Zunächst und für die ersten 40 Jahre hatte man es in Deutschland mit zwei verschiedenen Mythenkonglomeraten zu tun: Die alte Bundesrepublik und die DDR bildeten je eigene Mythenkataloge aus.

Wo sich im Westen die Erzählungen von der„Stunde Null“ und den heroischen „Trümmerfrauen“ manifestierten, dominierten im selbsternannten „Arbeiter- und Bauernstaat“ die Helden des antifaschistischen Widerstands. Die „friedliche Revolution“ von 1989 kann als erstes gesamtdeutsches Mythennarrativ interpretiert werden, das heute wie kein anderer Mythos für das widervereinte Deutschland steht. Weitere Zuschreibungen wie etwa das Weltmeisternarrativ („Exportweltmeister“, „Meister der Aufarbeitung“ im Umgang mit zwei Diktaturen, „Fußballweltmeister“), der Öko-Mythos oder der Mythos von den Deutschen als „Zahlmeister“ Europas haben ebenso ihren Platz im deutschen Mythenhaushalt und werden im Buch analysiert.

Den Autoren gelingt es eindrücklich, die Entstehung des jeweiligen Mythos zu skizzieren und die Bedeutung der Erzählungen als sinnstiftende kollektive Erinnerungen kurz und knapp herauszustellen. Auch oder gerade für historische Laien ist dieser Blick auf die tradierten Selbstbilder und Zuschreibungen lohnenswert: Die Sachverhalte sind klar und präzise beschrieben und auch ohne große Vorkenntnisse der deutschen Nachkriegsgeschichte verständlich. Dazu trägt besonders die gelungenen Bebilderung des Bandes bei: Begleitet werden die Texte von einer Fülle an illustrativem Material: Zitate, Exkurse mit objektgeschichtlichem Zugang (zum Beispiel zum VW-Käfer – das Symbol für das „deutsche Wirtschaftswunder“), Fotografien von Originaldokumenten, Denkmälern oder Zeitzeugen flankieren die geschichtswissenschaftlichen Ausführungen. Exponate der Ausstellung werden so ins Buch transportiert und es wird seinem Charakter als Begleitband zur Ausstellung überaus gerecht. Das Buch besticht mit „Geschichte zum Anfassen“, die einen breiten Rezipientenkreis zugänglich gemacht wird, ohne jedoch den wissenschaftlichen Anspruch zu verlieren.

Abschließend regt der Band über die Ausstellung hinaus zum Nachdenken an, weil er sich in einem Ausblick Europa zuwendet: Zwar ist Europa dem Namen nach eine Gestalt der griechischen Mythologie, genuin europäische Mythen, die eine kollektive Identität der Mitglieder der Staatengemeinschaft befördern könnten, sucht man in der Gegenwart jedoch vergeblich. Es scheint, als verfüge Europa über keine alle Mitglieder umfassende Erinnerungskultur. Die Frage nach attraktiven Mythen im Sinne einer gemeinschaftlich europäischen Erzählung, die verbinden statt trennen, ist brandaktuell und ein wichtiger Impuls der Ausstellung.

Titelbild

Deutsche Mythen seit 1945.
Herausgegeben von Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn. Mit Beiträgen von Wlodzimierz Borodziej, Franz-Josef Brüggemeier und Bettina Citron.
Kerber Verlag, Bielefeld 2016.
191 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783735601896

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